Neues aus Wissenschaft und Naturschutz

06.07.2021, Helmholtz-Zentrum Hereon
Die Zukunft des Kabeljaus verstehen
Die Fischerei legt Fangmengen des beliebten Speisefischs ein Jahr im Voraus fest. Langfristige Einflüsse wie veränderte Wassertemperaturen werden dabei bisher nicht berücksichtigt. In einem internationalen Projekt haben Forscher vom Helmholtz-Zentrum Hereon jetzt ein Rechenmodell entwickelt, das die Zukunft des Kabeljaus erstmals ganze zehn Jahre im Voraus abschätzen kann – und dabei sowohl die Fischerei als auch das Klima berücksichtigt. Der Fischereiwirtschaft steht damit ein ganz neues Planungswerkzeug zur Verfügung. Die Studie ist bei Nature Communications Earth and Environment erschienen.
Die Zukunft der Kabeljau-Bestände in der Nordsee und in der Barentssee lässt sich künftig möglicherweise deutlich besser vorhersagen als bisher. Das ist das Ergebnis eines internationalen Forschungsprojektes unter der Leitung des Helmholtz-Zentrums Hereon. Dem Team ist es erstmals gelungen, die Entwicklung der Bestände für zehn Jahre im Voraus vorherzusagen und dabei sowohl die Veränderungen durch den Klimawandel als auch die Fischerei zu berücksichtigen. Traditionell geben Fischereiexperten für etwa ein Jahr im Voraus Fangempfehlungen, auf deren Grundlage die Fischereiquoten international verhandelt und festgesetzt werden. Dazu wird zunächst die Größe der aktuellen Kabeljau-Bestände abgeschätzt und anschließend berechnet, wie viel Kabeljau im kommenden Jahr gefangen werden kann, um die Bestände optimal zu nutzen und nicht zu gefährden. Die klimatischen Veränderungen von Wassertemperatur, Zirkulation und Vermischung, die einen entscheidenden Einfluss auf die Vermehrung des Kabeljaus haben, gehen in diese Vorhersage nicht ein, so dass sich die Entwicklung der Bestände nur kurzfristig vorhersagen lässt.
Warme Nordsee macht Stress
Wie die Experten um die Klima-Modellierer Vimal Koul und Corinna Schrum vom Hereon-Institut für Küstensysteme – Analyse und Modellierung jetzt im Fachmagazin Nature Communications Earth and Environment schreiben, haben sie in ihren Berechnungen erstmals die Temperatur berücksichtigt. Für die Nordsee sagt die Klimavorhersage weiterhin Temperaturen auf hohem Niveau voraus, so dass sich die Kabeljau-Bestände kaum erholen oder frühere Größen erreichen werden. Insofern ist von gleichbleibend geringen Fangmengen auszugehen. Besser sieht es für die Barentssee aus: Hier lassen sich Bestände nachhaltig bewirtschaften.
Für die Forscher bestand die Herausforderung darin, dass Klimamodelle nicht ausrechnen konnten, wie viel Fisch es künftig in den Meeren gibt. Sie lieferten lediglich Informationen über die zu erwartenden Temperaturen. „Wir mussten also zunächst ein Modell entwickeln, das die Temperatur zu den Fischmengen in Beziehung setzt“, sagt Erstautor der Studie Vimal Koul. Berücksichtigt wurde dabei unter anderem die Meerestemperatur im Nordatlantik. Anschließend konnten die Forscher ihr Vorhersagemodell laufen lassen. Das Modell startet mit den heutigen Bedingungen – den aktuellen Temperaturen und dem aktuellen Kohlendioxid-Gehalt der Atmosphäre – und kann dann berechnen, wie sich die Situation mit steigenden Kohlendioxid-Konzentrationen verhält. Die künftigen Temperaturen, die es berechnet, werden dann in die zu erwartenden Fischmengen und Bestandsgrößen übersetzt. Um zu prüfen, wie zuverlässig das Modell arbeitet, wurde es zunächst mit realen Fischdaten von den 1960er-Jahren bis heute verglichen. Wie sich zeigte, war es in der Lage, für die Zehnjahreszeiträume seit den frühen 1960ern die Fischbestände korrekt abzuschätzen. Insofern können die Forscher um Vimal Koul davon ausgehen, dass auch der aktuelle Blick in die kommenden zehn Jahre stimmig ist.
Intensität der Fischerei berücksichtigt
Interessant an der Studie ist auch, dass das Team aus Forschenden der Klimamodellierung, Fischereibiologie und Ozeanographie vier verschiedene Fischerei-Szenarien berücksichtigt. Damit konnten die Forscher bestimmen, wie es den Kabeljau-Beständen gehen wird, wenn sie unterschiedlich stark befischt werden – von intensiv bis nachhaltig. Insofern sind die Ergebnisse der aktuellen Studie sehr praxisnah. „Die Zehnjahresschätzungen werden der Fischereiwirtschaft künftig dabei helfen, die Fangmengen besser zu planen – damit die Kabeljaubestände trotz veränderten Klimas nachhaltig und schonend befischt werden“, sagt Koul. Auch könnte die neue Zehnjahresvorhersage Fischereiunternehmen bei der Strategieplanung helfen, indem es eine sichere Grundlage für Investitionen in neue Schiffe oder Verarbeitungsanlagen schafft.
Originalpublikation:
https://doi.org/10.1038/s43247-021-00207-6

06.07.2021, Universität Konstanz
Wie Fische zu ihren Stacheln kamen
Konstanzer Forschende entschlüsseln die genetischen Mechanismen der Bildung von Flossenstacheln bei verschiedenen Fischgruppen
Viele Fischarten haben im Zuge der Evolution Teile ihrer Flossen zu scharfen, nadelförmigen Elementen – sogenannte Flossenstacheln – weiterentwickelt, die dem Schutz der Fische vor Fressfeinden dienen. Derartige Stacheln haben sich unabhängig voneinander in verschiedenen Abstammungslinien entwickelt und werden als eine evolutionäre Triebkraft der Fischvielfalt angesehen. In einer in PNAS veröffentlichten Studie zeigt ein Forscherteam der Universität Konstanz, wie Flossenstacheln aus weichen Flossenstrahlen entstehen und wie sie sich unabhängig voneinander in verschiedenen Fischgruppen entwickeln konnten.
In dem Film „Ein Fisch namens Wanda“ verschlingt Otto, der Schurke des Films, mühelos die Bewohner von Kens Aquarium. Die Realität ist jedoch weitaus ernüchternder, wie ein Fall zeigte: Mindestens ein bedauernswerter Fan des Films hatte die Szene real nachgespielt und musste anschließend in ärztliche Behandlung, weil ihm ein Fisch buchstäblich im Halse steckengeblieben war. Er lernte so eine schmerzhafte Lektion in Ichthyologie (Fischkunde): Einige Fische besitzen spitze Flossenstacheln zu ihrer Verteidigung.
Zwei Typen von Flossenelementen
Tatsächlich findet man bei vielen Fischarten zwei Typen von Flossenelementen: „normale“ weiche Flossenstrahlen, die stumpf und flexibel sind und in erster Linie der Fortbewegung dienen, sowie die genannten Flossenstacheln. Letztere sind spitz und stark verknöchert und dienen hauptsächlich dem Zweck, den Fisch weniger gut essbar zu machen. Flossenstacheln bieten daher einen hohen evolutionären Vorteil. Die mit über 18.000 Vertretern artenreichste Untergruppe der Knochenfische, die sogenannten Acanthomorpha, entwickelten sogar separate „Stachelflossen“, die ausschließlich aus Stacheln bestehen. Daher wird die Entwicklung von Flossenstacheln als wichtiger Faktor des evolutionären Erfolgs und der Vielfalt von Fischen angesehen.
In der in PNAS veröffentlichten Studie zeigt ein Forscherteam der Universität Konstanz unter Leitung von Dr. Joost Woltering, der zusammen mit der Doktorandin und Erstautorin der Studie Rebekka Höch im Labor von Prof. Dr. Axel Meyer arbeitet, wie Flossenstacheln während der Embryonalentwicklung entstehen. Sie klären außerdem auf, wie sich die Stacheln in verschiedenen Abstammungslinien unabhängig voneinander aus ursprünglichen, weichen Flossenstrahlen entwickeln konnten. Die Studie konzentriert sich dabei auf eine Modellart für die Gruppe der Acanthomorpha, den Buntbarsch Astatotilapia burtoni (Burtons Maulbrüter), der gut entwickelte weichstrahlige und stachelige Flossenteile besitzt.
Unterschiedliche Entwicklungsgene für Stacheln und weiche Flossenstrahlen
In einem ersten Schritt bestimmten die Forschenden zunächst die genetischen Profile von Flossen mit weichen Flossenstrahlen und solchen mit Stacheln während der Embryonalentwicklung. „Durch diese Experimente wurde deutlich, dass eine Reihe von Genen, die wir bereits aus der Flossen- und Gliedmaßenentwicklung kannten, in Stacheln und den weichen Flossenstrahlen unterschiedlich aktiviert werden“, berichtet Rebekka Höch. Diese Gene entsprechen sogenannten Master-Regulator-Genen und sind dafür bekannt, die Form und Struktur des Skeletts entlang der Längsachse des Körpers und in den Gliedmaßen zu bestimmen. Bei den Fischflossen scheinen sie einen genetischen Code zur Verfügung zu stellen, der festlegt, ob sich die entstehenden Flossenelemente wie ein Stachel oder wie ein weicher Flossenstrahl entwickeln werden.
Weiche Flossenstrahlen können sich in Stacheln umwandeln und umgekehrt
Als Nächstes identifizierten die Forschenden genetische Regulationswege, die diese Master-Regulator-Gene einschalten und deren Aktivität an verschiedenen Positionen in den Flossen bestimmen. „Mithilfe chemischer Werkzeuge, sogenannter Inhibitoren und Aktivatoren, sowie der ‚Genschere‘ CRSIPR/Cas9 konnten wir die Rolle dieser Regulationswege untersuchen und experimentell testen, wie stachelige und weichstrahlige Flossenbereiche während der Entwicklung entstehen“, sagt Joost Woltering, Assistenzprofessor im Fachbereich Biologie der Universität Konstanz und Letztautor der Studie.
Durch ihre Experimente konnten die Forschenden die Anzahl der Stacheln sowie weichen Flossenstrahlen in den Flossen verändern. Dieser Effekt war am stärksten, wenn experimentell in den sogenannten BMP („bone morphogenetic protein“) Signalweg eingegriffen wurde. „Wir beobachteten nicht nur Veränderungen in der Aktivierung der Master-Regulator-Gene, sondern auch sogenannte homöotischen Transformationen, bei denen einige weiche Flossenstrahlen zu Stacheln wurden oder umgekehrt Stacheln zu weichen Flossenstrahlen“, erklärt Joost Woltering.
Eine weitere Beobachtung war, dass sich zusätzlich zu den Flossenelementen auch die dazugehörige Flossenfärbung änderte. „Männliche Buntbarsche haben leuchtend gelbe Flecken auf ihren Flossen, aber diese sind nur auf den weichstrahligen Abschnitten vorhanden. Wir konnten beobachten, dass die Flossen dort, wo sich ein weicher Flossenstrahl in einen Stachel umgewandelt hatte, auch die gelben Flecken verloren hatten“, sagt Joost Woltering. Diese Beobachtung zeigt, dass die Stacheln und weichen Flossenstrahlen bei den Acanthomorpha integrierte Teile eines größeren Entwicklungsmoduls sind, das eine ganze Reihe von sichtbaren Merkmalen der Flossen bestimmt.
Dasselbe Prinzip bei verschiedenen Fischgruppen
Beim Zusammensetzen des Puzzles erkannten die Forschenden, dass bei der Evolution der Stachelflossen ein hoch „konserviertes“ (sprich im Laufe der Evolution weitgehend unverändertes) System zur Musterbildung „zweckentfremdet“ wurde. „Tatsächlich ist der genetische Code, der den Flossenbereich bestimmt, in dem Stacheln entstehen werden, auch in Flossen aktiv, die keine Stacheln haben. Dies deutet auf ein ursprüngliches genetisches Muster hin, das für die Bildung von Stacheln umfunktioniert wurde“, erklärt Rebekka Höch.
Mit dieser neugewonnenen Erkenntnis im Hinterkopf machten sich die Autoren daran, die Flossenmusterung bei Welsen zu untersuchen, einer anderen Gruppe von Fischen, deren Mitglieder im Laufe der Evolution ebenfalls Stacheln in den Flossen entwickelt haben – und zwar unabhängig von den Acanthomorpha. Tatsächlich stimmte der beim Buntbarsch identifizierte genetische Code für die Stacheln mit dem der Welsstacheln überein. Obwohl es einige Unterschiede zwischen den verschiedenen „stacheligen Fischarten“ gibt, deutet dies insgesamt auf die Existenz eines hoch konservierten Musters hin, das zur Bildung von Stacheln herangezogen wird, sofern dies durch evolutionäre Selektion begünstigt wird.
Die nächsten Schritte
In zukünftigen Forschungsprojekten wird sich das Team nun auf diejenigen Gene konzentrieren, die den identifizierten Stachel- und Flossenstrahl-Kontrollgenen nachgeschaltet sind. Ziel ist es, zu ergründen, wie genau diese die Flossenmorphologie verändern, indem sie Verknöcherung und zelluläre Wachstumswege regulieren. „Letztendlich wollen wir ein besseres Verständnis davon gewinnen, wie neue anatomische Strukturen entstehen, die bestimmte Arten erfolgreicher als andere machen, und natürlich, wie dies zu der unglaublichen evolutionären Vielfalt der Fische beigetragen hat“, schließt Joost Woltering.
Originalpublikation:
Rebekka Höch, Ralf F. Schneider, Alison Kickuth, Axel Meyer & Joost M. Woltering (2021) Spiny and soft-rayed fin domains in acanthomorph fish are established through a BMP-gremlin-shh signaling network. PNAS; DOI: 10.1073/pnas.2101783118

07.07.2021, Deutsche Wildtier Stiftung
Streuobstwiesen sind Naschgärten und Kulturerbe
Deutsche Wildtier Stiftung: Die gefährdeten Kulturlandschaften sind Lebensraum für über 5000 Tier- und Pflanzenarten
Streuobstwiesen duften nach Omas Apfelkuchen. Sie spenden Schatten in der Sommerhitze. Nirgendwo schmecken die Birnen süßer, nirgendwo hat der Obstbrand mehr Umdrehungen. „Pohls Schlotterapfel“ oder „Grumkower Butterbirne“ heißen typisch alte Sorten, die nicht im Supermarkt, sondern auf Obst-Hoffesten verkauft werden. Streuobstwiesen sind Naschgärten für Mensch und Tier – und Kulturerbe. Die Auszeichnung als „Immaterielles Kulturerbe“ wurde im Frühjahr dieses Jahres von den Kulturministern der Länder – der Kulturministerkonferenz – bestätigt.
Die Streuobstwiese auf Gut Klepelshagen in Mecklenburg-Vorpommern ist etwa 100 Jahre alt. Wirtschaftlich ist die Wiese nicht – für Naturschützer ist sie aber unbezahlbar! „Unsere Streuobstwiese ist Lebensraum für unzählige Tier- und Pflanzenarten. Mehr Biodiversität geht bei uns nicht“, sagt Michael Tetzlaff, Landschaftspfleger der Deutschen Wildtier Stiftung auf Gut Klepelshagen in Mecklenburg-Vorpommern. Experten haben errechnet, dass sich bis zu 5000 verschiedene Tier- und Pflanzenarten auf einer einzigen Streuobstwiese tummeln können.
Auf der Klepelshagener Streuobstwiese wachsen 250 Apfel-, Pflaumen-, Birnen- und Kirschbäume. In den Höhlen der knorrigen Bäume wohnen Grünspecht und Gartenrotschwanz, im Totholz sagen sich Balkenschröter und Ohrwurm „Gute Nacht“. „Auch die Siebenschläfer sind gern auf unserer Streuobstwiese, Fledermäuse gehen hier auf Mückenjagd und Igel suchen am Fuß der Obstbäume nach Regenwürmern“, sagt Michael Tetzlaff. Schmetterlinge wie der Perlmuttfalter oder der Admiral, die sich andernorts auf dem Rückzug befinden, naschen mit Hingabe das Fallobst auf der Wiese. Seltene Wildbienenarten wurden um die Wiese herum entdeckt – etwa die Wollfüßige Blattschneiderbiene (Megachile lagopoda) oder die Felsen-Mauerbiene (Osmia mustelina). „Beide Arten sind hocheffektive Bestäuber“, sagt Tetzlaff. Heimische Wiesenpflanzen wie Kerbel, Schafgarbe, Flockenblume oder Rotklee locken Insekten aller Couleur an. „Als Naturschützer geht mir das Herz auf, wenn ich im Totholz eines Obstbaumes so seltene Käferarten wie etwa den Eremiten finde“, so der Artenschützer der Deutschen Wildtier Stiftung.
„Früher reichte das Obst einer Streuobstwiese für die gesamte Großfamilie. Heute kauft die Familie das Obst im Supermarkt, denn es gibt kaum noch Wiesen in dieser Form“, bedauert Tetzlaff. Streuobstwiesen sind ein Auslaufmodell – mit ihnen verschwindet ein einzigartiges Element unserer Kulturlandschaft. „Weil sich Streuobstwiesen wirtschaftlich nicht auszahlen, werden sie von ihren Besitzern in der Regel zu ertragsorientierten Plantagen mit niedrigstämmigen Obstsorten umgewandelt, die Geld einbringen“, betont Tetzlaff. Dabei verdienen Streuobstwiesen ein dickes Lob: Neben der Artenvielfalt sichert eine Streuobstwiese, die extensiv – also etwa durch seltenes Mähen – gepflegt wird, kerngesundes Obst. Zudem sind Streuobstwiesen für den Menschen in Zeiten der Monokulturen eine Augenweide in der Landschaft. Michael Tetzlaff sagt: „Streuobstwiesen sind gefährdete Kleinode, die bewahrt werden müssen.“

07.07.2021, Leibniz-Institut zur Analyse des Biodiversitätswandels
Kann die Gefleckte Schnarrschrecke auch in Hamburg wieder heimisch werden?
Die Gefleckte Schnarrschrecke ist in weiten Teilen Deutschlands ausgestorben, so auch in Hamburg. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Leibniz-Instituts zur Analyse des Biodiversitätswandels (LIB) am Standort Hamburg haben die Gründe für den Rückgang einer der seltensten Insektenarten Deutschlands untersucht. Sie stellten fest, dass diese Art unempfindlich gegenüber der Klimaerwärmung ist und gezielte Maßnahmen zum Schutz ihrer Lebensräume ein Comeback ermöglichen könnten.
Die Gefleckte Schnarrschrecke (Bryodemella tuberculata) gehört mit stattlichen vier Zentimetern Länge, leuchtend roten Hinterflügeln und dem charakteristischen Schnarren, das sie im Flug erzeugt, zu den auffälligsten Heuschrecken in Deutschland. Während die Art in weiten Teilen Asiens verbreitet ist, kommt sie in Mitteleuropa äußerst selten vor. Die Studie zum Vorkommen der Schrecke wurde nun in der Fachzeitschrift „Biodiversity and Conservation“ veröffentlicht.
Lara-Sophie Dey, Doktorandin an der Universität Hamburg und Leiterin der Studie, hat 380 Objekte analysiert, die sie selbst gesammelt hat oder die in den vergangenen 150 Jahren in naturkundlichen Museen Europas und Asiens hinterlegt wurden. Sie stellt fest: „Früher war die Gefleckte Schnarrschrecke in Mitteleuropa weit verbreitet. Im Verlauf der letzten 100 Jahre sind jedoch die meisten Populationen ausgestorben.“ Die Art war zum Beispiel in der Lüneburger Heide häufig zu beobachten und wurde auch in Hamburg nachgewiesen, wo genau geht allerdings aus den historischen Museumsdaten nicht hervor.
In den Oberläufen der in den Alpen entspringenden Flüsse Isar und Lech findet die Schnarrschnecke in Deutschland ihre letzten Rückzugsorte. Doch auch dieses Lebensumfeld in den letzten verbliebenen Wildflusslandschaften Deutschlands verändert sich. Haben früher die alljährlichen Hochwasser nach der Schneeschmelze große Bereiche der Talaue durch Abtrag der Vegetation und Umlagerung des Kiesbetts offengehalten, bleibt die reißende Flut inzwischen häufig aus. Oliver Hawlitschek, Laborleiter am Hamburger Standort des Leibniz-Instituts zur Analyse des Biodiversitätswandels (LIB) beobachtet: „Leider führt die Änderung der Abflussdynamik durch die Abführung von Wasser zur Energiegewinnung im Walchenseekraftwerk seit Jahrzehnten zum unerwünschten Aufwuchs von Vegetation auf dem Kiesbett. Dieser für Mitteleuropa fast einzigartige Lebensraum droht dadurch verloren zu gehen.“
Die Forscherinnen und Forscher untersuchten nun, ob dieser Rückgang vornehmlich eine Reaktion auf den Klimawandel ist oder andere Ursachen hat. Dazu haben sie Computermodelle der ökologischen Nische der Gefleckten Schnarrschrecke berechnet. Wäre der Klimawandel die Hauptursache des Aussterbens, wären gezielte Schutzmaßnahmen für einzelne Populationen nur bedingt effektiv.
Es zeigt sich aber: Die Art war in Mitteleuropa in Gebieten ausgestorben, die nahezu optimale klimatische Bedingungen boten, während sie in Teilen Asiens auch in weitaus weniger günstigen Klimazonen überleben kann. Martin Husemann, Heuschreckenspezialist und Kurator für Insekten am LIB-Standort Hamburg, schließt daraus: „Wir stellen fest, dass das Aussterben einzelner Populationen der Schnarrschrecke stets lokale Lebensraumveränderungen zur Ursache hatte. Daraus schließen wir, dass gezielte Schutzmaßnahmen für diese Populationen auch in Zeiten des beschleunigten Klimawandels weiter sehr wichtig sind.“
Eine weitere gute Nachricht: Durch Naturschutzmaßnahmen haben einstige Lebensräume der Gefleckten Schnarrschrecke, so zum Beispiel die Lüneburger Heide, ihren ursprünglichen Zustand wiedererlangt. Vielleicht kann diese Heuschrecke, die zu Deutschlands seltensten Insektenarten gehört, in naher Zukunft auch dort wieder heimisch werden.
Originalpublikation:
Dey, LS., Simões, M.V.P., Hawlitschek, O., Sergeev M.G., Xu S.Q., Lkhagvasuren D., Husemann M. (2021) Analysis of geographic centrality and genetic diversity in the declining grasshopper species Bryodemella tuberculata (Orthoptera: Oedipodinae). Biodiversity and Conservation. https://doi.org/10.1007/s10531-021-02221-8

07.07.2021, Universität Bielefeld
Große Fischmännchen haben Vorteile bei der Fortpflanzung
Bei Moskitofischen aus der Gattung Gambusia sind die Männchen kleiner als die Weibchen – manchmal nur halb so groß. Biolog*innen sind bisher davon ausgegangen, dass kleinere Männchen zumindest teilweise Vorteile bei der Fortpflanzung haben. Forschende des Transregio-Sonderforschungsbereichs NC³ der Universität Bielefeld haben nun in einer Übersichtsarbeit nachgewiesen, dass sich größere Moskitofischmännchen jedoch besser fortpflanzen können: Sie können sich zum Beispiel besser gegen Rivalen durchsetzen, produzieren mehr Spermien und werden von den Weibchen bevorzugt. Ihre Ergebnisse stellen die Wissenschaftler*innen heute (07.07.2021) in der Fachzeitschrift Journal of Animal Ecology vor.
Moskitofische sind kleine, farblich unscheinbare Fische der Gattung Gambusia, die etwa 45 Arten umfasst. Während die Weibchen bis zu sieben Zentimeter groß werden, sind die Männchen oft nur knapp vier Zentimeter lang, ihre Größe variiert jedoch. Diese Fische werden deswegen häufig herangezogen, um Selektion nach Körpergröße zu erforschen. „Obwohl schon in vielen Studien untersucht wurde, ob die Körpergröße der Männchen Vorteile bei der Fortpflanzung bringt, sind die Ergebnisse widersprüchlich“, sagt der Biologe Dr. Alfredo Sánchez-Tójar, der sich am Transregio-Sonderforschungsbereich NC³ (SFB-TRR 212) in einem Teilprojekt mit der Verhaltensökologie individualisierter Nischen vor dem Hintergrund von Metaanalysen beschäftigt (Teilprojekt D05).
Studien zeigen zwar, dass größere Männchen ihre Rivalen besser vertreiben können und Weibchen bei der Paarung größere Männchen bevorzugen. Allerdings umgehen männliche Moskitofische in der Regel die Kooperation des Weibchens und erzwingen die Besamung. Weil kleine Männchen wendiger sind und länger unentdeckt bleiben, sind sie in solchen Paarungstechniken erfolgreicher.
Für ihre Übersichtsarbeit haben die NC³ -Wissenschaftler*innen 36 Einzelstudien ausgewertet, in denen der Zusammenhang zwischen der Körpergröße männlicher Gambusen und ihrer Fortpflanzungsleistung untersucht wurde. „Wir zeigen mit unserer Arbeit, dass sich größere Gambusen-Männchen tatsächlich besser fortpflanzen können als kleinere Exemplare. Dieser Zusammenhang ist überraschend – wir sind davon ausgegangen, dass die Vorteile kleiner Männchen eher überwiegen“, sagt Sánchez-Tójar.
„Die Metaanalyse fasst langjährige Forschung zu diesem Thema zusammen und ermöglicht Biolog*innen, in Zukunft weitere Fragestellungen zu untersuchen. Solche Übersichtsarbeiten werden immer wichtiger, auch weil die wissenschaftliche Literatur zunehmend anwächst“, sagt Professor Dr. Klaus Reinhold von der Fakultät für Biologie. Er leitet die Forschungsgruppe Evolutionsbiologie sowie das NC³ -Teilprojekt D05. Reinhold und Sánchez-Tójar haben die Übersichtsarbeit gemeinsam mit zwei weiteren Forschenden erstellt: Dr. Nicholas Patrick Moran vom Nationalen Institut für Meeresressourcen (DTU Aqua) an der Technischen Universität Dänemark und Bora Kim vom Konrad-Lorenz-Institut für Vergleichende Verhaltensforschung an der Veterinärmedizinischen Universität Wien. Kim und Moran waren beide zuvor am Sonderforschungsbereich NC³ tätig.
In ihre Metaanalyse haben die Wissenschaftler*innen auch Studien einbezogen, in denen der Zusammenhang zwischen Körpergröße und Fortpflanzungsleistung nicht Teil der Forschungsfrage war, aber dennoch erhoben wurde. Ihre Hypothesen und Vorgehensweisen haben sich die Forschenden schon im Vorfeld, getrennt von der eigentlichen Analyse, überlegt. „Solche Strategien sind wichtig, damit eine Übersichtsarbeit aussagekräftig wird und die Ergebnisse möglichst unvoreingenommen sind“, sagt Sánchez-Tójar.
Die untersuchten Studien messen die Fortpflanzungsleistung auf unterschiedliche Art und Weise: Erhoben wird zum Beispiel, welche Männchen von weiblichen Gambusen bevorzugt werden, ob die Paarung erfolgreich ist und ob sie zur Vaterschaft führt, oder wie hoch die Quantität und Qualität des Spermas ist. „Unsere Arbeit zeigt, dass der positive Zusammenhang zwischen Fortpflanzungsleistung und Körpergröße in all diesen Bereichen robust ist“, sagt Sánchez-Tójar. Den größten Effekt gibt es bei der Weibchenwahl: Je größer die Männchen sind, desto eher paaren sich die Weibchen mit ihnen. Dieser Effekt verstärkt sich, je mehr Männchen um das Weibchen werben. „Das ist besonders interessant, weil der Einfluss der Weibchenwahl bei Moskitofischen bisher eher vernachlässigt wurde und der Fokus oft auf der erzwungenen Besamung lag“, so Sánchez-Tójar.
Die Wissenschaftler*innen hoffen, mit ihrer Arbeit einen Einfluss auf die zukünftige Forschung zu haben. „Für manche Kategorien der Fortpflanzungsleistung sind die Ergebnisse sehr heterogen. Das hat auch mit dem Design der Studien zu tun. Teilweise ist die experimentelle Umgebung nicht komplex genug, zum Beispiel weil Vegetation fehlt oder Temperaturen und Lichtperioden unrealistisch sind“, sagt Kim, die Erstautorin der Studie. Moran ergänzt: „Die Übersichtsarbeit bildet eine gute Grundlage, um die Forschungsfragen und Methoden zu präzisieren.“
Das Teilprojekt D05 hat das Ziel, solche Übersichtsarbeiten zu den Themen des Transregio-Sonderforschungsbereichs NC³ zu erstellen. NC³ steht für „Niche Choice, Niche Conformance, Niche Construction“ (Nischenwahl, Nischenanpassung, Nischenkonstruktion). Der Sonderforschungsbereich, der an den Universitäten Bielefeld, Münster und Jena angesiedelt ist, untersucht ökologische Nischen auf der individuellen Ebene und verknüpft dazu Verhaltensbiologie, Ökologie und Evolutionsbiologie mit theoretischer Biologie und Philosophie. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) fördert NC³ seit Januar 2018 für zunächst vier Jahre mit rund 8,5 Millionen Euro.
Originalpublikation:
Bora Kim, Nicholas Patrick Moran, Klaus Reinhold, Alfredo Sánchez-Tójar: Male size and reproductive performance in three species of livebearing fishes (Gambusia spp.): a systematic review and meta-analysis. Journal of Animal Ecology, https://doi.org/10.1111/1365-2656.13554, veröffentlicht am 7. Juli 2021.

08.07.2021, Max-Planck-Institut für Ornithologie
Singvögel mögen es süß
Der Mensch erkennt ohne Probleme süß schmeckende Lebensmittel. Vielen fleischfressenden Tieren jedoch fehlt diese Fähigkeit. Ob Vögel als Nachfahren fleischfressender Dinosaurier Süßes erkennen, war bislang unklar. Ein internationales Team um Maude Baldwin vom Max-Planck-Institut für Ornithologie hat nun gezeigt, dass Singvögel unabhängig von der primären Ernährungsweise Süßes erkennen und seit wann und auch wie die Singvögel-Vorfahren den umami Geschmacksrezeptor, der eigentlich auf Herzhaftes reagiert, zum Schmecken von Zucker nutzen. Diese Fähigkeit blieb den Singvögeln im Laufe der Evolution erhalten und beeinflusst die Ernährung von nahezu der Hälfte aller heute lebenden Vögel.
Bitter, salzig, süß, sauer und umami sind die fünf Geschmacksrichtungen, die wir Menschen wahrnehmen. Der Geschmackssinn hat einen enormen Einfluss auf unsere Ernährung — was uns schmeckt, landet oft auf unserem Teller. Dem Rest der Tierwelt geht es nicht anders, denn der Geschmack hilft zuverlässig, Nahrhaftes von Giftigem zu unterscheiden. Aber was schmecken andere Tiere?
Es ist bekannt, dass der Rezeptor für das süße Geschmacksempfinden bei Säugetieren weit verbreitet ist. Vögeln jedoch, die von fleischfressenden Dinosauriern abstammen und sich vor 60 Millionen Jahren im heutigen Australien entwickelt haben, fehlt eine essentielle Untereinheit dieses Rezeptors — vermutlich erkennen die meisten keinen Zucker. Die einzige bekannte Ausnahme sind Kolibris, die ihren umami-Geschmacksrezeptor so umfunktioniert haben, dass dieser auch Kohlenhydrate erkennt.
Aber sind alle anderen Vögel unfähig, Zucker zu schmecken? Ein internationales Team um die Evolutionsbiologinnen Maude Baldwin vom Max-Planck-Institut für Ornithologie und Yasuka Toda von der Meiji University in Japan ging dieser Frage nach.
Zunächst untersuchten die Forscher systematisch die Ernährungsgewohnheiten von Vögeln. Während bekannt ist, dass bestimmte Singvogelfamilien wie Nektar-, Honig- und Türkisvögel regelmäßig große Mengen an Nektar verzehren, fanden Baldwin und Kollegen überdurchschnittlich viele Singvogelarten, die nur gelegentlich Nektar oder Früchte verzehren. „Dies war der erste Hinweis, dass wir uns bei der Suche nach den Ursprüngen des süßen Geschmacksinns auf eine Reihe von Singvögeln konzentrieren sollten und nicht nur auf Nektarspezialisten“, erklärt Dr. Baldwin. In der Tat zeigte sich in Verhaltensexperimenten, dass sowohl ein nektar- als auch ein körnerfressender Singvogel Zuckerwasser gegenüber normalem Wasser bevorzugt.
Die Forschenden fanden heraus, dass die umami-Rezeptoren des nektarspezialisierten Honigfressers auf Zucker reagierten, ebenso wie die von Singvögeln anderer Ernährungsgruppen. Daraus lässt sich schließen, dass Singvögel tatsächlich Süßes schmecken und, wie die Kolibris, den umami-Rezeptor dafür nutzen.
Um die Anfänge dieser Fähigkeit zu bestimmen, rekonstruierten die Forschenden ursprüngliche umami-Rezeptoren an verschiedenen Stellen im Singvogel-Stammbaum. Es zeigte sich, dass die frühen Vorfahren der Singvögel das Zucker-Schmecken entwickelten, noch bevor sie aus Australien auswanderten und sich auf dem ganzen Planeten ausbreiteten. „Wir waren von diesem Ergebnis sehr überrascht. Der süße Geschmacksinn entstand demzufolge sehr früh innerhalb der Singvögel und blieb auch in Arten erhalten, die nicht primär auf zuckerhaltige Nahrung angewiesen sind“, sagt Baldwin.
Neben dem Zeitpunkt der sensorischen Veränderung konnten die Forscher auch deren molekulare Grundlage aufdecken. Sie verglichen die Sequenzen von Rezeptoren, die Zucker erkennen mit solchen, die keinen erkennen. Dadurch identifizierten sie die Veränderungen, die zum Schmecken von Zucker führten. Interessanterweise decken sich diese nur geringfügig mit denen der entfernt verwandten Kolibris, obwohl ähnliche Bereiche im Rezeptor modifiziert wurden. Demzufolge rüsteten beide Vogelgruppen im Laufe der Evolution ihren umami-Geschmacksrezeptor für die Wahrnehmung von Zucker um. Dabei veränderten sich allerdings die Rezeptoren auf unterschiedliche Weise, um ans gleiche Ziel zu kommen.
Auf Grundlage ihrer Ergebnisse vermuten die Wissenschaftler*innen, dass die veränderte Sinneswahrnehmung von Singvögeln weitreichende Auswirkungen auf deren nachfolgende Evolution hatte. In Australien, wo sich Singvögel entwickelten, sind viele verschiedene Zuckerquellen verbreitet, darunter Insektensekrete und Baumsäfte. Womöglich halfen zuckerhaltige Nahrungsquellen den Singvögeln, sich auf andere Kontinente auszubreiten und erfolgreich eine Vielzahl ökologischer Nischen zu besetzen.
Zukünftige Untersuchungen sollen nun entschlüsseln, wie sich das Zucker-Schmecken zusammen mit anderen physiologischen Merkmalen, wie der Verdauung oder dem Stoffwechsel, im Laufe der Evolution entwickelt hat.
Originalpublikation:
Yasuka Toda, Meng-Ching Ko, Qiaoyi Liang, Eliot T. Miller, Alejandro Rico-Guevara, Tomoya Nakagita, Ayano Sakakibara, Kana Uemura, Timothy Sackton, Takashi Hayakawa, Simon Yung Wa Sin, Yoshiro Ishimaru, Takumi Misaka, Pablo Oteiza, James Crall, Scott V. Edwards, William Buttemer, Shuichi Matsumura and Maude W. Baldwin (2021). Early origin of sweet perception in the songbird radiation.

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