Neues aus Wissenschaft und Naturschutz

20.12.2021, Leibniz-Institut zur Analyse des Biodiversitätswandels
Entzündung ermöglicht evolutionäre Innovation in „schwangeren“ Reisfischen
Ein zentrales Rätsel der Evolutionsbiologie ist wie komplexe Neuheiten scheinbar aus dem Nichts entstehen können. Forschende des Leibniz-Instituts zur Analyse des Biodiversitätswandels fanden jetzt einen Beleg dafür, dass entzündliche Immunantworten das Fundament für neue Gewebe legen können. So entstand ein einzigartiges Gewebe: der Plug. Dieser ermöglicht es Reisfischmüttern ihre Eier zu tragen, bis sie schlüpfen. Eine solch „innovative Entzündung“ hat nicht nur die Fortpflanzung von Reisfischen revolutioniert, sie spielte auch eine Schlüsselrolle in der Evolution des Menschen.
Im Laufe der Evolution entstanden viele beeindruckende Anpassungen. So haben sich beispielsweise Vorderbeine in Meeressäugern nach und nach zu Flossen und in Fledermäusen sogar zu Flügeln entwickelt. Doch die natürliche Auslese wirkt nur auf bereits bestehende Merkmale. Was es noch nicht gibt, kann also auch nicht angepasst werden. Daher bereiteten Neuheiten die scheinbar aus dem Nichts entstanden, den Forschenden lange Kopfzerbrechen.
Neue Einblicke in dieses Rätsel lieferten nun Süßwasserfische aus dem Hochland der indonesischen Insel Sulawesi. Im Gegensatz zu den meisten Fischen überlassen bauchbrütende Reisfische ihre Eier nicht einfach ihrem Schicksal. Stattdessen tragen sie ihren Nachwuchs gut behütet auf den Bauchflossen mit sich herum. Ermöglicht wird diese erstaunliche Fortpflanzungsstrategie durch ein einzigartiges Gewebe, den sogenannten Plug. Der Plug bildet sich nach jeder Paarung im Mutterleib und verankert dort dünne Schnüre, sogenannte Filamente, an denen die Eier hängen. Während viele Fischarten Filamente bilden um ihre Eier zum Beispiel an Pflanzen zu befestigen, kommt der Plug ausschließlich bei bauchbrütenden Reisfischen vor. Doch wie kann eine so komplexe Anpassung überhaupt entstehen?
„Die neue Erkenntnis ist: Wiederholte Entzündungen, zum Beispiel im Fortpflanzungstrakt, können wie eine Werkzeugkiste der Evolution fungieren und ermöglichten die Entstehung des Plugs bei Reisfischen,“ erläutert Dr. Julia Schwarzer, Sektionsleiterin Evolutionäre Genomik am Leibniz-Institut zur Analyse des Biodiversitätswandels (LIB). Es lassen sich zudem Parallelen zwischen bauchbrütenden Reisfischen und der Schwangerschaft bei uns Menschen ziehen, denn eine abgewandelte Entzündungsreaktion liegt auch der Evolution der Embryoeinnistung in der Gebärmutter der Säugetiere zugrunde.
Eine Kombination aus anatomischen und genetischen Analysen des Plug Gewebes zeigte, dass Zellen und Signalwege, die am Aufbau des Plugs beteiligt sind, normalerweise vor allem Entzündungsreaktionen kontrollieren. Entzündungen treten bekanntlich nach Verletzungen auf, regen Zellteilung an, lassen Immunzellen einwandern, und Blutgefäße sprießen. Sie kontrollieren also viele Prozesse, die nicht nur der Wundheilung dienen, sondern theoretisch auch herangezogen werden könnten, um ein neues Gewebe wie den Plug aufzubauen.
„Als die Vorfahren der heutigen Bauchbrüter begannen, ihre Eier immer länger mit sich zu tragen, verursachten die Filamente nach jeder Paarung winzige Verletzungen im Fortpflanzungstrakt,“ führt Dr. Leon Hilgers, der Erstautor der Studie und inzwischen Postdoc am LOEWE-Zentrum für Translationale Biodiversitätsgenomik, aus. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Internationalen Forschungsteams vermuten, dass die anschließenden Entzündungen im Laufe der Evolution so angepasst wurden, dass ein neues Gewebe – der Plug – entstand.
Die Erkenntnisse der Studie, die in der internationalen Zeitschrift Current Biology veröffentlicht wurden, betreffen nicht nur die Evolution der Reisfische. Bestimmte Gene wurden unabhängig voneinander für die Säugetierplazenta und den Reisfischplug rekrutiert. Die Evolution „fand“ also ähnliche Lösungen in völlig unterschiedlichen Tieren.
Originalpublikation:
Inflammation and convergent placenta gene co-option contributed to a novel reproductive tissue
Leon Hilgers, Olivia Roth, Arne W. Nolte, Alina Schüller, Tobias Spanke, Jana M. Flury, Ilham V. Utama, Janine Altmüller, Daisy Wowor, Bernhard Misof, Fabian Herder, Astrid Böhne and Julia Schwarzer
Current Biology (https://doi.org/10.1016/j.cub.2021.12.004)

20.12.2021, GEOMAR Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung Kiel
Invasive Rippenqualle: Erfolgreich dank wiederholter Einwanderung
Eines der berüchtigtsten invasiven marinen Lebewesen ist die Rippenqualle Mnemiopsis leidyi. Um den Invasionserfolg dieser Art genauer zu beleuchten, nutzte ein internationales Team unter Leitung des GEOMAR und des DTU Aqua Daten aus Vollgenom-Analysen. In ihrer Studie, die im Fachmagazin PNAS veröffentlicht wurde, kommen die Forschenden zu dem Schluss: Genetische Vielfalt an sich ist nicht der entscheidende Grund für den Invasionserfolg. Stattdessen ergaben Rekonstruktionen der Populationen, dass das Ausmaß der Invasionsereignisse sowie wiederholte Einführungen bestimmend sind.
Biologische Invasionen – die Einführung neuer, nicht heimischer Arten in Lebensräume, in denen sie zuvor nicht gelebt haben – erhalten seit einigen Jahren viel Aufmerksamkeit. Da sie bestehende Ökosysteme stören und einheimische Arten verdrängen, können sie die biologische Vielfalt massiv beeinflussen. Vor allem im Ozean gilt der Transport durch Menschen als eine der Hauptursachen für solche Invasionen. Eine jetzt im Fachmagazin Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America (PNAS) erschienene Veröffentlichung von Wissenschaftler*innen aus Deutschland, Dänemark, den Vereinigten Staaten von Amerika, Frankreich und Bulgarien beleuchtet die Frage, wie sich genetische Vielfalt auf Erfolg einer invasiven Art auswirkt. Das internationale Autorenteam analysierte hierfür das gesamte Genom einheimischer Populationen der Rippenqualle Mnemiopsis leidyi aus Miami und Woods Hole (USA) sowie von invasiven Populationen aus Varna (Bulgarien), Villefranche-sur-Mer (Frankreich) und Sylt (Deutschland).
Mnemiopsis leidyi ist für ihren verheerenden Einfluss auf Ökosysteme in ihrem Verbreitungsgebiet bekannt. So konkurriert diese Rippenqualle beispielsweise mit einheimischen Fischarten um Nahrung. Die an der Ostküste Amerikas beheimatete Art wurde erstmals in den 1980er Jahren im Schwarzen Meer gesichtet und hat sich seitdem in weiten Teilen West-Eurasiens ausgebreitet. Es wird angenommen, dass die ursprüngliche Invasion auf den Transport im Ballastwasser von Handelsschiffen zurückzuführen ist. Im Jahr 2006 wurde die Art in der Kieler Förde entdeckt. Damals war sie ein zweites Mal, unabhängig von ihrem ersten Auftauchen im Schwarzen Meer, aus Neuengland eingedrungen. „Ungeachtet ihrer großen Bedeutung sind die spezifische Invasionsdynamik und die Ausbreitung während der Einschleppung bisher unbekannt – wie bei den meisten nicht-einheimischen marinen Arten,“ sagt Dr. Cornelia Jaspers. Die biologische Ozeanografin aus Kiel, jetzt Leiterin des Zentrums für Ökologie und Evolution von gelatinösem Zooplankton an der Technischen Universität Dänemark (DTU Aqua), ist die Hauptautorin der PNAS-Veröffentlichung.
Als eine der hundert einflussreichsten invasiven Arten wurde Mnemiopsis leidyi auch als Schwerpunktart des an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel angesiedelten Sonderforschungsbereichs (SFB) 1182 „Entstehen und Funktionieren von Metaorganismen“ ausgewählt. „Da diese Art inzwischen in der Nord- und Ostsee vorkommt, müssen wir ihre genaue Invasionsgeschichte einschließlich der möglichen Reduzierung der genetischen Vielfalt verstehen,“ erklärt Professor Dr. Thorsten Reusch. Der Meeresbiologe am GEOMAR Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung Kiel und Projektleiter im SFB 1182 ist Mitautor der Veröffentlichung. „Durch eine Ganzgenom-Resequenzierung von Individuen aus fünf verschiedenen einheimischen und invasiven Populationen konnten wir die Invasionsrouten und die demografische Geschichte von mindestens zwei Invasionsereignissen rekonstruieren.“
Die Forschenden fanden für jede der verschiedenen Mnemiopsis-Invasionen unterschiedliche Verläufe. Dabei war die genetische Vielfalt der eingewanderten im Vergleich zu den einheimischen Populationen aus dem Nordwestatlantik teils ähnlich, teils erhöht und teils verringert. Dies legt nahe, dass die genetische Vielfalt allein nicht der Hauptfaktor für den Invasionserfolg dieser Art ist. Stattdessen ergab die Resequenzierung des gesamten Genoms, dass wiederholte Einschleppungen zur Ausbreitung der Quallenart beigetragen haben könnten. Zudem kann die pure Größe einer Population ihren Erfolg steigern – etwa, wenn nach der Einwanderung keine Fressfeinde ihrem Wachstum entgegenwirken.
„Unsere Daten deuten darauf hin, dass die Nordsee trotz internationaler Konventionen zur Eindämmung der Einschleppung von Arten immer wieder von Mnemiopsis heimgesucht wird. Das Aufdecken dieses zeitlichen Zusammenhangs ist wichtig, um das aktuelle Invasionsrisiko von Gebieten zu verstehen und die Einschleppung von Arten langfristig zu stoppen“, so Dr. Cornelia Jaspers abschließend.
Originalpublikation:
Jaspers, C., Ehrlich, M., Martin Pujolar, J., Künzel, S., Bayer, T., Limborg, M.T., Lombard, F., Browne, W.E., Stefanova, K. Reusch, T.B.H. (2021): Invasion genomics uncover contrasting scenarios of genetic diversity in a widespread marine invader. Proceedings of the National Academy of Sciences (PNAS), 118 (51) e2116211118; doi: 10.1073/pnas.2116211118

22.12.2021, Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei (IGB)
Darum schwimmen Fische die La-Ola-Welle
Tausende Fische bewegen sich wie eine riesige La-Ola-Welle im Wasser, tauchen ab und kommen bis zu zwei Minuten lang immer wieder an die Oberfläche zurück. Was Menschenmassen im Fußballstadion zum Spaß ausführen, hat bei den Fischen einen ernsten Grund: Nicht von Vögeln gefressen zu werden. Ein Team unter der Leitung des Exzellenzclusters „Science of Intelligence“ der Humboldt-Universität zu Berlin, der Technischen Universität Berlin und des Leibniz-Instituts für Gewässerökologie und Binnenfischerei (IGB) hat nun herausgefunden, dass die von winzigen Fischen in Mexiko kollektiv erzeugten La-Ola-Wellen sowohl die Angriffslust der Raubvögel als auch deren Jagderfolg verringern.
Die Quellen von Baños del Azufre, in der Nähe der mexikanischen Stadt Teapa, sind ein unwirtlicher Lebensraum. Da es sich um vulkanische Quellen handelt, enthält das Wasser viel giftigen Schwefelwasserstoff und sehr wenig Sauerstoff. Nur speziell angepasste Fische wie der Schwefelmolly (Pocilia sulphuraria) können dort überleben.
Schwarmverhalten bei Vogelangriff ähnelt La-Ola-Welle:
Doch das Wasser ist nicht die einzige Herausforderung, mit der diese Fische fertig werden müssen. Während Schwefelmollys die meiste Zeit nahe der Wasseroberfläche verweilen, um zu atmen, werden sie von vielen verschiedenen Vogelarten angegriffen. Doch diese zwei Zentimeter kleinen Fische sind gewappnet; sie treten in großen Schwärmen auf, die oft mehr als 100.000 Individuen umfassen. Wenn sich ein Vogel nähert oder angreift, reagieren die Fische gemeinsam, indem sie gestaffelt abtauchen, wobei jeder Fisch mit seinem Schwanz die Wasseroberfläche berührt. Aus der Ferne sieht es so aus, als würde der Schwarm auffällige Wellen erzeugen, die denen ähneln, die zum ersten Mal während der Fußballweltmeisterschaft 1986 in Mexiko in Fußballstadien zu sehen waren – und seitdem als „La-Ola-Wellen“ bekannt sind. Im Englischen werden sie auch „Mexican waves“ genannt.
Interessant ist, dass die Fische diese Wellen mehrmals hintereinander ausführen, manchmal bis zu 2 Minuten lang. Das Berliner Forschungsteam untersuchte mit mexikanischen Kolleg*innen von der Universität Tabasco, ob diese Wellenbewegung einen Einfluss auf das Verhalten der Vögel hat, die die Fische jagen.
Vögel verzögern ihren Angriff und sind weniger erfolgreich:
Und tatsächlich fanden die Forschenden heraus, dass Eisvögel (Chloroceryle americana) umso länger mit einem erneuten Angriff warteten, je mehr Wellen sie nach ihrem ersten Angriff erlebten. „Manchmal verließen die Vögel sogar den Ort des Geschehens, bevor sie zum nächsten Angriff übergingen“, erläutert Carolina Doran, eine Autorin der Studie.
Jedoch lösen nicht alle angreifenden Vogelarten bei den Fischen diese wiederholten Wellen aus. Der Schwefeltyrann (Pitangus sulphuratus) greift nämlich auf eine andere Art an als der Eisvogel, der mit seinem ganzen Körper ins Wasser eintaucht. Der Schwefeltyrann steckt nur seinen Schnabel ins Wasser und verursacht so keine so große Störung an der Wasseroberfläche. Die Angriffe des Schwefeltyrannen führen dazu, dass die Fische nur eine einzige Welle erzeugen, was es den Vögeln ermöglicht, ihre Angriffe immer wieder und mit sehr hoher Frequenz zu wiederholen.
Diese Beobachtung veranlasste die Forschenden dazu, die Wirkung von Wellen auf Schwefeltyrannen ebenfalls zu untersuchen. Sie lösten wiederholte Fischwellen aus, wenn Schwefeltyrannen ihre Jagd begannen, indem sie gezielt kleine Gegenstände ins Wasser einwarfen. Wenn sie mit mehreren Wellen konfrontiert wurden, verzögerten die Schwefeltyrannen ihre Angriffe, wie es Eisvögel tun. Außerdem sank ihr Angriffserfolg und sie wichen eher auf andere Flussabschnitte aus.
Mehr als nur ein Fluchtreflex: Die Welle soll Verwirrung stiften und könnte auch ein Signal für den Vogel sein, dass er entdeckt worden ist:
Dass Fische abtauchen, um Vögeln zu entkommen, ist ein häufig beobachtetes Phänomen, aber das wiederholte Abtauchen, selbst wenn der angreifende Vogel nicht in der Nähe ist, ist einzigartig: „Da die beobachteten Wellen auffällig, wiederholt und regelmäßig waren und die Intervalle zwischen den einzelnen Wellen immer ähnlich lang waren, egal wie oft die Fische ihre Wellenbewegung wiederholten, gehen wir davon aus, dass die Wellenbewegungen mehr als eine reine Fluchtreaktion sind“, erklärt Dr. David Bierbach, ein Autor der Studie.
Die Autor*innen vermuten, dass die Wellen dazu dienen könnten, den angreifenden Vogel zu verwirren, insbesondere wenn die Wellen vor dem Vogel „weglaufen“.
Aber das ist vielleicht nicht der einzige Grund: Die Wellenbewegung könnte sich im Zuge der Evolution als ein Signal der Fische an die Vögel entwickelt haben, von dem sowohl die Fische als auch die Vögel profitieren. Vögel können Zeit und Energie sparen, wenn sie den Fischschwarm in Wellenbewegung nicht angreifen, da ihre Erfolgsaussichten gering sind. Für die Fische wiederum ist es von Vorteil, ein Signal zu geben, wenn sie einen Räuber entdecken, denn der Räuber wird daraufhin woanders jagen. „Eine solche Win-win-Situation ist notwendig, damit sich ein kollektives Signal zwischen Beute- und Räuberarten entwickeln kann“, erklärt Professor Jens Krause, ein Autor der Studie. „Letztendlich müssen wir uns diese Systeme genauer ansehen, um zu verstehen, wie sich kollektive Verhaltensweisen wie ein Wahrnehmungssignal wirklich entwickelt haben“, ergänzt Juliane Lukas, eine Autorin der Studie.
In einem nächsten Schritt wollen die Forschenden die offene Frage beantworten, wie viele einzelne Fische an den Wellen teilnehmen müssen, um den Effekt der Verzögerung von Angriffen und der Verringerung des Angriffserfolgs zu erzielen.
Originalpublikation:
DOI:https://doi.org/10.1016/j.cub.2021.11.068

23.12.2021, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn
Der erste Riese der Erde
Ein zwei Meter langer Schädel, eine Gesamtkörperlänge von 17 Metern, ein Gewicht von 45 Tonnen, Flossen, die das Meer durchkämmen – was nach einem Pottwal klingt, ist ein Reptil und lebte vor rund 250 Millionen Jahren. Über dieses erste Riesentier, das die Evolution hervorgebracht hat, berichtet jetzt ein internationales Forscherteam unter der Leitung der Universitäten Bonn und Mainz sowie der Claremont Colleges und des Natural History Museum of Los Angeles County. Die in der Fachzeitschrift Science veröffentlichte Studie zeigt: Die Fischsaurier entwickelten sich in nur drei Millionen Jahren zu Giganten des Urmeers, viel schneller als die Größenevolution der heutigen Wale vonstattenging.
Während die Dinosaurier das Land beherrschten, dominierten Ichthyosaurier und andere Meeresreptilien die Wellen. Fast während des gesamten Zeitalters der Dinosaurier schwammen sie in den Ozeanen und hatten mit ihren Flossen und hydrodynamischen Körperformen bereits eine große Ähnlichkeit zu den heutigen Fischen und Walen.
Ichthyosaurier stammen von einer bisher unbekannten Gruppe landlebender Reptilien ab und waren selbst luftatmend. „Seit den ersten Skelettfunden in Deutschland und Südengland vor mehr als 250 Jahren gehörten diese ,Fischsaurier‘ zu den ersten großen fossilen Reptilien, die der Wissenschaft bekannt waren, und sie haben seither die Phantasie der Menschen beflügelt“, sagt der Erstautor Prof. Dr. Martin Sander vom Institut für Paläontologie der Universität Bonn und Gastwissenschaftler am Dinosaurier-Institut des Natural History Museum (NHM) of Los Angeles County.
Er und seine Kolleginnen und Kollegen arbeiten seit 30 Jahren regelmäßig in einer Gesteinseinheit namens Fossil Hill Member in den Augusta Mountains in Nevada (USA) – denn das Gebirge verbindet die Gegenwart mit den alten Ozeanen der Trias vor 247,2 bis 237 Millionen Jahren. Auch kamen dort 1998 die ersten Reste des nun beschriebenen neuen Riesentiers zutage, zunächst in Form eines Teils der Wirbelsäule.
„Die Bedeutung des Fundes war lange nicht ersichtlich, da nur einige wenige Wirbel am Rande der Schlucht freigelegt wurden“, erzählt Sander. „Die Anatomie der Wirbel ließ jedoch vermuten, dass das Vorderende des Tieres noch in den Felsen verborgen sein könnte.“ An einem Septembertag im Jahr 2011 überprüfte das Team diese Vermutung – und fand bei Ausgrabungen den gut erhaltenen Schädel, die Vorderflossen und den Brustbereich. Der zutage gekommene Riese erhielt den Namen Cymbospondylus youngorum, wobei sich der zweite Teil des Namens auf eine örtliche Brauerei bezieht.
Anatomische Beschreibung des Tiers
Was tun mit dem imposanten Fund aus lange vergangenen Zeiten? Zunächst galt es, das Skelett mit traditionellen paläontologischen Methoden anatomisch zu beschreiben und einzugrenzen, wann das Tier gelebt hatte. Um herauszufinden, wie sich die Fischsaurier zu einer solchen Größe entwickelten, stellten die Forschenden umfangreiche Daten aus der Literatur zusammen und nutzten diese als Grundlage für rechnerische Analysen. Das Ergebnis: Der neue Fischsaurier lebte in der mittleren Trias und war mit einer Länge von mehr als 17 Metern so groß wie ein Pottwal und damit das größte bisher entdeckte Tier aus dieser Zeit – ob an Land oder im Meer. „Soweit wir wissen, war es sogar das erste riesige Lebewesen, das jemals auf der Erde gelebt hat“, sagt Sander. Die genaueren Analysen ergaben, dass C. youngorum vor 246 Millionen Jahren lebte – also etwa drei Millionen Jahre, nachdem die ersten Ichthyosaurier von Land- zu Wasserreptilien geworden waren. Auch wenn es sich nach unserem Vorstellungsvermögen lang anhört: „Das ist eine erstaunlich kurze Zeit, um so groß zu werden“, betont Sander.
Computermodelle zur Rekonstruktion des Ökosystems
Die neuen Erkenntnisse warfen damit auch eine neue Frage auf: Wie konnte sich unter den Fischsauriern eine Art so schnell zu einem derartigen Riesen entwickeln? Um das herauszufinden, stellte das Team mithilfe von Modellierungen das damalige Ökosystem nach. „Ein ziemlich einzigartiger Aspekt dieses Projekts ist der integrative Charakter unseres Ansatzes“, sagt Letztautor Prof. Dr. Lars Schmitz von den Claremont Colleges und Gastwissenschaftler am Dinosaurier-Institut des NHM. „Nachdem wir die Anatomie des Riesenschädels im Detail beschrieben und so verstanden hatten, wie dieses Tier mit anderen Ichthyosauriern verwandt ist, wollten wir auch die evolutionären Muster der Körpergrößen von Ichthyosauriern und Walen besser verstehen. Dazu mussten wir herausfinden, wie das im Fossil Hill Member erhaltene fossile Ökosystem funktioniert haben könnte.“
Mithilfe ausgeklügelter Computermodelle untersuchten die Autorinnen und Autoren also die wahrscheinliche Energie, die durch das Nahrungsnetz der Fossil Hill-Lebensgemeinschaft floss, indem sie die Umwelt anhand von Daten nachstellten. Sie fanden heraus, dass die marinen Nahrungsnetze in der Lage waren, einige weitere kolossale fisch- und fleischfressende Ichthyosaurier zu ernähren.
„Es war sehr spannend, die ökologische Funktionsweise dieses Nahrungsnetzes aus der Modellierung heraus zu entdecken“, sagt Prof. Dr. Eva Maria Griebeler von der Universität Mainz. Sie und ihr Team führten die ökologischen Modellierungen federführend durch. Ihre Vermutung: „Aufgrund ihrer Größe und des daraus resultierenden Energiebedarfs muss die Dichte der größten Ichthyosaurier aus der Fossil Hill-Lebensgemeinschaft, einschließlich C. youngourum, wesentlich geringer gewesen sein, als unsere Zählung im Gelände vermuten lässt.“
Moderne Wale entwickelten sich bedeutend langsamer
Die Forschenden fanden heraus, dass sich zwar sowohl Wale als auch Ichthyosaurier zu Riesentieren entwickelten, dass aber diese Entwicklung in beiden Gruppen unterschiedlich verlaufen ist. Laut Schmitz „zeigen die Evolutionsmodelle sehr deutlich dass die Ichthyosaurier einen anfänglichen Größenboom hatten und schon früh in ihrer Evolutionsgeschichte zu Giganten wurden, während Wale viel länger brauchten, um ihre maximale Größe zu erreichen.“ Der Grund: Ichthyosaurier scheinen von einem Überfluss an aalähnlichen Conodonten sowie einer Vielzahl von Ammoniten profitiert zu haben – schalentragende Verwandte der modernen Tintenfische, insbesondere des Nautilus. Die heute ausgestorbenen Ammoniten füllten die ökologische Lücke nach dem Massenaussterben am Ende des Perms und fanden hervorragende Lebensbedingungen vor. „Wir nehmen an, dass sich die Ichthyosaurier auch derart rasant entwickeln konnten, weil sie als erste größere Lebewesen die Weltmeere bevölkerten und einem geringeren Konkurrenzkampf ausgesetzt waren“, sagt Martin Sander.
Dagegen waren für die Größenentwicklung der Wale bestimmte Arten von Plankton eine wichtige Triebkraft. Außerdem entwickelten sich die verschiedenen Arten von Walen und Delfinen unterschiedlich, verbunden mit einer Spezialisierung der Ernährungsweise. Bartenwale verloren zum Beispiel entsprechend ihre Zähne, während die Zahnwale sie behielten. Fest steht: Obwohl ihre evolutionären Wege unterschiedlich waren, mussten sowohl Wale als auch Ichthyosaurier Nischen in der Nahrungskette ausnutzen, um wirklich groß zu werden. Die Ergebnisse zeigen somit auch, wie sich marine Ökosysteme aufbauen und auf abiotische Veränderungen wie Klima, Atmosphäre oder Wassergegebenheiten reagieren können.
„Diese Entdeckung und die Ergebnisse unserer Studie verdeutlichen, wie sich verschiedene Gruppen mariner Tetrapoden unter einigermaßen ähnlichen Umständen, aber mit überraschend unterschiedlicher Geschwindigkeit zu Körpergrößen epischen Ausmaßes entwickelt haben“, sagt Dr. Jorge Velez-Juarbe, Associate Curator of Mammalogy (Marine Mammals) am Natural History Museum. „Mit dem Datensatz, den wir zusammengestellt haben, und den getesteten Analysemethoden können wir in Zukunft auch über die Einbeziehung anderer Gruppen sekundär aquatischer Wirbeltiere nachdenken, um diesen Aspekt ihrer Evolutionsgeschichte zu verstehen.“
Auf ein Bier – Wie der Cymbospondylus youngorum zu seinem Namen kam
Das neu entdeckte Riesentier ist nach einer Brauerei benannt. Der Grund: Das Sponsoring der Feldarbeit übernahm die Great Basin Brewery in Reno (Nevada), die von Tom und Bonda Young betrieben wird. Auf den Flaschen des beliebtesten Produkts der Brauerei ist ein Ichthyosaurier abgebildet.
Wo man Cymbospondylus youngorum besuchen kann
C. youngorum wird dauerhaft im Natural History Museum of Los Angeles County untergebracht, wo er derzeit zu sehen ist. Weitere Informationen: https://NHM.ORG/ichthyosaur
Darüber hinaus wird eine Kopie des Schädels demnächst im Goldfuß-Museum der Universität Bonn ausgestellt.
Originalpublikation:
P. Martin Sander, Eva Maria Griebeler, Nicole Klein, Jorge Velez Juarbe, Tanja Wintrich, Liam J. Revell, and Lars Schmitz: Early giant reveals faster evolution of large size in ichthyosaurs than in cetaceans. Science, https://doi.org/10.1126/science.abf5787

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