Neues aus Wissenschaft und Naturschutz

14.03.2022, Carl von Ossietzky-Universität Oldenburg
Eine vorteilhafte Beziehung
Tauchgang zu heißen Quellen im Golf von Kalifornien mit dem U-Boot Alvin: Interationales Team untersucht erstmals Mikrobengemeinschaft auf dem Panzer von Tiefseekrebsen
Hydrothermale Quellen am Grund der Ozeane sind Heimat skurriler Lebensgemeinschaften. Zu den Organismen, die an heißen Quellen im Golf von Kalifornien häufig vorkommen, gehören Furchenkrebse der Art Munidopsis alvisca. Diese kleinen, weißen Krustentiere beherbergen wiederum selbst ein spezielles Ökosystem, berichtet ein internationales Forschungsteam um Janina Leinberger und Prof. Dr. Thorsten Brinkhoff vom Institut für Chemie und Biologie des Meeres (ICBM) an der Universität Oldenburg in der Zeitschrift Scientific Reports. Die Forschenden analysierten erstmals die Mikrobengemeinschaft auf dem Panzer dieser Tiere. Dabei stellten sie fest, dass dieses sogenannte „Mikrobiom“ anders zusammengesetzt ist als andere mikrobielle Lebensgemeinschaften in der Nähe, etwa im Sediment oder im umgebenden Meerwasser.
Das Team vermutet, dass sowohl die Mikroben als auch die Krebse von der Beziehung profitieren: Unter den Bewohnern waren beispielsweise zahlreiche Methan- und Schwefelbakterien. Diese Einzeller sind darauf spezialisiert, energiereiche chemische Verbindungen wie Schwefelwasserstoff oder Methan zu verwerten, die mit dem Wasser der heißen Quellen ins Meer strömen. „Diesen Organismen bietet der Krebspanzer einen stabilen Lebensraum in der Nähe der nährstoffreichen hydrothermalen Flüssigkeiten“, erläutert Brinkhoff. Die Krebse wiederum könnten Bakterien auf ihrem Panzer als Nahrungsquelle nutzen. Eine andere Möglichkeit besteht darin, dass ihnen die Mikroben dabei helfen, den giftigen Schwefelwasserstoff aus ihrem Körper zu entfernen. Die Substanz blockiert bei höheren Lebewesen die Atmung, weshalb einige andere Bewohner der Tiefseequellen in einer Symbiose mit Schwefelbakterien leben. „Bislang ist allerdings kaum etwas über die Interaktionen von Mikroben und Krebstieren bekannt“, sagt der Forscher.
Brinkhoff hatte 2018 an einer Expedition des US-Forschungsschiffs Atlantis in mexikanischen Gewässern im Guaymas-Becken im Golf von Kalifornien teilgenommen, wo sich die Erdkruste spreizt und als Folge zahlreiche hydrothermale Quellen am Meeresboden aktiv sind. Das Forschungs-U-Boot Alvin unternahm mehrere Tauchgänge zu verschiedenen dieser Quellen. Brinkhoff war an Bord, als Alvin eine in rund 2.000 Metern Tiefe gelegene Felsstruktur namens Rebecca’s Roost (übersetzt etwa: Rebeccas Schlafplatz) ansteuerte. Aus dem Meeresboden und mehreren Schloten strömen dort mineralreiche Flüssigkeiten mit einer Temperatur von teils mehr als 300 Grad Celsius ins vier Grad Celsius kalte Meerwasser. „Dort unten ist man in einer besonderen Welt“, berichtet der Mikrobiologe. Im Gegensatz zu dem gewöhnlich relativ öden Tiefseeboden wimmelt es in der Umgebung der hydrothermalen Quellen von Leben. Durch das Bullauge des Tauchboots konnte Brinkhoff Röhrenwürmer, Fische, Seesterne, Tintenfische und Quallen beobachten – und jede Menge der kleinen Krebse.
Die dreiköpfige Besatzung – neben dem Forscher waren zwei Piloten zur Steuerung des Tauchboots an Bord – brachte insgesamt zehn Exemplare der Krustentiere an die Oberfläche. Die anschließende genetische Analyse ergab, dass alle Krebse der gleichen Art angehören und dass sie ein vielfältiges Mikrobiom auf ihren Panzern beherbergten. Die Mikrobengemeinschaft war bei allen Individuen sehr ähnlich zusammengesetzt. Das Team vermutet daher, dass beide Seiten von der Beziehung profitieren. „Wahrscheinlich haben diese Mikroben eine ähnliche Funktion wie jene, die bei uns Menschen auf der Haut leben – nämlich, ihren Wirt zu verteidigen“, erläutert Brinkhoff. Die ursprüngliche Absicht des Forschers war es, bei den Tiefseekrebsen nach Hinweisen auf die weltweit verbreitete Brandfleckenkrankheit zu suchen, die bei Krustentieren vom Krill bis zu Hummern schwarze Flecken auf dem Panzer verursacht und womöglich mit den bakteriellen Bewohnern zusammenhängt. „Bei den Tiefseekrebsen zeigten sich aber keinerlei Hinweise auf diese Krankheit“, berichtet Brinkhoff. Der Forscher will nun im nächsten Schritt herausfinden, welchen Nutzen die mikrobiellen Gäste den Krebsen bringen.
Originalpublikation:
Leinberger, J., Milke, F., Christodoulou, M. et al. Microbial epibiotic community of the deep-sea galatheid squat lobster Munidopsis alvisca. Sci Rep 12, 2675 (2022). https://doi.org/10.1038/s41598-022-06666-x

14.03.2022 10:46, Universität Hohenheim
Innovation für Artenerhalt: Biologen bestätigen Potenzial von insektenfreundlicher Mähtechnik
Öko-Mäher vs. herkömmliche Technik: Veröffentlichung im Kompetenzzentrum für Biodiversität und integrative Taxonomie (Universität Hohenheim / Staatliches Museum für Naturkunde Stuttgart) vergleicht Auswirkungen für Insekten
Moderne Mähmaschinen sind hocheffizient, doch bei ihrem Einsatz wird ein beträchtlicher Anteil an kleinen Wiesenbewohnern getötet: ein kritischer Faktor für den dramatischen Rückgang von Insekten in Europa und weltweit. Eine neue Generation von Mähköpfen, die Insekten und Spinnen nicht einsaugen, können das Problem messbar abmildern, so das Ergebnis einer aktuellen Studie von Biologen der Universitäten Hohenheim und Tübingen. Ihre Erkenntnisse beschreiben sie in einem aktuellen Fachartikel im Journal of Applied Entomology. Die Publikation im neuen Kompetenzzentrum für Biodiversität und integrative Taxonomie (KomBioTa) an der Universität Hohenheim in Stuttgart und am Staatlichen Museum für Naturkunde Stuttgart ist nachzulesen unter: https://doi.org/10.1111/jen.12976
Die industrialisierte Landwirtschaft gilt als einer der wichtigsten Faktoren für das Insektensterben der letzten Jahrzehnte. Vor allem die großen Monokulturen führen zu einem Verlust von Lebensräumen und Strukturvielfalt. Doch auch schwindende Grünflächen sowie häufiges Mähen tragen nach Einschätzung von Expert:innen zum Verlust der Biodiversität bei.
„Das Mähen ist in zweifacher Hinsicht problematisch“, erläutert Prof. Dr. Johannes Steidle, Biologe an der Universität Hohenheim und Vorstand des Kompetenzzentrums für Biodiversität und integrative Taxonomie: „Zum einen mindert es die Qualität der Lebensräume für Insekten, weil sich z.B. Blühpflanzen nicht entwickeln. Auf kommunalen Grünflächen und an Straßenrändern führt das auf den Flächen verbleibende Schnittgut darüber hinaus zu einer Überversorgung mit Nährstoffen. Zum anderen wird aber auch durch den Mähvorgang selbst ein großer Teil der Insekten getötet.“
Weniger tote Insekten durch innovative Technik
Technologische Innovationen der letzten Jahre versprechen, die unmittelbaren Folgen des Mähvorgangs für Insekten abzumildern. In der aktuellen Studie untersuchten die Biologen der Universitäten Hohenheim und Tübingen die Wirksamkeit einer dieser Innovationen. Als Beispiel für die Untersuchung dient ein Böschungsmähkopf der Firma MULAG Fahrzeugwerk/Heinz Wössner GmbH u. Co. KG, der speziell auf den Schutz der Insekten ausgerichtet wurde. Im Fokus der Untersuchung standen dabei Grünstreifen entlang von Straßen. Hier ist die durch Mähen verursachte Insektenmortalität besonders kritisch, denn diese Grünstreifen können als Korridore zur Vernetzung von Insektenpopulationen dienen.
Das Fazit der Forschenden: „Wir konnten zeigen, dass durch herkömmliche Mähtechnik zwischen 29 und 87 % der Insekten und Spinnen getötet werden. Beim Einsatz der insektenfreundlichen Mähköpfe reduzierte sich dieser Schwund und war bei vier von acht Insektengruppen und bei Spinnen nicht mehr nachweisbar. Investitionen in innovative Technik haben deshalb aus unserer Sicht ein hohes Potenzial, den Insektenrückgang im Grünland wirksam zu reduzieren“, so Prof. Dr. Steidle.
Aktuelle Publikation
Ihre Erkenntnisse im Detail beschreiben Prof. Dr. Johannes Steidle (KomBioTa-Vorstand, Universität Hohenheim, Institut für Biologie) sowie Thomas Kimmich, Michael Csader und Prof. Dr. Oliver Betz (Universität Tübingen, Institut für Evolution und Ökologie) im aktuellen Artikel „Negative impact of roadside mowing on arthropod fauna and its reduction with ‘arthropod-friendly’ mowing technique“ im Journal of Applied Entomology.
Originalpublikation im Journal of Applied Entomology: https://doi.org/10.1111/jen.12976

15.03.2022, Deutsche Wildtier Stiftung
Erfolgreicher Wildbienenschutz in München und Berlin
Ökologisches Gutachten zur Bewertung der Projektflächen liegt vor
Die Hauptstadt ist Bienenstadt: 320 verschiedene Wildbienenarten summen in der Metropole. Auch auf den 71 Blühflächen, die die Deutschen Wildtier Stiftung in Zusammenarbeit mit dem Berliner Senat in den vergangenen fünf Jahren angelegt hat. 103 Arten fanden die Bienenexperten der Stiftung bei ihren Zählungen auf zehn dieser Flächen, darunter elf Arten, die laut der Roten Liste gefährdeter Tierarten in Deutschland in ihrem Bestand bedroht sind. Mit dabei: die Löcherbiene Heriades rubicundus, die erst seit wenigen Jahren überhaupt in Deutschland nachgewiesen ist, und in Käfer-Fraßgängen in Totholz nistet. Außerdem wurden 22 sogenannte oligolektische Arten nachgewiesen. Dies sind Spezialisten, die ausschließlich den Pollen einer bestimmten Pflanzenfamilie oder -art sammeln und ohne ihre spezifischen Futterpflanzen keinen Nachwuchs produzieren können.
Auch auf ihren Münchner Projektflächen wurden die Forscher der Deutschen Wildtier Stiftung fündig. Hier wiesen sie insgesamt 60 Wildbienenarten nach, von denen sieben Arten laut Roter Liste bestandsgefährdet sind. Im Hirschgarten wurde als Besonderheit die sehr seltene Grubenhummel Bombus subterraneus entdeckt. Sie baut ihre Nester in verlassenen Maulwurfs- und Mausbauten. Sie braucht offene und trockene Standorte und lebt in hecken- und strukturreichen Landschaften, Flächen, die man in einer Großstadt eher nicht vermuten würde.
Seit 2018 erproben die Deutsche Wildtier Stiftung und die Senatsverwaltung für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz in Berlin gemeinsam mit den Berliner Bezirken Maßnahmen zur Aufwertung öffentlicher Grün- und Freiflächen für bestäubende Insekten. Auch in München ist die Deutsche Wildtier Stiftung nun seit vier Jahren im Wildbienenschutz aktiv. In der Bayern-Metropole wird das Projekt „München floriert“ durch den Bayerischen Naturschutzfonds aus Zweckerträgen der GlücksSpirale gefördert. „Gemeinsam mit unseren Kooperationspartnern verbessern wir die Bedingungen für Wildbienen in Städten, indem wir Blühwiesen anlegen, Blühgehölze pflanzen, natürliche Niststrukturen fördern und künstliche Nisthilfen aufstellen“, erklärt Dr. Christian Schmid-Egger, Leiter des Projekts „Berlin blüht auf.“
Manchmal braucht es für diese Arbeit einen langen Atem: „Sind Flächen gefunden, die für eine wildbienenfreundliche Bewirtschaftung infrage kommen, müssen die Böden für die Einsaat zunächst sorgfältig vorbereitet werden“, so Schmid-Egger. Der Aufwuchs mit speziell ausgewählten Wildpflanzen muss dann gut gepflegt werden, bevor die ersten Wildbienen kommen. Aber der Aufwand lohnt sich: Die Arbeit der letzten fünf Jahren war sehr erfolgreich, in Berlin finden Wildbienen inzwischen auf 71 Flächen perfekte Lebensbedingungen. „Unsere aktuellen tierökologischen Gutachten in Berlin und München zeigen deutlich, dass artenreiche Blühflächen zur Förderung von Wildbienen beitragen. Auch Biotope in der Stadt können viele wertvolle Artenvorkommen beherbergen“, sagt Schmid-Egger, „wir sind sehr zufrieden mit unseren Ergebnissen.“
Damit sich die Populationen der Wildbienen auch in Zukunft weiter entwickeln können, sorgen die Artenschützer der Deutschen Wildtier Stiftung auch in diesem Jahr dafür, dass es in München und Berlin ausreichend Nahrung und Nistplätze für die hochbedrohten Wildbienen gibt. „Künftig setzen wir noch stärker auf eine wildbienenfreundliche Bewirtschaftung von Parkanlagen und Mittelstreifen auf Fahrbahnen“, sagt Schmid-Egger. Dazu gehört auch, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Grünflächenämter zu sensibilisieren und zu schulen, sodass sie beispielsweise nur zu bestimmten Zeiten mähen und stets Teilflächen ungemäht stehenlassen. Sonst kann es passieren, dass an nur einem Tag alle Wildbienen-Futterpflanzen durch die Mähwerke zerstört werden und die Tiere keine Nahrung mehr finden. Eines liegt Schmid-Egger besonders am Herzen: „Die aktuelle Überbauung vieler wertvoller Wildbienenhabitate in Berlin und München muss gestoppt werden.“
Eine Übersicht über alle Wildbienenprojekte der Deutschen Wildtier Stiftung finden Sie hier: www.wildbiene.org.

16.03.2022, Max-Planck-Institut für biologische Intelligenz (in Gründung)
Des einen Freud ist des anderen Leid
Kampfläufer zeichnen sich durch drei genetische Varianten aus, die bei den Männchen zu unterschiedlichem Aussehen und Balzverhalten führen. Die Auswirkungen auf Weibchen waren bisher unbekannt. Forschende am Max-Planck-Institut für biologische Intelligenz, i.G., zeigen nun, dass Weibchen der sogenannten Faeder-Variante im Nachteil sind, da sie weniger Nachwuchs hervorbringen. Dies nützt jedoch den Faeder-Männchen: Als Weibchen getarnt, profitiert ihre Nicht-Auffallen-Taktik von der eigenen Seltenheit. Der gegensätzliche Effekt der Variante auf Männchen und Weibchen trägt somit zum Fortbestehen der Faeder bei. Damit gibt die Studie Einblicke in die Mechanismen, die Biodiversität erhalten.
Die Erhaltung der biologischen Vielfalt ist ein hochaktuelles Thema. Dabei denken wir meist an Artenvielfalt. Doch Biodiversität spielt sich nicht nur zwischen Arten ab: Auch innerhalb der Arten ist es ein weitverbreitetes Phänomen – betrachten wir zum Beispiel die vielfach ausgeprägten Unterschiede zwischen den Geschlechtern.
Kampfläufer (Calidris pugnax) sind ein besonders anschauliches Beispiel für innerartliche Diversität, die weit über die Geschlechtsunterschiede hinausgeht. Bei diesen Schnepfenvögeln werden die Männchen in drei sogenannte Morphe unterteilt, die sich im Aussehen und Verhalten voneinander unterscheiden: Kämpfer mit eher dunklen Federkrägen verteidigen aggressiv ihr kleines Schaurevier in einer Balzarena, um dort den Weibchen zu imponieren. Die etwas kleineren Satelliten-Männchen, erkennbar an helleren Federkrägen, balzen dagegen etwas friedlicher in Allianz mit Kämpfern. Besonders raffiniert sind die seltenen Faeder-Männchen: Sie sehen den Weibchen zum Verwechseln ähnlich und können sich deshalb unbemerkt in Balzarenen einschleichen.
Die drei Morphe sind rein genetisch bedingt. Vor etwa vier Millionen Jahren entstand im Erbgut der Kampfläufer durch eine Inversion ein ‚Supergen‘: Ein DNA-Stück brach heraus und wurde umgekehrt wieder in das Chromosom integriert – die Geburtsstunde des Faeder Morphs. Die Region enthält circa 100 Gene und wird seitdem als funktionelle Einheit vererbt. Eine seltene Rekombination zwischen der ursprünglichen und der umgekehrten DNA-Region brachte anschließend die Satelliten hervor.
Interessanterweise liegt das Supergen nicht auf einem Geschlechtschromosom, so dass die unterschiedlichen genetischen Varianten auch in Weibchen vorkommen. Anders als bei den Männchen war jedoch wenig darüber bekannt, welche Auswirkungen diese auf die Weibchen haben. Ein internationales Team um Clemens Küpper am Max-Planck-Institut für biologische Intelligenz, i.G. und David Lank von der Simon Fraser University, hat nun den Fortpflanzungserfolg der weiblichen Morphe verglichen. Sie stellten fest, dass weibliche Faeder einen deutlich geringeren Fortpflanzungserfolg aufweisen. Faeder-Weibchen legen weniger und kleinere Eier. Zudem haben die Embryonen, sowie die aus den kleineren Eiern geschlüpften Küken geringere Überlebenschancen.
Trotzdem geht die Faeder-Variante in der Natur nicht verloren. Um dieser Kontroverse auf den Grund zu gehen, modellierten die Forschenden unterschiedliche Szenarien. So konnten sie zeigen, dass zum Erhalt der Faeder-Variante ein erhöhter Fortpflanzungserfolg der Faeder-Männchen notwendig ist.
„Das Faeder-Supergen bringt einen großen Nachteil für die Weibchen mit sich, für die Männchen dagegen ist es von Vorteil“, erklärt Lina Giraldo-Deck, Erstautorin der Studie. „Wir denken, dass genau dieser genetische Konflikt zwischen Männchen und Weibchen entscheidend zum Erhalt der Faeder-Variante beiträgt.“ Der geringe Fortpflanzungserfolg der Weibchen spielt nämlich den Männchen in die Karten: Je seltener sie sind, desto besser funktioniert ihre Nicht-Auffallen-Taktik.
Allerdings geht die Strategie der Faeder nur auf, da der Kämpfer-Morph genetisch sowie ökologisch das Grundgerüst stellt. Da die Genvarianten der Faeder und Satelliten allein nicht lebensfähig sind, besitzt jeder Kampfläufer mindestens eine Kämpfer-Variante. Zudem sind männliche Faeder auf die Balz der Kämpfer angewiesen und Faeder-Küken werden hauptsächlich von Kämpfer-Weibchen aufgezogen.
„Das Spannende ist, dass die Kämpfer-Männchen der Taktik der seltenen Faeder schutzlos ausgeliefert sind“, sagt Clemens Küpper. „Der extrem hohe Wettbewerb unter den Kämpfern hat zu immer größeren und aggressiveren Männchen geführt. Mittlerweile sind diese betriebsblind und in ihrem Konkurrenzkampf ausschließlich auf ähnlich aussehende Männchen fixiert. Das eröffnet Täuschungskünstlern wie den Faedern eine Nische, welche sie sehr effektiv nutzen.“ Das zeigt, dass es ‚den Fittesten‘, der mit allen Herausforderungen zurechtkommt, nicht gibt. „Vielfalt setzt sich auch unter starkem Selektionsdruck durch. Das Hervorbringen von neuen Formen ist ein Prinzip allen Lebens“, merkt Clemens Küpper an.
Als nächstes möchten die Wissenschaftler*innen untersuchen, welchen Effekt die Supergen-Varianten in anderen Lebensstadien haben und wie die involvierten Gene die Physiologie der heranwachsenden Tiere beeinflussen – nur so, betonen die Forschenden, lassen sich die zugrundeliegenden, evolutionären Mechanismen in ihrer Gesamtheit verstehen.
Originalpublikation:
Lina Giraldo-Deck, Jasmine Loveland, Wolfgang Goymann, Barbara Tschirren, Terry Burke, Bart Kempenaers, David Lank, Clemens Küpper
Intralocus conflicts associated with a supergene
Nature Communications, online 16. März 2022
DOI: 10.1038/s41467-022-29033-w

16.03.2022, Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung (IZW) im Forschungsverbund Berlin e.V.
Greifvogelbestände in ganz Europa sind durch Bleivergiftungen aus Jagdmunition erheblich reduziert
Die bei der Jagd verwendete bleihaltige Munition stellt ein erhebliches Gesundheitsrisiko für Greifvögel dar, indem sie deren Nahrung belastet. Wissenschaftler:innen aus Deutschland und dem Vereinigten Königreich werteten nun erstmals Daten über den Bleigehalt der Leber Tausender toter Greifvögel aus ganz Europa aus, um die Auswirkungen der Bleivergiftungen auf die Größe ihrer Bestände zu bestimmen. Die Berechnungen zeigen, dass in Europa mindestens 55.000 ausgewachsene Greifvögel aufgrund von Bleivergiftungen fehlen. Besonders betroffen sind die Bestände von Seeadler (um 14% reduziert) und Steinadler (um 13% reduziert). Die Analyse ist in „Science of the Total Environment“ veröffentlicht.
Vergiftungen durch das Fressen von Tieren, die mit bleihaltiger Munition beschossen wurden, führen dazu, dass die Bestände vieler Greifvogelarten weitaus kleiner sind, als sie sein sollten. Dies geht aus der ersten wissenschaftlichen Untersuchung hervor, die diese Auswirkungen für ganz Europa berechnet. Greifvögel wie Adler und Rotmilane nutzen Kadaver als Nahrungsquelle oder fressen verletzte Tiere. Finden sich in deren Körpern Fragmente des giftigen Bleis aus Jagdmunition, wird das aus der Nahrung aufgenommene Blei im Körper akkumuliert. Dies führt zu schweren bis tödlichen Vergiftungen, die Vögel erleiden einen langsamen und schmerzhaften Tod. Kleinere Dosen können nachweislich Verhalten und Physiologie der Greifvögel verändern.
Nun berechneten Wissenschaftler:innen der Universität Cambridge und des Leibniz-Instituts für Zoo- und Wildtierforschung (Leibniz-IZW) anhand von Daten zum Bleigehalt der Leber von über 3.000 in mehr als einem Dutzend Ländern tot aufgefundener Greifvögel, in welchem Ausmaß sich die Vergiftung durch Bleimunition auf die Greifvogelpopulationen Europas auswirkt. Im Ergebnis führte bei zehn Greifvogelarten allein die Vergiftung durch Bleimunition dazu, dass dadurch rund 55.000 erwachsene Vögel am Himmel fehlen. Am stärksten betroffen sind Arten wie Stein- oder Seeadler, die von Natur aus langlebig sind, nur wenige Junge pro Jahr aufziehen und erst relativ spät mit dem Brüten beginnen. Auch häufiger anzutreffende Arten wie der Mäusebussard und der Rotmilan wären ohne die Auswirkungen der Bleianreicherung noch deutlich zahlreicher.
Die Berechnungen der Wissenschaftler:innen zeigen, dass die Seeadlerpopulation in Europa um 14 Prozent kleiner ist, als sie es ohne die mehr als ein Jahrhundert andauernde Exposition gegenüber Blei in ihrer Nahrung wäre, dicht gefolgt von Steinadler und Gänsegeier, deren Bestände um 13 bzw. 12 Prozent geringer sind. Der Habichtbestand ist um 6 Prozent und die Bestände von Rotmilan und Rohrweihe um 3 Prozent geringer. Die Mäusebussard-Populationen sind um 1,5 Prozent kleiner – dies entspricht 22.000 ausgewachsenen Exemplaren dieser weit verbreiteten Art, so die Wissenschaftler:innen. Sie berechneten, dass die Gesamtpopulation von zehn Greifvogelarten in Europa um mindestens 6 Prozent kleiner ist als sie sein sollte, und zwar allein aufgrund der Vergiftung durch Bleimunition.
Erstautor Prof. Rhys Green, Naturschutz-Wissenschaftler an der Universität Cambridge und der Royal Society for the Protection of Birds (RBSP), erklärt, dass eine Reihe von Alternativen zu bleihaltigen Schrotpatronen und Gewehrkugeln für Jäger weithin verfügbar sind und gut funktionieren. Die Bemühungen der britischen Jagdverbände um ein freiwilliges Verbot von Bleischrot bei der Jagd zeigten jedoch so gut wie keine Wirkung.
„In Deutschland haben nur 4 von 16 Bundesländern die Verwendung von bleihaltiger Büchsenmunition für die Jagd verboten“, sagt Leibniz-IZW-Wissenschaftler und Ko-Autor Dr. Oliver Krone. „Darüber hinaus ist Bleimunition in allen Bundesländern im Staatswald und in mehreren Bundesländern in Landeswäldern sowie in Nationalparks und Naturschutzgebieten verboten. Dieser Flickenteppich lässt viel Raum für die weitere Verwendung bleihaltiger Büchsenmunition, auch weil die überwiegende Mehrheit der Jagdgebiete wie Wälder und landwirtschaftliche Flächen in Privatbesitz sind. Teillösungen des Problems reichen nicht aus, um die negativen Auswirkungen der Bleivergiftung auf die Greifvogelpopulationen in Deutschland zu beenden, eine bundesweite Lösung des Problems wäre also notwendig.“ Die Verwendung von bleihaltiger Flintenmunition für die Jagd auf Wasservögel an Gewässern ist in fast allen Bundesländern verboten, für die Jagd auf andere Arten wie Fasane, Hasen, Tauben, Rebhühner, Kaninchen oder Füchse ist diese Munition jedoch weiterhin erlaubt. „Genau wie bei der Büchsenmunition ist die Verwendung bleihaltiger Flintenmunition in den meisten Fällen erlaubt und nur in einigen Fällen verboten“, so Krone abschließend.
Derzeit haben nur zwei europäische Länder – Dänemark und die Niederlande – ein landesweites Verbot von Bleischrot (Flintenmunition) erlassen. Dänemark plant, diesem Verbot ein Verbot von Bleigeschossen für Gewehre (Büchsen) folgen zu lassen. Sowohl die Europäische Union als auch das Vereinigte Königreich erwägen ein gesetzliches Verbot aller bleihaltigen Munition aufgrund der Auswirkungen auf Wildtiere und auf die Gesundheit der menschlichen Konsumenten von Wildfleisch, doch viele Jagdverbände sträuben sich gegen flächendeckende Verbote.
Greifvögel werden vergiftet, wenn sie tote Tiere aufspüren, die mit Bleimunition getötet wurden. Dabei kann es sich um ganze Kadaver handeln, die von Jägern verloren oder zurückgelassen wurden, oder beispielweise um die Eingeweide von erlegten Rehen, Hirschen und Wildschweinen, die aus dem erlegten Tierkörper herausgenommen werden, um eine bakterielle Kontamination des Fleisches zu vermeiden und das Gewicht zu verringern. Neben den Geiern als klassischen Aasfressern gehört auch für viele andere Greifvögel Aas zum Nahrungsspektrum, wenn sich die Gelegenheit dazu bietet – darunter Adler, Bussarde und Milane. Andere Arten, wie beispielsweise Falken und Habichte, nehmen kein oder nur selten Aas zu sich. Sie werden aber gelegentlich durch die Jagd auf lebende Beute dem Blei ausgesetzt, wenn diese angeschossen und verletzt, aber nicht getötet wurde. Systematische Röntgenaufnahmen von Wildenten im Vereinigten Königreich und von Wildgänsen in Deutschland zeigten, dass etwa ein Viertel bis ein Drittel der lebenden Vögel Schrot in ihrem Körper tragen. Verletzte Enten oder Gänse sind seltener in der Lage, Raubvögeln zu entkommen.
„Es hat Jahrzehnte gedauert, bis Wissenschaftler:innen aus ganz Europa genügend Daten gesammelt hatten, um die Auswirkungen von Bleivergiftungen auf Greifvogelbestände berechnen zu können“, sagt Ko-Autorin Prof. Debbie Pain von der Universität Cambridge. „Wir können jetzt sehen, wie erheblich die Auswirkungen auf die Bestände einiger unserer charismatischsten und empfindlichsten Arten sein können – Arten, die durch die EU-Verordnung und den britischen Wildlife & Countryside Act geschützt sind. Das vermeidbare Leiden und der Tod zahlreicher einzelner Greifvögel durch Bleivergiftungen sollten ausreichen, um die Verwendung ungiftiger Alternativen zu fordern. Die nun quantifizierten Auswirkungen auf die Bestände machen dies doppelt wichtig und dringend.“
Für die jüngste Analyse berechneten Green, Pain und Krone anhand von Populationsmodellen, wie groß die europäischen Greifvogelbestände ohne die zerstörerischen Auswirkungen eines einzigen zusätzlichen Mortalitätsfaktors sein würden, der Bleivergiftung durch Munition. Sie verwendeten Daten, die seit den 1970er Jahren durch die toxikologische Untersuchung der Lebern tausender toter Greifvögel in 13 Ländern gesammelt wurden, und verglichen diese mit der „Jägerdichte“, der durchschnittlichen Anzahl Jäger pro Quadratkilometer in jedem Land, unter Verwendung der Daten der European Federation for Hunting and Conservation. Wenig überraschend fanden sie an Orten mit einer höheren Jägerdichte mehr vergiftete Raubvögel. Die Wissenschaftler:innen nutzten diesen quantifizierten Zusammenhang, um die Vergiftungsquoten für Länder vorherzusagen, von denen es keine Daten über in Lebern angereichertes Blei gibt, deren Jägerdichte aber bekannt ist. Ihre Ergebnisse zeigen, dass es in einem Land, in dem kein Jäger Bleimunition verwendet, praktisch keine bleivergifteten Greifvögel gibt.
Green, Pain und Krone halten ihre Berechnungen für konservativ, nicht zuletzt, weil die Daten über vergiftete Greifvögel begrenzt und schwierig zu beschaffen sind. Für viele europäische Greifvögel, darunter einige der seltensten Arten, liegen keine ausreichenden Daten vor, um das Ausmaß des Risikos zu bestimmen.
Originalpublikation:
Green RE, Pain DJ, Krone O (2022): The impact of lead poisoning from ammunition sources on raptor populations in Europe. Science of the Total Environment.

16.03.2022, Senckenberg Forschungsinstitut und Naturmuseen
Lebensweg: Gazelle läuft über 18.000 Kilometer
Senckenberg-Wissenschaftler*innen haben mit Forschenden der Wildlife Conservation Society in der Mongolei die Bewegungsdaten einer weiblichen Gazelle ausgewertet. Über fünf Jahre konnte das Team die Wanderung des Tieres mittels GPS-Sender aufzeigen: Insgesamt legte die Gazelle über 18.000 Kilometer – eine halbe Erdkugelumrundung – in der mongolischen Steppe zurück. Die Daten geben wichtige Auskünfte zum Schutz der nomadischen Tiere. Die Studie ist im Fachjournal „Ecology“ erschienen.
Vom Erklimmen schneebedeckter Hügel, über Versuche einen tosenden Fluss zu überqueren bis hin zur Rückkehr in heimische Gefilde – die heute veröffentlichte Auswertung von GPS-Daten eines besenderten, mongolischen Gazellen-Weibchens lesen sich wie ein abenteuerlicher Reisebericht. „Im Oktober 2014 haben wir 15 Gazellen der Art Procapra gutturosa in der mongolischen Steppe mit GPS-Sendern ausgestattet“, erzählt Dr. Thomas Müller vom Senckenberg Biodiversität und Klima Forschungszentrum Frankfurt und ergänzt: „Einer dieser Sender hat mit fünf Jahren ungewöhnlich lange gehalten. So konnten wir die Wanderungen der Gazelle über einen großen Teil ihres Lebens verfolgen.“
Die aus den stündlichen GPS-Ortungen abgeleitete Gesamtstrecke zeigt, dass die Gazelle mehr als 18.000 Kilometer zurücklegte – etwa die Hälfte des äquatorialen Erdumfangs! Dabei durchquerte das Tier die östliche Mongolei mehrfach von Norden nach Süden. „Die Reise war aber nicht nur aufgrund ihrer beeindruckenden Distanz außergewöhnlich, sondern auch, weil sich die Gazelle häufig über Hunderte von Kilometern in unbekannte Regionen wagte. Während ihrer Reise besuchte sie viele Gebiete nur ein einziges Mal, andere Gebiete jedoch mehrfach in unregelmäßiger und unvorhersehbarer Weise“, erläutert Erstautorin und Senckenbergerin Dr. Nandintsetseg Dejid die Ergebnisse.
Ein wesentlicher Unterschied der Reise der Gazelle im Vergleich zu den Wegen anderer bekannter Huftiere, wie etwa den Maultierhirschen in den USA oder den Gnus im Serengeti-Mara-Ökosystem, besteht laut Autor*innen-Team darin, dass bei der Gazelle keine regelmäßigen saisonalen Bewegungen zu erkennen sind. Sie kehren nicht jedes Jahr in dieselben Überwinterungs- und Kalbungsgebiete zurück. „Wir konnten zwar nur ein Tier über so einen langen Zeitraum beobachten. Da sich mongolische Gazellen aber meist in teilweise sehr großen Gruppen zusammenschließen, gehen wir davon aus, dass es sich bei den langen Distanzen nicht um einen Einzelfall handelt“, so Dejid.
Das erste Jahr der nomadischen Gazelle verlief relativ ereignislos. Das Tier hielt sich überwiegend in dem Gebiet auf, in dem die Forscher*innen ihr das Halsband mit Sender umlegten. Im November 2015 trat die Gazelle dann – zunächst ohne ersichtlichen Grund – ihre Reise nach Norden an. Sie überquerte zwei große zugefrorene Flüsse bis sie, nach einer etwa 900 Kilometer langen Reise, schneefreies Gebiet nahe der russischen Grenze erreichte. Im darauffolgenden Frühjahr ging es wieder zurück Richtung Süden, wo ihr die Überquerung der – nun wasserführenden – Flüsse Ulz und Kherlen einige Schwierigkeiten bereitete. Auf dem Weg nach Süden verfolgte der Hornträger weder die ursprüngliche Route zurück, noch pausierte das Tier auf dem Breitengrad, von dem es kam. Stattdessen legte die Gazelle zum Kalben im Sommer eine kurze Pause in einem Schutzgebiet ein. Anschließend setzte sie ihre Reise nach Süden fort, bis sie schließlich im Dezember 2016 einen Abschnitt des Grenzzauns zu China erreichte. Anstatt in das vorherige Winterquartier im Norden zurückzukehren, überwinterte das Gazellen-Weibchen im Süden – 440 Kilometer Luftlinie vom Winterquartier des Vorjahres entfernt. Im Frühling 2017 zog sie zunächst nach Norden. „Dann besuchte sie überraschenderweise genau denselben Ort, an dem wir sie vor drei Jahren zum ersten Mal gefangen hatten und dies sogar zur gleichen Jahreszeit“, berichtet Müller und fährt fort: „Im Frühjahr 2018 zog sie dann nach Süden und kehrte in die Region zurück, in der sie sich im Sommer 2017 aufgehalten hatte. Dort blieb sie bis zum Herbst 2018, bis sie sich erneut in unbekanntes Terrain wagte. Diesmal zog sie 90 Kilometer entlang des Grenzzauns zu China und absolvierte eine mehr als 400 Kilometer lange Schleife im südlichen Teil der Steppe, bevor sie schließlich im Januar 2019 in das Überwinterungsgebiet zurückkehrte, das sie zwei Jahren zuvor genutzt hatte. Im Anschluss war unsere Gazelle recht sesshaft und blieb fast ein Jahr lang in demselben Gebiet, bis das GPS-Gerät ihren Tod im August 2019 übermittelte.“ Das Halsband der Gazelle wurde in der Jurte eines Hirten gefunden, der berichtete, dass die Gazelle offenbar an einem Madenbefall an ihrer Hüfte gestorben war.
Die Studie zur mehrjährigen Reise der Gazelle verdeutlicht, wie wichtig es für nomadisierende Huftiere ist, durchlässige Landschaften zu erhalten. Dies ermöglicht den Tieren Nahrungsressourcen zu finden und lokalen Extremereignissen zu entgehen. „So sind beispielsweise hügelige Regionen, die schneefreie Flächen bieten, für das Überleben der Gazellen – zumindest in einigen Wintern – unerlässlich. Das zeigt wiederum, dass es keine unüberwindbaren Barrieren geben sollte, welche die nördlichen und südlichen Regionen der östlichen Steppe voneinander trennen“, resümiert Müller und gibt einen Ausblick: „Weitere Langzeitstudien sind notwendig, um die Navigationsmechanismen, die Gruppenkommunikation und die Zufluchtsorte dieser Tiere besser zu verstehen und ihnen so einen zuverlässigen Schutz zu bieten.“
Originalpublikation:
Dejid, Nandintsetseg, Olson, Kirk, Stratmann, Theresa S. M., and Mueller, Thomas. 2022. “ A Gazelle’s Extraordinary, 18,000-km-Long Journey through the Steppes of Mongolia.” Ecology e3660. https://doi.org/10.1002/ecy.3660

17.03.2022, Leibniz-Institut zur Analyse des Biodiversitätswandels
Entdeckung einer neuen, möglicherweise baumbewohnenden Reisratten-Art im Südosten Ecuadors
Neue Rattenart der wenig bekannten und seltenen Gattung Mindomys beschrieben: Drei Expeditionen führten ein internationales Forschungsteam mit Beteiligung des Leibniz-Institut zur Analyse des Biodiversitätswandels (LIB) in die fast unzugänglichen Cordillera de Kutukú, einem isolierten Gebirgszug in der Provinz Morona Santiago im Südosten Ecuadors, um nur ein einziges Exemplar der bislang unbekannten Art zu finden. Die Forschenden gaben der neuen Spezies den Namen Mindomys kutuku. Über ihre Lebensweise und ökologische Bedeutung ist bisher wenig bekannt. Der Fund im Bereich der amazonischen Seite der Anden unterstreicht die wertvolle biologische Bedeutung dieser Gebirgsregion.
„Insgesamt umfassten die Expeditionen in die Kutukú-Region 1.200 Fangnächte, doch lediglich ein einziges Exemplar der neuen Art konnte dabei gefunden werden“, erläutert Dr. Claudia Koch, Kuratorin der Herpetologie am LIB, Museum Koenig Bonn den Aufwand, mit dem das seltene Tier ausfindig gemacht wurde. Von dem gesammelten Exemplar wurde die trockene Haut, das Skelett und Gewebe für die Sammlungen konserviert. Die Aufbewahrung ermöglicht zukünftig, Umweltveränderungen zu erkennen, mehr über die Ökologie der Tiere und Pflanzen zu erfahren – und die Neubeschreibung, die Ende Februar in der renommierten Zeitschrift Evolutionary Systematics veröffentlicht wurde, sicher zu dokumentieren. Die Reisratten-Gattung Mindomys galt bisher als monotypisch und beinhaltete lediglich die Typusart Mindomys hammondi. Diese Art ist nur von wenigen Exemplaren bekannt, welche alle in den Vorgebirgswäldern der Anden im Nordwesten Ecuadors gesammelt wurden.
Anhand von Computertomographie-Aufnahmen, die für die neue Art am LIB und für den Holotypus (Exemplar anhand dessen eine Art beschrieben wurde) von Mindomys hammondi im Natural History Museum in London angefertigt wurden, konnten die Forschenden Jorge Brito vom Instituto Nacional de la Biodiversidad (INABIO), Claudia Koch, Nicolás Tinoco von der Pontificia Universidad Católica del Ecuador (PUCE) und Ulyses Pardiñas vom Instituto de Diversidad y Evolución del Sur (IDEAus-CONICET) die Schädel der beiden Arten sehr detailliert im 3D-Modell vergleichen.
Jorge Brito, Säugetierkurator des INABIO zufolge, lässt sich die neue Art durch eine Reihe anatomischer Merkmale leicht von Mindomys hammondi unterscheiden: „Dazu gehören unter anderem größere Jochbeinknochen, „Flügel“ des Scheitelbeinknochens, die sich bis zu den Jochbeinwurzeln erstrecken, größere Ohrkapseln, schmale Jochbeinplatten fast ohne obere freie Ränder, ein nach hinten ausgerichtetes Foramen magnum (Großes Hinterhauptsloch), größere Backenzähne und eine zusätzliche Wurzel des ersten oberen Backenzahns“.
Das ausgewachsene Männchen von Mindomys kutuku misst von der Schnauzen- bis zur Schwanzspitze knapp 35 cm, wovon der Schwanz etwa 20 cm ausmacht. Es besitzt eine dunkel rötlich-braue Rückenfärbung und ein blassgelbes Bauchfell.
Das einzige gefundene Exemplar konnte nicht in seinem Lebensraum beobachtet werden, da es mittels einer durch die Forschenden aufgestellten Bodenfalle gefangen wurde.
Zur Lebensweise der neuen Art ist somit, ebenso wie über die bereits 1913 beschriebenen Schwesternart Mindomys hammondi, bisher so gut wie nichts bekannt. Das Wissenschaftsteam vermutet, dass es sich bei beiden um baumbewohnende (arboreale) Arten handeln könnte. Ein Schwanz, der deutlich länger, als die Körperlänge und zudem mit langen Haaren bedeckt ist, könnte zwei Merkmale aufweisen, die auf eine arboreale Lebensweise hindeuten. Aborealität ist jedoch die am wenigsten erforschte Lebensweise innerhalb der Neuweltmäuse und es fehlt noch immer an einer verlässlichen Studie über die anatomischen Aspekte, die typisch für diese Lebensweise sind.
Bisher waren Mindomys-Nachweise auf die westlichen Andenausläufer Ecuadors beschränkt. Das Kutukú-Material zeigt nun, dass die Gattung auch auf der amazonischen Seite der Anden vorkommt und unterstreicht die wertvolle biologische Bedeutung der isolierten Gebirgszüge im Osten Ecuadors.
Originalpublikation:
Brito, J., Koch, C., Tinoco, N., Pardiñas, U. F. J. (2022): A new species of Mindomys (Rodentia, Cricetidae) with remarks on external traits as indicators of arboreality in sigmodontine rodents. Evolutionary Systematics 6 (2022): 35–55. DOI: 10.3897/evolsyst.6.76879
https://evolsyst.pensoft.net/article/76879/

18.03.2022, Universität Konstanz
Das „Gold“ der Midas-Buntbarsche
Konstanzer Biologen beschreiben ein neues Gen beim mittelamerikanischen Midas-Buntbarsch und identifizieren eine Variante, die durch ein „springendes Gen“ (Transposon) hervorgerufen wurde. Diese Variante des „goldentouch-Gens“ ist mit großer Wahrscheinlichkeit die Ursache für die goldene Färbung, die man bei einem kleinen Prozentsatz der Tiere dieses Artenkomplexes beobachten kann.
Alles was er berührte, wurde zu Gold – so eine Sage um König Midas aus der griechischen Mythologie. Weniger magisch, aber dennoch golden geht es bei den mittelamerikanischen Midas-Buntbarschen zu. So entwickeln einige dieser Fische im Laufe ihres Lebens eine leuchtend-goldene bis rote Färbung, die sich deutlich von der vertikal-gestreiften, dunkeltönigen Färbung ihrer Artgenossen abhebt. Bei dem „goldentouch“ (engl. für „Goldene Berührung“), der hierbei mit großer Wahrscheinlichkeit eine Rolle spielt, handelt es sich jedoch nicht um das Wirken der griechischen Gottheit Dionysos, sondern um ein bisher unbekanntes Gen der Fische. Die Beschreibung des Gens sowie die Entdeckung verschiedener Varianten, die für den sogenannten Farb-Polymorphismus der Fische verantwortlich sein könnten, wurden nun durch ein Team aus Wissenschaftlern um den Konstanzer Biologen Prof. Dr. Axel Meyer in der Fachzeitschrift Nature Communications veröffentlicht.
Eine Art, verschiedene Formen
In der Natur kann es vorkommen, dass sich Individuen derselben Art in ihrer Form beziehungsweise ihrer Färbung stark voneinander unterscheiden. In der Wissenschaft spricht man von diesem Phänomen als „Polymorphismus“. Die 13 Fischarten, die zu den mittelamerikanischen Midas-Buntbarschen (Amphilophus cf. citrinellus) gehören und in den Kraterseen Nicaraguas beheimatet sind, bieten dafür ein anschauliches Beispiel: Während diese Fische zunächst stets eine dunkle Färbung aufweisen, nehmen die „genetisch goldenen“ von ihnen im Laufe ihrer Entwicklung eine orangene Färbung an, sodass es unter den erwachsenen Tieren zwei Farbvarianten gibt.
Der Farbwechsel von dunkel auf „golden“, der bei etwa zehn Prozent der Tiere stattfindet, ist dabei genaugenommen eine Entfärbung: Die leuchtende orange/gelbe Farbe der erwachsenen „goldenen“ Tiere kommt dadurch zustande, dass im Verlauf von wenigen Wochen mehr und mehr Zellen in der Haut der Fische absterben, die das dunkle Pigment Melanin beinhalten. Das gleiche Pigment, das bei uns Menschen unter anderem die Haar- und Augenfarbe mitbestimmt. Es ist also der Verlust von dunklen, melaninhaltigen Zellen, der die kräftigen Farben der Fische zum Vorschein bringt.
Auf der Suche nach der genetischen Ursache
Da die Färbung der Midas-Buntbarsche die Wissenschaft schon seit ihrer Entdeckung vor über 100 Jahren fasziniert, war bereits bekannt, dass die Goldfärbung von Elterntieren an die Folgegeneration weitergegeben wird. Die Vererbung des Merkmals folgt dabei klassischen Mendelschen Regeln und die Goldfärbung ist das dominante Merkmal. „Ähnlich wie bei uns Menschen liegt der Chromosomensatz der Fische in jeder Zelle in doppelter Ausführung vor. Da die Goldfärbung gegenüber dem dunklen Farbtyp dominant ist, reicht eine einzige genetische Kopie der ‚Goldvariante‘ pro Zelle, damit die Fische im Laufe ihres Lebens die goldene Färbung annehmen“, erklärt Axel Meyer, Professor am Fachbereich Biologie der Universität Konstanz.
Sogar den Ort, an dem sich die genetische Ursache für den Farbpolymorphismus der Midas-Buntbarsche versteckte, konnte das Labor von Axel Meyer bereits zuvor auf Chromosom 11 eingrenzen. Die für die Färbung der Fische verantwortliche genetische Ursache selbst blieb der Wissenschaft jedoch bisher verborgen. Um dem Geheimnis auf die Spur zu kommen, analysierten die Forscher daher genetisches Material von dunklen und goldenen Midas-Buntbarschen aus verschiedenen Kraterseen mit einer „Assoziationskartierung“. Die beobachtbare Eigenschaft der Färbung wird durch eine genetische Kreuzung über Generationen hinweg auf eine genetische Karte des Genoms des Fisches kartiert. „Das Erste, was uns jedoch bei dieser Analyse auffiel, waren Ungereimtheiten in den Ergebnissen. Irgendetwas passte nicht so recht, als würde ein Puzzleteil fehlen“, so Axel Meyer.
Das „goldentouch“ Gen
Unter den Konstanzer Biologen kam daher der Verdacht auf, dass das bereits bestehende Vergleichsgenom des Midas-Buntbarsches, das für die Analyse verwendet wurde, in dem Sinne „fehlerhaft“ sein könnte, als dass es das für die Färbung verantwortliche Gen gar nicht enthält. Sie beschlossen daher, mit der neuen „long-read“ Sequenzier-Methode, ein verbessertes Vergleichsgenom herzustellen. Dieser Teil der Studie wurde hauptsächlich von Dr. Claudius Kratochwil, heute Arbeitsgruppenleiter an der Universität Helsinki (Finnland), und Dr. Frederico Henning, heute Professor an der Bundesuniversität Rio de Janeiro (Brasilien), durchgeführt – zwei früheren Postdocs der Arbeitsgruppe von Axel Meyer. Sie sequenzierten dafür das vollständige Genom eines gezüchteten, in Bezug auf die Färbung heterozygoten Midas-Buntbarsches. Heterozygot bedeutet, dass der Fisch auf einer Kopie des Chromosom 11 die genetische Ausstattung für die goldene Farbvariante trug und auf der Anderen die für die dunkle Farbvariante. Anschließend wiederholten die Forscher ihre ursprüngliche Analyse.
„Wir entdeckten in unserem neuen Vergleichsgenom zunächst ein bisher unbeschriebenes Gen auf Chromosom 11, das bei unserem Fisch in zwei unterschiedlichen Varianten vorlag: Variante d für ‚dunkel‘ und Variante G für ‚golden‘“, berichtet Axel Meyer. Eine Wiederholung der Assoziationskartierung ergab dann, dass dieses Gen mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit mit der Färbung der Midas-Buntbarsche in Zusammenhang steht: So zeigten Fische mit einer zweifachen Kopie der d-Variante im Erwachsenenalter eine dunkle Färbung, die mit einer oder zwei Kopien der dominanten G-Variante hingegen eine orange/gelbe Färbung. In Anlehnung an die Sage von König Midas tauften die Forscher das neuentdeckte Gen daher auf den Namen „goldentouch“.
Weiterführende Untersuchungen
Die Ergebnisse lieferten also ein erstes stichhaltiges Indiz dafür, dass das goldentouch-Gen eine wesentliche Rolle bei der Entstehung verschiedener Farbvarianten bei Midas-Buntbarschen spielen könnte. Um mehr über das neubeschriebene Gen zu erfahren, schlossen die Forscher eine Reihe molekularer Folgeuntersuchungen an. Sie stellten dabei zunächst fest, dass die Goldvariante des Gens deutlich länger ist als die dunkle Variante. Der Grund dafür ist ein in das Gen eingewandertes Stück egoistische DNA – ein „springendes Gen“ oder „Transposon“. Dieses zusätzliche Stück genetischen Codes führt dazu, dass sich die Goldvariante des Gens auf molekularer Ebene anders faltet als die dunkle Variante. Das wiederum hat Folgen für die sogenannte Genexprimierung – die Synthese von Eiweißstoffen als Endprodukt der in dem Gen enthaltenen Information.
Die Forscher stellten außerdem fest, dass das Gen bei allen Farbvarianten des Midas-Buntbarsches vor allem in den Schuppen angeschaltet wird, an anderen Orten, wie zum Beispiel den inneren Organen, hingegen fast gar nicht. Dies untermauert eine spezifische Funktion der Genprodukte in den äußeren Hautschichten der Fische. „Wir fanden außerdem heraus, dass das goldentouch-Gen in den Schuppen der goldenen Midas-Buntbarsche in geringerem Maße exprimiert wird, als in den dunklen. Es gibt also Unterschiede in der Anzahl der Genprodukte zwischen den Farbvarianten, welche die Entstehung der unterschiedlichen Farbtypen erklären könnten“, berichtet Axel Meyer.
Auch wenn der finale Beweis dafür, dass die in der aktuellen Studie beschriebenen Varianten des goldentouch-Gens der direkte Grund für die Entstehung der Farbvarianten beim Midas-Buntbarsch sind, noch aussteht, spricht demnach bereits Einiges dafür. „Wir sind mit unserer Studie dem Ziel, das Rätsel der Midas-Buntbarsche zu entschlüsseln, ein großes Stück nähergekommen. Zukünftige Studien werden nun den kausalen Zusammenhang zum goldentouch-Gen bestätigen müssen und aufklären, wie das Gen die Umfärbung der Fische auf molekularer Ebene im Detail steuert“, so Axel Meyer.
Originalpublikation: Claudius F. Kratochwil, Andreas F. Kautt, Alexander Nater, Andreas Härer, Yipeng Liang, Frederico Henning, Axel Meyer (2022) An intronic transposon insertion associates with a trans-species color polymorphism in Midas cichlid fishes. Nature Communications; DOI: https://doi.org/10.1038/s41467-021-27685-8

Dieser Beitrag wurde unter Wissenschaft/Naturschutz veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert