Neues aus Wissenschaft und Naturschutz

07.06.2021, Landesbund für Vogelschutz in Bayern (LBV) e. V.
Die Bartgeier kommen
Jeder kann Auswilderung im Livestream mitverfolgen – Vögel zur Vorbereitung in Nürnberg angekommen – Skulptur übergeben
Am 10. Juni 2021 ist es soweit: Dann werden im Nationalpark Berchtesgaden erstmals zwei junge Bartgeier aus spanischer Nachzucht ausgewildert. In Kooperation mit dem bayerischen Naturschutzverband LBV beteiligt sich der Nationalpark damit an einem internationalen Projekt zur Wiederansiedlung des Bartgeiers in den Alpen. Über 100 Jahre nach seiner Ausrottung kehrt der große, aber völlig harmlose Greifvogel wieder zurück in die deutschen Alpen. Interessierte Naturfreunde können die Auswilderung live im Internet verfolgen.
Der Auswilderungstag junger Bartgeier glich in der Vergangenheit in vielen Regionen der Alpen einem Volksfest. „Leider ist es uns aufgrund der aktuellen Corona-Bedingungen nicht möglich, ein großes Fest für alle zu veranstalten“, bedauert Nationalparkleiter Dr. Roland Baier. „Die aktuellen Auflagen erlauben uns leider nur einen sehr kleinen Kreis geladener Gäste, dafür bitten wir um Verständnis“. Doch feststeht: „Das Projekt zwischen LBV und Nationalpark Berchtesgaden ist auf zehn Jahre angelegt und wir gehen davon aus, dass wir schon im kommenden Jahr alle interessierten Natur- und Vogelfreunde zu der nächsten Auswilderung einladen können“, erklärt der LBV-Vorsitzende Dr. Norbert Schäffer.
Für alle Interessieren, die am Auswilderungstag vor Ort nicht dabei sein können, haben sich Nationalpark und LBV alternative Angebote einfallen lassen: So wird das kleine Team, das die Geier zu Fuß in die in ausgesetzte, im alpinen Gelände gelegene Auswilderungsnische trägt, mit einer Livekamera begleitet. Die Daten werden in Echtzeit per Videostream auf die Facebookseite des Nationalparks Berchtesgaden übertragen. Detailinformationen gibt es rechtzeitig auf den Webseiten von LBV und Nationalpark sowie im Nationalpark-Facebook. Je nach Verlauf wird die Auswilderung hier ab ca. 12:45 Uhr live übertragen. Außerdem ist eine Webcam direkt in der Freilassungsnische im Einsatz, die unter www.lbv.de/bartgeier-webcam rund um die Uhr aufgerufen werden kann.
Ab sofort bieten LBV und Nationalparkverwaltung außerdem regelmäßig geführte Wanderungen an, bei denen das Projektteam über die Wiederansiedlung informiert. Mit etwas Glück können dabei auch die jungen Bartgeier beobachtet werden. Am Halsalmweg auf rund 1.150 m Höhe richtet die Nationalparkverwaltung darüber hinaus dauerhaft eine personell betreute Beobachtungsstation für Gäste ein. Hier können interessierte Naturfreunde mit leistungsstarken Fernrohren einen Blick in die Auswilderungsnische werfen und sich aus erster Hand über Bartgeier, Steinadler und Co. informieren. Informationen zur Anmeldung zu Führungen und zur Besetzung der Beobachtungsstation gibt es auf den Webseiten von LBV und Nationalpark. „Ende Juni werden die jungen Bartgeier flügge sein und ihre Auswilderungsnische verlassen. Dann können die Vögel voraussichtlich bis zum Herbst im Klausbachtal und in der näheren Umgebung auch selbstständig beobachtet werden“, ergänzt Nationalparkmitarbeiter und Greifvogel-Experte Ulrich Brendel.
Jungvögel in Nürnberg angekommen
Inzwischen sind die jungen Bartgeier aus Spanien nach einer dreitägigen Reise in einem klimatisierten Spezialfahrzeug für Tiertransporte in der Quarantänestation des Tiergartens der Stadt Nürnberg in Schwaig eingetroffen, wo sie vom stellvertretenden Direktor Dr. Jörg Beckmann in Empfang genommen wurden. Im Alter von rund 90 Tagen hatten sie zuvor ihre Voliere in einer Zuchtstation der Vulture Conservations Foundation (VCF) in Andalusien/Spanien verlassen, wo sie jeweils von einem Zuchtpaar ohne menschliche Einflussnahme großgezogen wurden. In Nürnberg werden sie nun auf die Auswilderung am Donnerstag im Nationalpark Berchtesgaden vorbereitet und dafür am 9. Juni beringt, markiert und besendert. „Wir sind ausgesprochen glücklich und begeistert, dass die beiden jungen Bartgeier nun in Bayern angekommen sind und es nur noch wenige Tage bis zur Auswilderung dauert. Für uns als Artenschützer ist das wie das schönste Weihnachtsfest kurz bevor das Christkind kommt – so fühlt sich diese Ankunft an“, sagt der LBV-Vorsitzende Dr. Norbert Schäffer. Die ersten beiden zukünftigen bayerischen Bartgeier sind derzeit wohlauf und akklimatisieren sich.
Bartgeier-Skulptur überreicht
Der Bartgeier ist der größte Vogel der Alpen. Um die Dimensionen dieses eindrucksvollen, aber völlig harmlosen Aasverwerters deutlich zu machen, überreichte LBV-Chef Schäffer kürzlich eine Holzskulptur an Projektleiter Ulrich Brendel. Die Bartgeier-Skulptur ist eine Original-Arbeit des Berchtesgadener Holzschnitzers Marinus Brandner. Die Skulptur, die Brandner aus dem weichen Holz einer Weymouth-Kiefer aus Österreich geschnitzt hat, ist ab Donnerstag in der Nationalpark-Informationsstelle Hintersee („Klausbachhaus“) zu besichtigen, ebenso wie der Holzschnitt eines fliegenden Bartgeiers. Die Skulptur ist Teil einer öffentlichkeitswirksamen Wanderausstellung zum Bartgeier, die derzeit konzipiert wird und künftig in Bayern und darüber hinaus auf Reisen gehen soll.
Zum Projekt:
Der Bartgeier (Gypaetus barbatus) zählt mit einer Flügelspannweite von bis zu 2,90 Metern zu den größten, flugfähigen Vögeln der Welt. Anfang des 20. Jahrhunderts war der majestätische Greifvogel in den Alpen ausgerottet. Im Rahmen eines großangelegten Zuchtprojekts werden seit 1986 in enger Zusammenarbeit mit dem in den 1970er Jahren gegründeten EEP der Zoos im Alpenraum junge Bartgeier ausgewildert. Während sich die Vögel in den West- und Zentralalpen seit 1997 auch durch Freilandbruten wieder selbstständig vermehren, kommt die natürliche Reproduktion in den Ostalpen nur schleppend voran. Ein vom bayerischen Naturschutzverband LBV (Landesbund für Vogelschutz) initiiertes Projekt zur Auswilderung von jungen Bartgeiern im bayerischen Teil der Alpen greift dies auf und unterstützt in Kooperation mit dem EEP und dem Nationalpark Berchtesgaden die alpenweite Wiederansiedelung. Dafür werden in den kommenden Jahren im Klausbachtal junge Bartgeier ausgewildert – im Jahr 2021 erstmals in Deutschland. Der Nationalpark Berchtesgaden eignet sich aufgrund einer Vielzahl von Faktoren als idealer Auswilderungsort in den Ostalpen. Mehr Informationen zum Projekt unter www.lbv.de/bartgeier-auswilderung

07.06.2021, Deutsches Zentrum für integrative Biodiversitätsforschung (iDiv) Halle-Jena-Leipzig
Für die Primaten wird es eng
Der Klimawandel wird das Verbreitungsgebiet afrikanischer Menschenaffen in den nächsten 30 Jahren drastisch verkleinern. Dies haben Forscher unter Beteiligung des Deutschen Zentrums für integrative Biodiversitätsforschung (iDiv), des Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie (MPI EVA) und der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg (MLU) prognostiziert. Nach ihren Berechnungen reichten die bisherigen Schutzgebiete für die langfristige Sicherung wichtiger Populationen von Gorillas, Schimpansen und Bonobos nicht aus. Die in der Fachzeitschrift Diversity and Distributions veröffentlichte Studie floss auch in die ARD-Dokumentation „Planet ohne Affen“ ein, die heute gesendet wird.
Für ihre Analyse trugen die Autoren Informationen über das Vorkommen afrikanischer Menschenaffen zusammen, die in der A.P.E.S.-Datenbank der Weltnaturschutzunion (IUCN) gespeichert sind. Diese Datenbank enthält eine einzigartige Menge an Informationen über den Zustand der Populationen, Bedrohungen und Schutzmaßnahmen für mehrere hundert Standorte, die über 20 Jahre hinweg gesammelt wurden (http://apesportal.eva.mpg.de/).
Die Forscher quantifizierten erstmals die Gesamtheit der Auswirkungen von Änderungen des Klimas, der Landnutzung und der Bevölkerungszahlen in den Verbreitungsgebieten der afrikanischen Menschenaffen für das Jahr 2050. Dabei berücksichtigten sie Best- und Worst-Case-Szenarien. „Best case bedeutet, dass die Kohlenstoff-Emissionen langsam zurückgehen und dass geeignete Maßnahmen zur Eindämmung ergriffen werden“, erklärt die Mitautorin der Publikation Jessica Junker, Postdoktorandin am iDiv und an der MLU. „Worst case geht davon aus, dass die Emissionen ungebremst weiter ansteigen – also business as usual.“
Unter dem Best-Case-Szenario sagen die Autoren voraus, dass Menschenaffen innerhalb der nächsten 30 Jahre 85 Prozent ihres Verbreitungsgebietes verlieren werden. Die Hälfte davon werde dabei außerhalb von Nationalparks und anderen gesetzlich geschützten Gebieten liegen. Unter dem Worst-Case-Szenario sagen sie einen Verlust von 94 Prozent voraus, wovon 61 Prozent auf nicht geschützte Gebiete entfielen.
Höher gelegene Gebiete sind für einige Menschenaffenarten derzeit weniger attraktiv – vor allem aufgrund des geringeren Nahrungsangebotes. Doch durch den Klimawandel verändert sich das. Tieflandgebiete werden wärmer und trockener, die Vegetation verschiebt sich nach oben. Wenn Populationen in der Lage sind, vom Tiefland in die Berge zu ziehen, könnten sie überleben und sogar ihr Verbreitungsgebiet vergrößern – je nach Art und je nachdem, ob das Best- und Worst-Case-Szenario eintritt. Es kann aber auch sein, dass sie nicht in der Lage sind, sich in der verbleibenden Zeit zwischen heute und 2050 aus dem Tiefland wegzubewegen.
„In dem wir zukünftige Klima- und Landnutzungsänderungen sowie menschliche Bevölkerungsszenarien eingebunden haben, können wir mit unserer Studie starke Beweise liefern, wie die wichtigsten globalen Einflussfaktoren als Gesamtheit künftig die Verbreitung von Menschenaffen in Afrika einschränken“, sagt Joana Carvalho, Postdoktorandin an der naturwissenschaftlichen Fakultät der Liverpool John Moores University und Erstautorin der Studie. „Dass die größten Verluste des Verbreitungsgebiets außerhalb von Schutzgebieten zu erwarten sind, zeigt deutlich, dass das derzeitige Netzwerk von Schutzgebieten in Afrika noch unzureichend ist, die Lebensräume für Menschenaffen zu erhalten und Menschenaffenpopulationen effektiv zu verbinden.“
Die Ergebnisse bestätigen andere aktuelle Studien, die zeigen, dass die afrikanischen Menschenaffenpopulationen und ihre Lebensräume dramatisch zurückgehen. Alle afrikanischen Menschenaffen sind auf der Roten Liste der bedrohten Arten der IUCN entweder als gefährdet (Berggorillas, Bonobos, Nigeria-Kamerun-Schimpansen, Östliche Schimpansen und Zentrale Schimpansen) oder als vom Aussterben bedroht (Cross-River-Gorillas, Grauer-Gorillas, Westliche Flachlandgorillas und Westliche Schimpansen) eingestuft.
Die Autoren argumentieren, dass effektive Erhaltungsstrategien für jede Art geplant und dabei bestehende als auch vorgeschlagene Schutzgebiete berücksichtigt werden müssten. Dabei könnten die Modelle zur Lebensraumeignung bei der Einrichtung und beim Management von Schutzgebieten helfen. Darüber hinaus wird es entscheidend für das Überleben der afrikanischen Menschenaffen sein, Verbindungen und Korridore zwischen den Lebensräumen zu erhalten und herzustellen, die als künftig geeignet vorhergesagt werden. Landnutzungsplanung und Maßnahmen zur Abschwächung des Klimawandels müssten dringend in die Regierungspolitik jener Länder eingebunden werden, in denen Menschenaffen leben.
„Der weltweite Verbrauch natürlicher Ressourcen, die in den Verbreitungsgebieten der Menschenaffen abgebaut werden, ist eine der Hauptursachen für den Rückgang der Menschenaffen, sagt Letztautor Dr. Hjalmar Kühl vom iDiv und MPI EVA. Alle Nationen, die von diesen Ressourcen profitieren, stehen in der Verantwortung, eine bessere Zukunft für Menschenaffen, deren Lebensräume sowie für die darin lebenden Menschen zu gewährleisten, indem sie eine nachhaltigere Wirtschaft voranbringen.“
Originalpublikation:
Carvalho, J.S., … , Junker, J., … & Kühl, H.S. (2021): Predicting range shifts of African apes under global change scenarios. Diversity and Distributions, DOI: https://onlinelibrary.wiley.com/doi/full/10.1111/ddi.13358

07.06.2021, Senckenberg Forschungsinstitut und Naturmuseen
„Zombie-Frosch“ entdeckt
Senckenberg-Wissenschaftler*innen haben mit einem internationalen Team drei neue Froscharten aus dem nördlichen Amazonasgebiet beschrieben. Die zur Gattung Synapturanus gehörenden Tiere leben vergraben und sind daher noch nahezu unerforscht. Die Forschenden gehen davon aus, dass die Artenvielfalt dieser Gattung aus der Familie der Engmaulfrösche mindestens sechsmal höher ist, als bislang bekannt. Die Studie erscheint im „Zoologischen Anzeiger“.
Die meist kleinen und eher plump wirkenden Frösche der Engmaulfrosch-Familie sind nahezu weltweit verbreitet und leben in der Regel versteckt im Boden. „Die Rufe der Froschmännchen sind nur nach oder während starker Regenfällen zu hören. Dies führt dazu, dass wir Herpetolog*innen die Tiere zur Bestimmung – meist selbst völlig durchnässt – mit bloßen Händen aus der Erde graben müssen“, erzählt Dr. habil. Raffael Ernst von den Senckenberg Historischen Sammlungen in Dresden und fährt fort: „Dieses etwas schaurige und schlammige Szenario hat uns auch dazu bewogen, eine neu im Amazonasgebiet entdeckte Art der Engmaulfrosch-Gattung Synapturanus, Synapturanus zombie zu nennen.“
Der nur knapp 40 Millimeter große, orange-gefleckte „Zombie-Frosch“ ist einer von drei Neubeschreibungen die Ernst mit einem internationalen Team in den tropischen Regenwäldern Guyanas, Französisch-Guianas und Nord-Brasiliens, dem so genannten Guiana Schild entdeckt hat. Alle Frösche gehören zur Gattung Synapturanus und wurden anhand von 12 verschiedenen morphologischen Merkmalen als neue Arten eingestuft, nachdem sie bereits zuvor genetisch als noch unbeschriebene Arten identifiziert wurden. „Bislang wurde dieser Gattung wenig wissenschaftliche Aufmerksamkeit geschenkt“, erklärt Ernst und begründet dies mit der Lebensweise der Tiere: „Die Habitate der Frösche sind schwer zugänglich und ihre Verbreitungsgebiete sehr klein, die Tiere verstecken sich im Boden und ihre Rufe sind nur schwer differenzierbar.“
Der Dresdner Herpetologe möchte daher mit seinen Kolleg*innen dieser Gattung mehr Aufmerksamkeit schenken. „Wir gehen davon aus, dass es sechsmal so viele Synapturanus-Arten gibt, als wir bislang beschrieben haben. Es bleibt demnach noch viel zu tun – auch weil wir den Gefährdungsstatus der Arten aktuell aufgrund der schwierigen Datenlage noch nicht abschließend beurteilen können“, gibt Ernst einen Ausblick.
Originalpublikation:
Antoine Fouquet, Killian Leblanc, Anne-Claire Fabre, Miguel T. Rodrigues, Marcelo Menin, Elodie A. Courtois, Maël Dewynter, Monique Hölting, Raffael Ernst, Pedro Peloso, Philippe J.R. Kok, Comparative osteology of the fossorial frogs of the genus Synapturanus (Anura, Microhylidae) with the description of three new species from the Eastern Guiana Shield,
Zoologischer Anzeiger, 2021

08.06.2021, Senckenberg Forschungsinstitut und Naturmuseen
Versteinert: 99 Millionen Jahre alte Geburt
Gemeinsam mit einem internationalen Team ist Adrienne Jochum vom Senckenberg Forschungsinstitut und Naturmuseum und dem Naturhistorischen Museum in Bern ein außergewöhnlicher Fund gelungen: Die Forschenden fanden eine fossile weibliche Landschnecke, die gemeinsam mit ihren fünf Jungtieren in einem 99 Millionen Jahre alten Bernstein eingeschlossen wurde. Es handelt sich bei der Schnecke nicht nur um eine bislang unbekannte Art, sondern auch um den ältesten Nachweis einer Lebendgeburt in dieser Tierklasse. Die Studie wurde im Fachjournal „Gondwana Research“ veröffentlicht.
Landschnecken sind meist durch versteinerte Schneckenhäuser oder Abdrücke fossil überliefert, die Erhaltung ihrer Weichkörper dagegen ist eine Rarität. „Unser neuer Bernstein-Fund ist auch aus diesem Grund wirklich bemerkenswert“, erklärt Dr. Adrienne Jochum vom Senckenberg Forschungsinstitut und Naturmuseum Frankfurt und dem Naturhistorischen Museum Bern und fährt fort: „In einem kreidezeitlichen Bernstein aus Myanmar haben wir den Körper und die Schale einer außergewöhnlich gut erhaltenen weiblichen Landschnecke kurz nach der Geburt ihres – ebenfalls im Bernstein überlieferten – Nachwuchses gefunden.“
Gemeinsam mit Kolleg*innen aus China und Deutschland hat Jochum den Bernstein mittels hochauflösender Fotografie und Mikro-Computertomographie-Aufnahmen untersucht und konnte so das etwa 11 Millimeter hohe Schneckenhaus und den „Marshmallow-artigen“ Körper des Muttertiers, sowie die fünf frisch geborenen Jungtiere sichtbar machen. „Die Schnecken wurden anscheinend direkt nach der Geburt von dem Baumharz eingeschlossen und in dieser Position über die Jahrmillionen konserviert. Die Mutterschnecke hat ihr bevorstehendes Schicksal wohl bemerkt und streckt ihre Tentakel in ‚Alarmstufe rot’ in die Höhe“, fügt Jochum hinzu.
Lebendgeburten sind bei Landschnecken zwar bekannt, aber gelten als Ausnahme. Die Forschenden gehen davon aus, dass die neu als Cretatortulosa gignens beschriebene Art ihre Jungen lebend zur Welt brachte, um ihren Nachwuchs möglichst lange vor Fressfeinden in den tropischen Wäldern der Kreidezeit zu schützen. Jochum erläutert: „Genau wie ihre modernen Verwandten aus der Gattung Cyclophoroidea verbrachte unser Neuentdeckung ihr Leben wahrscheinlich unauffällig auf abgestorbenen und verrottenden Blättern. Wir gehen davon aus, dass die Jungtiere dieser Art – im Vergleich zu eierlegenden Schnecken – kleiner und geringer in der Stückzahl waren, um deren Überlebenschance zu steigern.“
Das aus einer Bernstein-Mine im nördlichen Myanmar stammende Fossil bietet laut der Studie beispielslose Einblicke in die Ökologie und Verhaltensweise der vor 99 Millionen Jahre lebenden Schnecken. „Aufgrund des Fundes können wir nicht nur Aussagen zur Morphologie und Paläoökologie der Tiere treffen, sondern wissen nun auch, dass es lebendgebärende Schnecken in der Kreidezeit gab“, freut sich Jochum.
Originalpublikation:
Adrienne Jochum, Tingting Yu, Thomas A. Neubauer (2021): Mother snail labors for posterity in bed of mid-Cretaceous amber. Gondwana Research, Volume 97, 2021, Pages 68-72, ISSN 1342-937X, https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S1342937X21001453

09.06.2021, Deutsche Wildtier Stiftung
Schräg, selten, sensibel: Waldrapp brütet wieder in Deutschland
Deutsche Wildtier Stiftung unterstützt Wiederansiedlung von Geronticus eremita
Wilde Haare, aber Haltung – der Waldrapp hat etwas von einem begabten Konzertpianisten, der die Nacht durchgespielt hat. Er bleibt höflich: Begegnet ein Waldrapp dem anderen, legen beide ihre Köpfen in den Nacken und verneigen sich. Dabei lassen sie ein heiseres „ChruuChruu“ aus unbefiederten, rot gefärbten Kehlen hören. Der bis zu 15 Zentimeter lange Schnabel ist hochsensibel: In ihm stecken Tastorgane, die im Erdboden Würmer & Co. aufspüren. Vor 400 Jahren war der Waldrapp, auch Schopfibis genannt, in ganz Europa ausgerottet – aber jetzt kommt er zurück. Im Rahmen eines europäischen LIFE Gemeinschaftsprojektes sollen Brutkolonien dieser in der Roten Liste der IUCN als bedroht gelisteten Zugvogelart in Deutschland, Österreich, Italien und der Schweiz angesiedelt werden. Die Deutsche Wildtier Stiftung hilft bei der Wiederansiedlung in Deutschland mit.
„Damit der Waldrapp sich als wilder Kulturfolger bei uns zu Hause fühlt, muss er sein altes Verhalten, nämlich das Wegziehen im Winter, erst wieder erlernen“, sagt Professor Dr. Klaus Hackländer, Vorstandsvorsitzender der Deutschen Wildtier Stiftung. Der Wildtierbiologe weiß: „Findet der junge Waldrapp nicht im ersten Lebensjahr die Zugroute zu seinem Winterquartier in der Toskana, fällt das Lern-Zeitfenster zu und er wird es nie schaffen, auf eigenen Beinen zu stehen.“ Um den Flug jedes einzelnen Geronticus eremita genau verfolgen zu können, tragen die Waldrappe während des Fluges kleine Rucksacksender. „Wir unterstützen die Besenderung und hoffen bei jedem Vogel, dass alles gut geht“, sagt Professor Hackländer.
Stromleitungen können den Vogeltod bedeuten, aber auch schlechte Witterungsbedingungen oder illegaler Abschuss über einem Mittelmeerland, der noch immer erfolgt! Partner der Deutschen Wildtier Stiftung ist der Tiergarten Schönbrunn in Wien und das österreichische Waldrappteam. „Hier wurde bereits die 11. Kükengeneration per Hand aufgezogen und später in die Wildbahn entlassen“, so Hackländer. Aber inzwischen gibt es im Rahmen des Projektes auch schon wild lebende Waldrappe, die in Brutgebieten in Bayern, Salzburg und Baden-Württemberg brüten. In diesem Jahr sieht es gut aus. So sind in den Nischen der Burgmauer in Burghausen 16 Küken in fünf Nestern geschlüpft. Währenddessen wird in Überlingen am Bodensee in drei Nestern noch auf den Eiern gebrütet. Aber auch dort werden bald die ersten Küken schlüpfen. „Sind sie wohlauf, sind wir unserem Ziel, den wunderbaren Waldrapp zu etablieren, wieder einen Schritt näher“, so Hackländer.

10.06.2021, Max-Planck-Institut für Marine Mikrobiologie
Untermieter auf Manganknollen: Schwämme sorgen für Artenreichtum
Tief auf dem Meeresgrund lagern wertvolle Rohstoffe – beispielsweise Knollen aus Mangan, Eisen, Kobalt und Kupfer. Die Rohstoffe aus diesen Knollen könnten helfen, unserem zunehmenden Bedarf an seltenen Metallen zu begegnen. Doch neben den Knollen liegt dort unten noch ein weiterer Schatz: ein komplexes, Ökosystem, das wir bis heute kaum kennen und verstehen. Forschende aus Bremen und den Niederlanden haben nun herausgefunden, dass Schwämme, die sich gerne auf den metallischen Knollen ansiedeln, auch vielen anderen Tieren ein Zuhause bieten. Ohne die Knollen wäre der Artenreichtum in diesen Tiefseeregionen deutlich geringer, berichten die Forschenden im Fachmagazin Scientific Reports.
Metallhaltige Knollen und Krusten bedecken viele tausend Quadratkilometer des weltweiten Tiefseebodens. Sie enthalten wertvolle Metalle und seltene Erden und sind daher wirtschaftlich sehr interessant. Noch gibt es keine marktreife Technologie für den Tiefseebergbau. Doch schon jetzt ist klar: Eingriffe in den Meeresboden beeinträchtigen die betroffenen Gebiete massiv und nachhaltig. Das belegt auch die nun vorliegende Studie von Tanja Stratmann vom Max-Planck-Institut für Marine Mikrobiologie in Bremen und Forschenden des Instituts Senckenberg am Meer in Wilhelmshaven sowie des Niederländischen Forschungsinstituts NIOZ.
Stratmann und ihre Kolleginnen und Kollegen nutzten für die Untersuchung die Daten aus einer Vielzahl vorhandener Studien sowie Bildaufnahmen des Tiefseebodens in zwei Regionen des Pazifischen Ozeans, die reich an Manganknollen sind. Mit Hilfe dieser Daten erstellten sie ein Modell der ökologischen Vernetzung in diesen Regionen.
„Wir fanden heraus, dass auf den polymetallischen Knollen oft gestielte Schwämme wohnen“, erklärt Stratmann. Die Schwämme nutzen die harten Knollen inmitten der schlammigen Tiefseeumgebung als einzig verfügbaren festen Untergrund. Mit ihrem Stiel verankern sie sich auf der Knolle und strecken ihren Körper ins Wasser, um winzige Partikel daraus zu filtern. Zudem bilden die Schwämme selbst einen Lebensraum für andere Tiere, etwa kleine Würmer, Krebse oder Muscheln. „Unsere Modelle sagen Folgendes voraus: Wenn die Knollen entfernt werden, verschwinden auch die Schwämme und mit ihnen die assoziierte Fauna“, so Stratmann weiter. „Dadurch verringert sich die Zahl der Tierarten und Verbindungen im Nahrungsnetz. Das Nahrungsnetz in der Tiefsee wird ohne die Knollen einfacher und weniger artenreich.“
In der vorliegenden Studie betrachteten Stratmann und ihr Team zwei knollenreiche Regionen im Pazifik, die Clarion-Clipperton-Zone und das Perubecken. In beiden Regionen störte eine Entfernung der Knollen im Modell das Ökosystem massiv. Grund dafür waren vor allem die sogenannten nicht-trophischen Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Tieren – also solche, die nicht mit „Fressen und gefressen werden“ zu tun haben. Dazu gehören sowohl Wechselwirkungen zwischen den Schwämmen und den Tieren, die auf ihnen wohnen, als auch zwischen den Schwammbewohnern untereinander. Insbesondere in der Clarion-Clipperton-Zone sind mehr als die Hälfte der Tiefseebewohner auf die ein oder andere Art von den Knollen abhängig.
Eine Entfernung der Knollen und damit auch der Schwämme, wie es durch den Tiefseebergbau der Fall wäre, würde eine Kaskade negativer Effekte für das Ökosystem auslösen. Eine schnelle Erholung ist unwahrscheinlich, denn die Knollen brauchen Millionen Jahre, um zu substanzieller Größe anzuwachsen, und das Ökosystem Tiefsee regeneriert sich nur sehr langsam.
Originalpublikation:
Tanja Stratmann, Karline Soetaert, Daniel Kersken, Dick van Oevelen (2021): Polymetallic nodules are essential for food-web integrity of a prospective deep-seabed mining area in Pacific abyssal plains. Scientific Reports (10. Juni 2021).
DOI: https://doi.org/10.1038/s41598-021-91703-4

10.06.2021, Landesbund für Vogelschutz in Bayern (LBV) e. V.
„Bavaria“ und „Wally“ erfolgreich im Nationalpark Berchtesgaden ausgewildert
Erste Bartgeier in Deutschland von LBV und Nationalpark in die Wildnis entlassen – ab sofort Live-Webcam aus Felsnische
Über 140 Jahre nach ihrer Ausrottung durch den Menschen leben seit heute wieder Bartgeier in den deutschen Alpen. Der bayerische Naturschutzverband LBV hat heute zusammen mit dem Nationalpark Berchtesgaden zwei junge, noch nicht flugfähige Bartgeier in einer Felsnische im Klausbachtal erfolgreich ausgewildert. Das Projekt soll über die nächsten zehn Jahre die Zukunft der zentraleuropäischen Population dieser seltenen Vogelart stärken und verbinden. Denn die Rückkehr des völlig harmlosen Greifvogels in die deutschen Alpen bildet einen wichtigen geografischen Lückenschluss für die Art. Vor ihrer Auswilderung wurden die beiden jungen Bartgeierweibchen vom Bayerischen Umweltminister Thorsten Glauber auf die Namen „Bavaria“ und „Wally“ getauft.
„Das ist ein historischer Moment für den Artenschutz in Deutschland und ein echter Meilenstein. Der größte Vogel der Alpen ist heute nach Bayern zurückgekehrt“, freut sich der LBV-Vorsitzende Dr. Norbert Schäffer. Die beiden Jungvögel stammen aus einer andalusischen Zuchtstation der Vulture Conservation Foundation (VCF) und gehören zu einem europäischen Nachzuchtprogramm. Auch im Nationalpark Berchtesgaden ist die Freude groß: „Wir freuen uns sehr, dass wir heute den Grundstein für die Rückkehr dieser faszinierenden Vogelart nach Deutschland legen konnten“, betont Nationalparkleiter Dr. Roland Baier. Und auch für den Bayerischen Umweltminister Thorsten Glauber ist die erste Bartgeierauswilderung in Deutschland ein ganz besonderes Ereignis an einem besonderen Ort: „Der Nationalpark Berchtesgaden ist ein Juwel des Naturschutzes in Bayern und ein Hotspot der Artenvielfalt. Wir bringen den Bartgeier in die bayerischen Alpen zurück. Der Nationalpark Berchtesgaden ist für die Wiederansiedlung der Bartgeier in Bayern hervorragend geeignet. Das Umweltministerium unterstützt das herausragende Projekt in den kommenden drei Jahren mit rund 610.000 Euro. Ich wünsche den beiden Bartgeiern „Wally“ und „Bavaria“ ein langes Leben. Sie werden einen wichtigen Beitrag leisten zur Stärkung der alpenweiten Bartgeierpopulation.“
Beim offiziellen Festakt, der wegen der geltenden Pandemiebestimmungen deutlich kleiner ausfallen musste, als das in anderen Alpenregionen in der Vergangenheit der Fall war, gratulierten im Kreis der geladenen Gäste Umweltminister Thorsten Glauber und Landwirtschaftsministerin Michaela Kaniber. Glauber übernahm die feierliche Taufe der beiden ersten deutschen Bartgeier. Als eine der Partnerschulen des Nationalparks hatten sich die Schüler*innen des Gymnasiums Berchtesgaden für den Namen „Bavaria“ entschieden. Die Leser*innen der Süddeutschen Zeitung hatten in den vergangenen Tagen ebenfalls Vorschläge einreichen können. Dabei hatte am Ende „Wally“ das Rennen gemacht. Nachdem die beiden noch nicht flugfähigen Geierweibchen am Morgen vom Tiergarten der Stadt Nürnberg nach Berchtesgaden gebracht worden waren, wurden sie zur Taufe von den Experten des Nationalparks und des LBVs aus den Transportkisten geholt und erstmals der Öffentlichkeit präsentiert. „Wir möchten die Erfolgsgeschichte der Wiederansiedelung des majestätischen und faszinierenden Vogels in Westeuropa in den kommenden Jahren auch im östlichen Alpenraum fortschreiben und dies war heute der erste Schritt dazu“, sagt der Dr. Norbert Schäffer.
Anschließend wurden die beiden Junggeier in von Nationalparkmitarbeitern speziell angefertigte Tragekisten gesetzt und auf Kraxen den Berg zur Auswilderungsnische hinaufgetragen. Als freiwillige Träger fungierten enge Projektpartner: ein Förster der Bayerischen Staatsforsten und ein Jäger der Kreisgruppe Berchtesgadener Land des Bayerischen Jagdverbandes. Der eineinhalbstündige Aufstieg konnte anfangs noch von interessierten Wanderern begleitet werden. Ab Erreichen des weglosen Geländes in der sogenannten Halsgrube war nur noch ein kleines Team aus Experten, Trägern und Nationalpark-Rangern zugelassen. Der anspruchsvolle Steilhang und die Querung über Felsplatten in die eigentliche Nische hinein waren auf den letzten Metern mit Sicherungsseilen versehen, sodass im Absturzgelände von allen Beteiligten höchste Konzentration nötig war. Wegen der großen Steinschlaggefahr trugen alle Beteiligten zur Sicherheit Helme. „Nach dem geglückten Anstieg haben wir Bavaria und Wally in zuvor vorbereitete Nester aus Fichtenzweigen und Schafwolle gesetzt. Anschließend wurden den Vögeln die GPS-Sender angelegt, sie wurden noch einmal untersucht und das erste Futter aus Gamsknochen in der Nähe platziert. Dann haben wir uns auch schon zurückgezogen, um den beiden Geiern die Eingewöhnung in ihre neue Heimat zu ermöglichen“, erklärt LBV-Projektleiter und Bartgeierexperte Toni Wegscheider.
Die sechs mal 20 Meter große eingezäunte Felsnische wurde von den Artenschützern extra ausgewählt und liegt in etwa 1.300 Metern Höhe. Dort werden die rund 90 Tage alten Bartgeier von nun an ohne menschlichen Kontakt weiter aufwachsen und das Fliegen üben. Wissenschaftler werden die Vögel in den kommenden Monaten rund um die Uhr von einem nahegelegenen Beobachtungsplatz durch installierte Infrarotkameras und einem Livestream überwachen. „Dies ermöglicht es uns, Unregelmäßigkeiten sofort zu erkennen und so können wir den beiden Vögeln einen optimalen Schutz bieten“, so Toni Wegscheider. Die Fütterung erfolgt je nach Bedarf im Abstand von mehreren Tagen jeweils im Morgengrauen. „Dabei bekommen die noch schlafenden Geier Nahrungsportionen in die Nische geworfen, sodass sie zwar beim Aufwachen frisches Futter vorfinden, jedoch nie einen Menschen damit verbinden“, erklärt Nationalpark-Projektleiter Ulrich Brendel. Der selbständige erste Ausflug der beiden Vögel dürfte nach ausgiebigen Flugübungen in etwa drei bis vier Wochen stattfinden. „Dann sind ihre Flügel stark genug, um mit ihrer bis zu 2,90 Meter Spannweite ihr rund sechs Kilo Körpergewicht in die Luft zu heben“, sagt Ulrich Brendel. Danach werden sie vor ihrem endgültigen Aufbruch zur Erkundung des europäischen Alpenraums noch bis in den Spätsommer in der näheren Umgebung der Felsnische im Nationalpark anzutreffen sein und dort auch weiterhin mit Nahrung versorgt und überwacht.
Live-Webcam in Felsnische
Interessierte können die Entwicklung und Flugübungen der beiden Bartgeier-Damen in den kommenden Wochen und Monaten ab sofort auch hautnah im Internet mitverfolgen. Zum einen werden die Geschehnisse in der Auswilderungsnische live auf der Webseite des LBV unter www.lbv.de/bartgeier-webcam mit der aktuell weltweit einzigen Bartgeier-Live-Webcam übertragen. Anschließend können die ersten Flugversuche und der weitere Lebensweg der beiden Vögel in den nächsten Monaten und Jahren ebenfalls im Internet mitverfolgt werden. Durch eine Ausstattung der Bartgeier mit GPS-Sendern werden die zukünftigen Flugrouten der Vögel auf einer Karte im Internet unter www.lbv.de/bartgeier-auf-reisen dargestellt.

14.06.2021, Deutsche Wildtier Stiftung
Gefangene des Lichts im Totentanz
Deutsche Wildtier Stiftung: Lichtverschmutzung wird Vögeln und Insekten zum Verhängnis
Wie vom Licht hypnotisiert, umkreisen unzählige Nachtfalter im endlosen Spiralflug die Straßenbeleuchtung. Für sie ist es – wie für viele andere nachtaktive Insekten auch – oft ein Totentanz. Sie vergessen zu fressen oder sich fortzupflanzen. Sie scheinen geradezu besessen von künstlichen Lichtquellen zu sein und werden dort von ihrem natürlichen Verhalten abgehalten. Je höher der UV-Anteil, desto zahlreicher sind nachtaktive Insekten wie Käfer, Köcherfliegen und Schwärmer in ihren unendlichen Umkreisungen in der Lichtquelle gefangen. Forscher haben herausgefunden, dass die Facettenaugen der Insekten vor allem auf Licht mit hohem UV-Anteil reagieren. Lichtquellen mit hohem blau und ultravioletten Anteil scheinen besonders attraktiv zu sein. Die Folgen sieht man am frühen Morgen: Viele Insekten liegen entkräftet oder tot am Boden, andere sind im Lampengehäuse verbrannt.
„Seit der Mensch die Nacht zum Tag gemacht hat, ist Licht zu einer schädlichen Immission geworden“, sagt Professor Dr. Klaus Hackländer, Vorstand der Deutschen Wildtier Stiftung. „Die negativen Umwelteinwirkungen künstlicher Beleuchtungen stehen sogar im Bundesimmissionsgesetz, denn sie können on top zum Klimawandel und dem Einsatz von Pestiziden zu erheblichen Populationseinbußen einzelner Arten führen“, so Hackländer.
Auch die Fortpflanzung diverser Falterarten ist eng an den natürlichen Tag-Nacht-Rhythmus gebunden. Die Synthese weiblicher Pheromone bei Motten wie der Mamestra brassicae nimmt bei Lichtverschmutzung beispielsweise erheblich ab und gefährdet deshalb den Fortpflanzungserfolg. Der Zusammenhang wurde in wissenschaftlichen Studien nachgewiesen.
Geraten Vögel unter den Einfluss hell erleuchteter Areale, verlieren sie oft die Orientierung – sie werden zu Gefangenen des Lichts. Der Wissenschaftler spricht vom „Trapping effect“ – die Tiere sind quasi dem Licht „in die Falle“ gegangen und können den Weg zurück in die Dunkelheit nicht finden. „Beim kräftezehrenden Umherkreisen verlieren sie schnell Energiereserven“, erläutert der Vorstand der Deutschen Wildtier Stiftung. „Zusätzlich kommt es zu Kollisionen an den Scheiben hell erleuchteter Hochhäuser, Gewächshäuser oder Büros und Werbetafeln.“
„Abgesehen von der Energieverschwendung ist es im Sinne der Wildtiere wichtig, die sogenannte Lichtverschmutzung in notwendigen Grenzen zu halten“, sagt Professor Dr. Hackländer. Die Diskussion um vogelfreundlicheres Licht – zum Beispiel eine Umrüstung auf UV-arme Natriumdampfhochdrucklampen und LED-Lampen – wird engagiert geführt. „Noch gibt es keine hinreichend wissenschaftlich untermauerten Ergebnisse“, sagt Hackländer.
Eine niedrigere Anbringung von Lampen kann zumindest den Radius des Leuchtkörpers reduzieren. Dadurch werden weniger Insekten und Vögel angelockt. Vor allem zu Zeiten des Vogelzugs müssen besondere Maßnahmen greifen. Der Einsatz von „Skybeamer“ und knalligen Werbeflächen sollte dann auf jeden Fall vermieden werden. Generell gilt: Licht aus, wo es nicht benötigt wird!

15.06.2021, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn
Dramatische Veränderung der Brutvogelgemeinschaft
Im Bonner Stadtteil Dottendorf hat die Zahl der Brutvogelarten in den vergangenen 50 Jahren deutlich abgenommen. Viele Spezies wurden seltener oder sind lokal ausgestorben, wenige neue kamen hinzu, und ein paar Arten wurden deutlich häufiger. Ein Team von ehrenamtlichen Biologen, Förstern und Geographinnen der Ornithologischen Arbeitsgemeinschaft (OAG) Bonn am Museum Koenig und Forschern der Universität Bonn hat die Vergleichsuntersuchung durchgeführt, die sich auf eine Kartierung aus dem Jahr 1969 stützt. Die Ergebnisse sind nun im Fachjournal “Bird Study – The Journal of the British Trust for Ornithology” erschienen.
Weltweit nehmen Städte immer mehr Raum ein. Siedlungsbereiche sind aber nicht nur Wohnort des Menschen, sondern auch Lebensraum für viele Tiere und Pflanzen. Siedlungen haben sich jedoch in den letzten Jahrzehnten stark verändert und mit ihnen auch die dort lebenden Tiergemeinschaften. “Lokale Besonderheiten gehen verloren und mit ihnen die spezialisierten Arten”, sagt Privatdozent Dr. Stefan Abrahamczyk vom Nees-Institut der Universität Bonn, der schon seit Jahren an botanischen und ornithologischen Themen, wie etwa der Vogelbestäubung, forscht. Vielfach überlebt überall nur eine geringe Zahl anpassungsfähiger Arten, diese aber in hoher Dichte. “Man spricht in diesem Zusammenhang von biologischer Homogenisierung”, ergänzt Darius Stiels, Vorsitzender der Ornithologischen Arbeitsgemeinschaft (OAG) Bonn am Zoologischen Forschungsmuseum Alexander Koenig. Allerdings sind Langzeitdaten, mit denen dieses Phänomen untersucht werden kann, selten.
Ein Team der OAG und der Universität Bonn hat im Frühling und Sommer 2019 die Brutvogelgemeinschaft im Bonner Stadtteil Dottendorf kartiert. Es war in der glücklichen Lage, die Daten mit solchen aus dem Jahr 1969 vergleichen zu können. Damals hatte der spätere Ornithologe Professor Dr. Michael Wink noch als Schüler die Brutvögel in Dottendorf erfasst und seine Ergebnisse inklusive einer Karte in einem Artikel veröffentlicht. “Die Unterschiede zwischen diesen beiden Kartierungen sind überraschend”, fast Abrahamczyk das Ergebnis zusammen. Kamen 1969 noch 57 Brutvogelarten in Dottendorf vor, waren es 2019 nur noch 39. Insgesamt verschwanden 22 Arten und vier neue kamen hinzu.
Nachtigall und Wendehals kamen 1969 noch vor
Die meisten verschwundenen Arten, wie Nachtigall oder Wendehals, kamen 1969 mit maximal drei Paaren vor. Allerdings verschwanden auch einige ehemals häufige Arten wie Feldsperling oder Gartenrotschwanz. “Insgesamt fehlen heute die typischen Arten der strukturreichen Agrarlandschaft sowie einige typische Siedlungsarten”, sagt Stiels. Der Verlust dieser Arten sei einerseits mit dem Rückgang von Offenlandlebensräumen am Rande und im Umfeld von Dottendorf zu erklären. Andererseits nahmen aber auch viele Gebäudebrüter, wie Mauersegler oder Mehlschwalbe, ab oder verschwanden ganz, was wahrscheinlich mit dem Verlust von Brutplätzen begründet werden kann.
Stefan Abrahamczyk erklärt weiter: “Bei einigen Arten sind auch Effekte des Klimawandels und neu auftretende Krankheiten ein wahrscheinlicher Grund für Bestandsveränderungen.” Eine deutliche Zunahme gab es dagegen bei den Waldarten, wie Ringeltaube, Mönchsgrasmücke oder Singdrossel. Die reine Veränderung der Flächennutzung allein erklärt diese Muster jedoch noch nicht. Stattdessen profitieren wahrscheinlich die typischen Waldbewohner von den sich verändernden Gärten in Dottendorf. Viele Büsche und Bäume sind in den vergangenen Jahrzenten stark gewachsen und bilden damit Lebensraum für Vogelgemeinschaften der Wälder.
„Zu unserem großen Erstaunen konnten wir, trotz des massiven Verlustes der Artenvielfalt, weder einen Rückgang der Zahl der Brutpaare noch eine Abnahme der Biomasse feststellen“, sagt Darius Stiels. Seltenere Arten wurden offenbar durch Vertreter häufigerer Arten zahlenmäßig kompensiert. So war allein bei der Ringeltaube eine Zunahme von vier auf 58 Paare zu verzeichnen. “Diese Vögel haben erfolgreich Städte als Brutlebensraum erobert”, sagt Stefan Abrahamczyk. Das sei jedoch nur ein schwacher Trost für das Verschwinden vieler anderer Arten. Viele der lokal ausgestorbenen Arten sind auch großräumig gefährdet. Obwohl die Studie auf Dottendorf begrenzt war, dürften ähnliche Veränderungen an vielen Orten zu beobachten sein, sind die Wissenschaftler überzeugt.
Originalpublikation:
Abrahamczyk S., Liesen J., Specht R., Katz E.-C., Stiels D.: Long-term shifts in a suburban breeding bird community in Bonn, Germany, Journal “Bird Study”, DOI: 10.1080/00063657.2021.1931659

16.06.2021, Deutsche Wildtier Stiftung
Der Sommer ist da
Todesfalle Garten/Deutsche Wildtier Stiftung rät zum Schutz der Wildtiere zu weniger Technik und viel mehr Mut zur Wildnis
Wochenlang erfreute das verspielte junge Eichhörnchen die ganze Familie; dann lag es eines Morgens tot in der Regentonne. Es war ertrunken. Eine Abdeckung oder ein langer Stock hätte das Drama verhindern können. Auch das steilabfallende Ufer eines Gartenteiches kann schnell zur Todesfalle für Wildtiere werden. Selbst Entenküken schaffen es hin und wieder nicht ans rettende Ufer. Oft reicht schon eine einfache Holzlatte als Rampe, um Leben zu retten. „Immer wieder verenden Wildtiere qualvoll im Garten“, sagt Eva Goris, Pressesprecherin der Deutschen Wildtier Stiftung. Sie ertrinken, werden durch Pestizide vergiftet, von Mährobotern zerstückelt oder durch Laubbläser in die Luft geschleudert und vom Sog getötet. Wie Sie die Todesfallen im eigenen Garten „entschärfen“, erfahren Sie von der Deutschen Wildtier Stiftung.
Technisch hochgerüstete Gartenbesitzer ahnen oft nicht, dass ihre Gerätschaften Wildtieren zum Verhängnis werden können. Allen voran muss der Mähroboter genannt werden. „Igel rollen sich bei drohender Gefahr zusammen und verharren im Gras, statt zu fliehen. Blindschleichen können den Messern nicht entkommen“, sagt Goris. „Die rotierenden Mähmesser fügen den Tieren teils schreckliche Wunden zu. Oft sind die Verletzungen tödlich.“ Rasenroboter sind zwar mit feinen Sensoren ausgerüstet, trotzdem sind viele Modelle nicht in der Lage, eine Rasenkante von einem Igel zu unterscheiden. „Wer unbedingt einen Mähroboter einsetzen will, sollte den Garten vorher absuchen und keinesfalls in der Dämmerung oder gar nachts mähen“, fordert Goris. „Denn viele tierische Gartenbewohner sind nacht- und dämmerungsaktiv.“ Laubbläser sind nicht nur für den Gartennachbarn eine Zumutung. Kleinere Wildtiere wie Käfer oder Frösche haben dem Luftstrom nichts entgegenzusetzen: Sie werden eingesogen, zerhäckselt und zerrissen. Außerdem sind Laubhaufen für Vögel wie Amseln eine willkommene Nahrungsquelle. „Greifen Sie zur altbewährten Harke“, rät Goris. Die verbraucht kein Benzin, Sie haben ein bisschen Bewegung und können wesentlich feiner arbeiten. „Wer im Garten mit Chemie hantiert, tötet nicht nur Schädlinge“, sagt Eva Goris. „Toxische Produkte können auch Vögeln und Igeln sowie Amphibien gefährlich werden.“ Außerdem unterscheiden Gifte im Garten nicht zwischen Schädling und Nützling unter den Insekten. „Haben Sie mehr Mut zur Wildnis und rücken Sie nicht jedem Unkraut gleich mit Gift zu Leibe.“ Auch die Pflanze selbst kann für Wildtiere giftig sein“, sagt die Pressesprecherin der Deutschen Wildtier Stiftung. So ist das Primelgewächs Acker-Gauchheil nicht nur für Hunde und Katzen giftig; auch Hasen, Kaninchen und Vögel zeigen Vergiftungserscheinungen und können verenden. Auch Azaleen, Blauregen und die allseits beliebte Clematis sowie Efeu können Tieren gefährlich werden. Beim Rückschnitt von Gartenpflanzen muss darauf geachtet werden, dass keine Nester zerstört oder Tiere verletzt werden. Selbst feinmaschige Zäune können zur Todesfalle werden. „Man sollte darauf achten, dass Wildtiere sich nicht verheddern können.“ Goris: „Mit ein bisschen Rücksicht auf Wildtiere im Garten kann der Sommer beginnen.“

16.06.2021, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn
Steinfliegen: Jugend beeinflusst Erwachsenenleben
Die Metamorphose führt bei Insekten meist zu völlig verschieden aussehenden Larven- und Erwachsenenstadien: Schmetterlinge unterscheiden sich etwa drastisch von ihren Jungstadien, den Raupen. Diese „Entkoppelung“ der Lebensphasen ermöglicht eine Anpassung an völlig unterschiedliche Lebensräume. Forschende der Universität Bonn widerlegten nun diese gängige These der Evolutionsforschung bei Steinfliegen. Die Lebensweise der Jungtiere bestimmt hier grundsätzlich das Aussehen der erwachsenen Tiere. Dazu untersuchten die Forscher insgesamt 219 Insekten an hochauflösenden Teilchenbeschleunigern. Die Studie ist nun im Journal Proceedings of the Royal Society B erschienen.
Die Gerandete Steinfliege (Perla marginata) führt ein “Doppelleben”: Die ersten Jahre verbringt sie als Larve in hiesigen Bächen. Sie verfügt über Kiemen und versteckt sich gerne unter Steinen in Fließgewässern, um von dort aus andere Insektenlarven zu erbeuten. “Dieses Stadium dient vor allem dazu, Energie aufzunehmen und zu wachsen”, sagt Doktorand Peter Rühr vom Institut für Evolutionsbiologie und Zooökologie der Universität Bonn. Nach mehreren Häutungen kommt es schließlich zur Verwandlung (Metamorphose) in die erwachsenen Exemplare, die ausschließlich an Land leben. Sie halten sich überwiegend am Ufer auf und fliegen eigentümlich schwerfällig umher, um Paarungspartner zu finden. Sie verfügen noch über Mundwerkzeuge, in ihrem aber nur rund zweiwöchigen Dasein nehmen sie jedoch kaum Nahrung auf. “Sie leben hauptsächlich von den Reservestoffen aus ihrem Larvenstadium”, fügt Rühr hinzu.
Unterschiedliche Lebensstadien ermöglichen Einnischung
Welche Bedeutung hat die Metamorphose für die Bildung neuer Spezies? Inwieweit hängen die unterschiedlichen Lebensstadien zusammen? “Diese Fragen sind zum Beispiel bei den Schmetterlingen gut untersucht”, sagt der Evolutionsbiologe Prof. Dr. Alexander Blanke von der Universität Bonn. “Nach gängiger Meinung sind die Lebensphasen durch die Metamorphose `entkoppelt´, was eine bessere Anpassung an unterschiedliche Lebensräume ermöglicht – bis hin zur Entkoppelung von Nahrungsaufnahme und Fortpflanzung.” Für Steinfliegen bedeutet dies vor allem Fressen als Larve im Bach und Paarung im Erwachsenenstadium an Land.
Doch so entkoppelt die unterschiedlichen Lebensphasen scheinen, sind sie nicht bei allen Tiergruppen, die eine Metamorphose durchlaufen. Die Zoologen der Universität Bonn untersuchten zahlreiche Steinfliegenarten und verglichen sie mit ihren nächsten Verwandten, den Ohrwürmern. “Wir haben diese beiden Tiergruppen ausgewählt, weil sie nahe verwandt sind, aber sehr unterschiedliche Lebensweisen zeigen”, erläutert Blanke. Im Gegensatz zu Steinfliegen leben die Ohrwürmer ausschließlich an Land und durchlaufen viele nahezu gleich aussehende Mini-Stadien.
Mit Hilfe der Teilchenbeschleuniger (Synchrotrons) des Karlsruher Instituts für Technologie, des Deutsches Elektronen-Synchrotrons in Hamburg und des Paul Scherrer Instituts in Villigen (Schweiz) durchleuchteten die Forschenden insgesamt 219 Ohrwürmer- und Steinfliegenspezies. Die Synchrotronstrahlung war das Mittel der Wahl, weil sie schnelle Scans im Minutentakt ermöglicht und auch kleinste Details der winzigen Insekten sehr gut darstellt. Die Aufnahmen rechneten die Wissenschaftler zu hochaufgelösten dreidimensionalen digitalen Modellen um.
Vergleich mit fast 1000 wissenschaftlichen Publikationen
Die Forscher charakterisierten die Form der Köpfe und Mundwerkzeuge und verglichen sie mit Daten zu Fressverhalten und Habitatnutzung aus fast 1000 wissenschaftlichen Publikationen. Dabei konnten die Forschenden feststellen, dass der Wechsel vom Larven- zum Erwachsenenstadium bei Steinfliegen nicht mit einer ausgeprägten Entkopplung der beiden Stadien einhergeht. “Die Kopfform der erwachsenen Steinfliegen wird stark durch die Larven beeinflusst”, fasst Rühr zusammen. “Die Lebensweise der Jungtiere bestimmt also das Aussehen der Erwachsenen.”
Das relativiert eine gängige These der Evolutionsforschung, dass die Metamorphose zu einer Entkopplung unterschiedlicher Lebensphasen führt beziehungsweise diese begünstigt. “Bei den Schmetterlingen trifft dies zwar zu, bei den Steinfliegen jedoch nicht”, sagt Blanke. “Eine abgestuftere Betrachtung des Prinzips Metamorphose für die verschiedenen Organismengruppen wäre ratsam.” Es kommt auch dann zur Anpassung an völlig unterschiedliche Lebensräume während der Lebensphasen, wenn die einzelnen Entwicklungsstadien sich deutlicher ähneln als bei den Schmetterlingen. Blanke: “Die Studie beleuchtet erstmals, wie stark aufeinanderfolgende Lebensstadien bei Insekten ohne Puppenstadium gekoppelt sind.”
Originalpublikation:
Peter T Rühr, Thomas van de Kamp, Tomáš Faragó, Jörg U Hammel, Fabian Wilde, Elena Borisova, Carina Edel, Melina Frenzel, Tilo Baumbach and Alexander Blanke: Juvenile ecology drives adult morphology in two insect orders, Proceedings B, DOI: https://doi.org/10.1098/rspb.2021.0616

17.06.2021, Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie
Schimpansen-Waisen erholen sich von dem Trauma, die Mutter zu verlieren
Chronischer Stress könnte ein Grund dafür sein, warum manche Tierwaisen eine kürzere Lebenserwartung haben und weniger Nachkommen bekommen. Forschende des Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie in Leipzig und des Instituts für Kognitionswissenschaften, CNRS in Lyon untersuchten, ob verwaiste Schimpansen – so wie Menschen – chronischem Stress ausgesetzt sind. Die Studie ergab: Obwohl der Verlust der Mutter den Waisen Stress verursacht, kommt es bei ihnen kaum zu chronischem Stress, denn nach zwei Jahren normalisieren sich ihre Stresshormonlevel wieder.
Der Tod der Mutter ist für Jungtiere ein traumatisches Ereignis, besonders bei langlebigen Säugetierarten wie Schimpansen und Menschen, die von der langjährigen mütterlichen Fürsorge abhängig sind. Verwaiste Säugetiere sterben früher und haben weniger Nachkommen im Vergleich zu Nicht-Waisen. Warum das so ist, blieb bisher größtenteils ungeklärt. Klinische Studien mit Menschen und Studien mit Zootieren zeigen: Menschen oder Tiere, deren Mütter sterben, wenn sie noch sehr jung sind, leiden häufig ein Leben lang unter chronischem Stress. Dieser wirkt sich negativ auf die Gesundheit aus, kann jedoch reduziert oder sogar neutralisiert werden, wenn menschliche Waisenkinder früh genug in Pflegefamilien untergebracht werden. Wie gestresst Tierwaisen in freier Wildbahn sind und ob sie, so wie Menschen, jahrzehntelang chronischem Stress ausgesetzt sind, war bisher kaum erforscht.
Junge Schimpansen, die ihre Mutter verloren haben, sind stark gestresst
Forschende des Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie in Leipzig und des Instituts für Kognitionswissenschaften, CNRS in Lyon untersuchten über einen Zeitraum von 19 Jahren die kurz- und langfristigen Auswirkungen des Verlusts der Mutter auf die Stresshormonlevel verwaister freilebender Schimpansen. Die Studie zeigt, dass die Waisen stark gestresst sind – vor allem, wenn sie die Mutter im frühen Kindesalter verlieren. Waisen, die ihre Mutter vor mehr als zwei Jahren verloren haben oder bereits erwachsen sind, waren nicht mehr gestresst als andere Artgenossen, deren Mutter nicht gestorben war.
„Unsere Studie testet die Relevanz von Theorien, die anhand von klinischen Studien mit Menschen die Auswirkungen von Widrigkeiten im Kindesalter abzuleiten versuchen. Insbesondere interessierte uns, wie relevant sie für freilebende Primaten sind, deren Nachwuchs, wie beim Menschen, über ein Jahrzehnt lang von der Mutter abhängig ist“, sagt Erstautor Cédric Girard-Buttoz.
Schimpansen kümmern sich häufig um Waisenkinder oder adoptieren diese sogar
„Unsere Ergebnisse stehen im Kontrast zu Studien mit Menschen und zeigen, dass sich junge verwaiste Schimpansen mit der Zeit von dem für sie anfänglich belastenden Verlust der Mutter erholen. Taï-Schimpansen kümmern sich häufig um Waisenkinder oder adoptieren diese sogar. Erwachsene Tiere tragen beispielsweise ein verwaistes Jungtier auf dem Rücken, teilen ihr Futter und ihr nächtliches Schlafnest mit ihm oder schützen es vor Aggressionen. Ob verwaiste Schimpansen aufgrund dieser Unterstützung den Stress besser bewältigen, muss noch weiter erforscht werden“, sagt Roman Wittig, einer der Hauptautoren und Leiter des Taï-Schimpansenprojekts.
„Der Stress, den verwaiste Schimpansen im Vergleich zu Nicht-Waisen erleben, erklärt die geringere Lebenserwartung und verminderte Nachkommenzahl nicht direkt. Er könnte aber Auswirkungen auf andere wichtige Faktoren haben, wie zum Beispiel das Wachstum während kritischer Entwicklungsphasen“, sagt Catherine Crockford, eine Hauptautorin der Studie. „Als nächstes möchten wir herausfinden, was Schimpansenmütter ihrem Nachwuchs bieten, das ihm Waisen gegenüber besserstellt. Mütter tragen möglicherweise dazu bei, dass Jungtiere eine bessere Ernährungsgrundlage haben oder verschaffen ihnen soziale Vorteile, dienen ihnen vielleicht als Puffer vor den Aggressionen anderer – oder eine Mischung aus beidem.“
Originalpublikation:
Cédric Girard-Buttoz, Patrick J Tkaczynski, Liran Samuni, Pawel Fedurek, Cristina Gomes, Therese Löhrich, Virgile Manin, Anna Preis, Prince F Valé, Tobias Deschner, Roman M Wittig, Catherine Crockford
Early maternal loss leads to short- but not long-term effects on diurnal cortisol slopes in wild chimpanzees
eLife, 16 June 2021, DOI: https://doi.org/10.7554/eLife.64134

17.06.2021, Universität Basel
Stickstoffüberschuss gefährdet Schmetterlinge
Stickstoff aus Landwirtschaft, Verkehrsabgasen und Industrie bringt Schmetterlinge in der Schweiz in Bedrängnis. Über die Luft lagert sich das Element in den Böden ab und verändert die Vegetation – zum Nachteil der Tagfalter, wie Forschende der Universität Basel feststellten.
In der Schweiz gelten über die Hälfte der Tagfalterarten als gefährdet oder potentiell gefährdet. Bei der Suche nach Ursachen stehen meist die intensive Landwirtschaft, das Ausbringen von Pestiziden und der Klimawandel im Fokus. Ein Forschungsteam um Prof. Dr. Valentin Amrhein von der Universität Basel ist jedoch einem anderen Faktor nachgegangen: der Verfrachtung von Stickstoff aus der Landwirtschaft und Abgasen aus Industrie und Verkehr über die Luft. Im Fachjournal «Conservation Biology» berichtet das Forschungsteam von einem Zusammenhang zwischen dieser ungewollten Düngung und einer geringen Vielfalt von Tagfaltern in der Schweiz.
Aus früheren Studien war bereits bekannt, dass zu viel Stickstoff zu einer dichteren Vegetation führt, bei der aber gleichzeitig weniger unterschiedliche Pflanzenarten vorkommen. Denn der Stickstoff befeuert das Pflanzenwachstum, vor allem jenes von anspruchslosen Gewächsen. Spezialisiertere Arten werden indes verdrängt. «Wir wollten prüfen, ob sich der Stickstoffüberschuss indirekt über diese Veränderung der Vegetation auch auf die Vielfalt der Tagfalter auswirkt», erklärt Dr. Tobias Roth, Erstautor der Studie.
Das Team analysierte Daten aus dem Biodiversitätsmonitoring Schweiz über die Vielfalt und Häufigkeit von Pflanzen und Schmetterlingen auf 383 Flächen in der gesamten Schweiz. Das Ergebnis war eindeutig: Je mehr Stickstoff auf den untersuchten Flächen über die Luft eingetragen wird, desto artenärmer und dichter die Vegetation und desto geringer die Vielfalt von Tagfaltern.
Nahrung und Mikroklima
«Manche Schmetterlingsarten brauchen als Raupe bestimmte Pflanzenarten als Nahrung, oder sind auf ein bestimmtes Mikroklima angewiesen», erklärt Roth den Zusammenhang. Die Überdüngung führt dazu, dass offene, warme und trockene Orte durch stärkeres Pflanzenwachstum kühler, schattiger und feuchter werden.
Die Folge davon: Der Stickstoffüberschuss wirkt sich auf die Häufigkeit einer Vielzahl von Tagfalterarten in der Schweiz aus, die etwa offene und trockene Standorte bevorzugen. Den deutlichsten Effekt stellten die Forschenden bei seltenen und gefährdeten Tagfalterarten fest. «Der Stickstoffeintrag durch die Luft dürfte ein wichtiger Faktor sein, warum diese Arten gefährdet sind», hält Roth fest.
Ähnlich starker Effekt wie Klimawandel
Die bisherige Fachliteratur über die Vielfalt von Tagfaltern erklärte das Aufkommen oder Fehlen der Arten vor allem mit der Qualität des Lebensraums oder dem Klima. Die Pflanzenvielfalt und Dichte der Vegetation erhielt bislang weniger Beachtung, wie eine Literaturrecherche des Forschungsteams ergab. «Die Folgen der Stickstoffanreicherung für die Schmetterlinge wurden bisher wohl unterschätzt», sagt Amrhein. Für die Tagfaltervielfalt scheint Stickstoff eine ähnlich grosse Rolle zu spielen wie der Klimawandel.
Um gegenzusteuern, sehen die Forschenden kein einfaches Patentrezept. Ein gewisses Potenzial gibt es weiterhin bei technischen Verbesserungen. «Früher wurde beispielsweise Gülle über den Ackerflächen versprüht und einiges davon wurde mit dem Wind auf andere Flächen verweht», erklärt Roth. Heute würden vermehrt Schleppschläuche verwendet, die die Gülle direkt auf den Ackerboden aufbringen. Das reduziere den Stickstoffeintrag über die Luft auf andere Flächen, wo der Stickstoff unerwünscht sei.
Zudem liessen sich die negativen Auswirkungen in empfindlichen Lebensräumen mit Pufferzonen und einer angepassten Landschaftspflege teilweise abfedern: Darunter fallen Massnahmen, um Verbuschung zu vermeiden, etwa Beweidung oder häufigeres Mähen. Davon profitieren nicht nur anspruchsvolle Pflanzenarten, sondern eben auch die Schmetterlinge. Letztlich führt laut den Forschenden aber kein Weg an einem umweltfreundlichen Konsumverhalten vorbei, um den unerwünschten Stickstoffeintrag zu senken, zum Beispiel durch die Reduktion von Autoabgasen und Viehhaltung. Rund zwei Drittel der Stickstoffeinträge in empfindliche Ökosysteme haben nämlich heute in der Schweiz ihren Ursprung in Ammoniak-Emissionen aus der Viehhaltung.
Originalpublikation:
Tobias Roth, Lukas Kohli, Beat Rihm, Reto Meier, Valentin Amrhein
Negative effects of nitrogen deposition on Swiss butterflies
Conservation Biology (2021), doi: 10.1111/cobi.13744

18.06.2021, Staatliche Naturwissenschaftliche Sammlungen Bayerns
Kleiner Elefant hörte tiefe Töne
Der ausgestorbene Zwergelefant Palaeoloxodon tiliensis von der griechischen Insel Tilos besaß offenbar ein ähnliches Hörspektrum wie seine großen, heute lebenden Verwandten. Er hörte wie diese in niedrigen Frequenzbereichen. SNSB-Zoologin Anneke van Heteren konnte gemeinsam mit Wissenschaftler:innen der Nationalen und Kapodistrias-Universität Athen mittels mikro-computertomographischen Analysen die Strukturen im Innenohr des Zwergelefanten abbilden. Ihre Ergebnisse veröffentlichten die Forscher:innen nun in der Fachzeitschrift Palaeontologia Electronica.
Heutige Elefanten kommunizieren in einem sehr niedrigen Frequenzbereich. Das heißt, sie erzeugen und hören so tiefe Töne, dass wir Menschen sie mit unseren Ohren nicht wahrnehmen können. Forscher:innen aus Deutschland und Griechenland haben nun gezeigt, dass der vor rund 3.500 Jahren ausgestorbene Zwergelefant Palaeoloxodon tiliensis von der griechischen Insel Tilos offenbar über ein sehr ähnliches Hörspektrum verfügte, wie seine heute lebenden Verwandten. Auch der kleine Tilos-Elefant nahm wohl sehr tiefe Töne wahr. Dies konnten Forscher:innen an der Form und Größe des sogenannten knöchernen Labyrinths ablesen, einem komplizierten Kanalsystem im Innenohr.
Das Innenohr eines Säugetiers beherbergt seinen Hör- und Gleichgewichtssinn und liegt gut geschützt eingebettet im sogenannten Felsenbein – dem härtesten Knochen eines Säugetierskeletts. Die Strukturen – das knöcherne Labyrinth – sind von außen nicht sichtbar und daher nur schwer zu untersuchen. Forscher:innen von der Zoologischen Staatssammlung München (SNSB-ZSM) und der Nationalen und Kapodistrias-Universität Athen nutzten ein hochauflösendes Mikro-Computertomographie-Gerät, um diese verborgenen Strukturen sichtbar zu machen.
Anneke van Heteren, Kuratorin für Säugtiere an der ZSM, und ihren griechischen Kolleg:innen gelang durch Mikro-CT-Scans die dreidimensionale Darstellung des knöchernen Labyrinths ohne den Felsenbeinknochen zu beschädigen. Die Analyse dieser Strukturen ermöglichte den Wissenschaftler:innen nicht nur das Hörvermögen des Tiers zu beurteilen, sondern auch sein Bewegungsvermögen, seine Fähigkeit den Kopf zu drehen sowie sein Gleichgewicht zu halten. Offensichtlich war auch die Ausprägung dieser Bewegungseigenschaften von Palaeoloxodon tiliensis vergleichbar mit der von heutigen Elefanten. Er bewegte sich eher schwerfällig und wenig agil.
Grundsätzlich ist die Form des knöchernen Labyrinths bei Säugetieren artspezifisch, das bedeutet, sie variiert von Art zu Art. Dies zeigte sich den Wissenschaftler:innen auch beim Vergleich der Innenohr-Strukturen von Palaeoloxodon tiliensis mit denen anderer Elefantenarten. „Da das knöcherne Labyrinth nur sehr schwer zugänglich ist, gibt es bisher nur wenige Daten der Innenohrstrukturen von Elefanten. Weitere Mikro-CT-Analysen könnten uns neue Erkenntnisse über die Evolutionsgeschichte und Verwandtschaftsbeziehungen dieser Tiere liefern“, sagt Anneke van Heteren von der ZSM.
Der hier untersuchte Zwergelefant Palaeoloxodon tiliensis gehört zur letzten europäischen Elefantenart und lebte vor 45.000 bis 3.500 Jahren vor Christus auf der griechischen Mittelmeerinsel Tilos. Sie ist eine von mehreren Zwergelefantenarten der Gattung Palaeoloxodon, die unterschiedliche Inseln im Mittelmeer besiedelten.
Originalpublikation:
Liakopoulou, Dionysia E., Theodorou, George E., and van Heteren, Anneke H. 2021. The inner morphology of the petrosal bone of the endemic elephant of Tilos Island, Greece. Palaeontologia Electronica, 24(2):a24. https://doi.org/10.26879/1034

18.06.2021, Deutsches Zentrum für integrative Biodiversitätsforschung (iDiv) Halle-Jena-Leipzig
Libellen: Gewinner und Verlierer in Deutschland
In den letzten 35 Jahres hat sich die Verteilung der Libellenarten in Deutschland stark verändert. So wurden Rückgänge vor allem bei Arten an stehenden Gewässern verzeichnet. Zuwächse gab es hingegen bei Libellen, die an Fließgewässern leben und wärmere Temperaturen bevorzugen. Zu diesen Ergebnissen kommt eine Studie unter Leitung des Deutschen Zentrums für integrative Biodiversitätsforschung (iDiv), der Friedrich-Schiller-Universität Jena (FSU) und des Helmholtz-Zentrums für Umweltforschung (UFZ). Die Studie unterstreicht die Bedeutung von Bürgerwissenschaften und Naturkundegesellschaften für die Datenerhebung sowie von Naturschutzmaßnahmen zur Verbesserung der Biodiversität.
Deutschland ist das Land mit den meisten Libellenarten in Europa, was vor allem an der Vielfalt von Lebensräumen und Klimata hierzulande liegt. Während viele aktuelle und vor allem lokal angelegte Studien auf einen langfristigen Rückgang der Insektenpopulationen in verschiedenen Teilen Europas hinweisen, zeigen Untersuchungen der Frischwasserinsekten – einschließlich der Libellen – bei einigen Arten einen gegensätzlichen Trend. Forschende von iDiv, FSU und UFZ haben nun eine landesweite Untersuchung des Vorkommens und der Verbreitung von Libellen in Deutschland vorgestellt, die sich auf den Zeitraum von 1980 bis 2016 bezieht. Dafür analysierten sie über eine Million Dateneinträge zum Vorkommen von 77 Arten aus verschiedenen regionalen Datenbanken. Die meisten Daten wurden von ehrenamtlichen Bürgerwissenschaftlern gesammelt und von der Gesellschaft deutschsprachiger Odonatologen (GdO) zusammengeführt.
Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler stellten sowohl Zu- als auch Abnahmen fest. Besorgt zeigen sie sich über den Rückgang bei Arten, die an stehenden Gewässern leben. Abnahmen wurden bei 29 % aller Libellenarten festgestellt. Besonders betroffen sind dabei die Arten, die kühlere Temperaturen und stehende Gewässer wie Sümpfe und Moore bevorzugen. Viele dieser Arten sind bereits gefährdet. Sie sind auf kleine oder flache Gewässer angewiesen, die durch Trockenheit und niedrige Grundwasserspiegel immer seltener werden. „Diese Arten leiden sehr unter dem Rückgang ihres Lebensraumes. Hier sehen wir noch immer große Herausforderungen für den Schutz und Erhalt dieser Habitate“, sagt Erstautorin Dr. Diana Bowler von iDiv, FSU und UFZ.
Die Studie legt nahe, dass vor allem Libellenarten, die an kühlere Temperaturen und stehende Gewässer angepasst sind, durch weitere Umweltveränderungen einschließlich den Klimawandeln besonders gefährdet sind.
Die Ergebnisse der Studie zeigen Zuwächse beim Vorkommen von 45 % aller Libellenarten, größtenteils handelt es sich dabei um wärmeliebende Arten. „Bislang seltene Arten wie die Feuerlibelle und das Kleine Granatauge sind mittlerweile in Deutschland viel häufiger geworden“, meint Diana Bowler. „Diese Arten bevorzugen wärmere Temperaturen, ihre Zuwächse in Deutschland liegen also höchstwahrscheinlich am langfristigen Klimawandel.“
Unter den Gewinnern sind auch Arten an Fließgewässern, was auf erste Erfolge entsprechender Schutzmaßnahmen hindeutet, die durch besseres Umweltmanagement erzielt wurden. „Die Zuwächse bei diesen Arten zeigen eine Erholung von den Auswirkungen früherer Wasserverschmutzung und der fast vollständigen Zerstörung natürlicher Flussauen“, sagt Klaus-Jürgen Conze, Vorsitzender der GdO. In Deutschland wurden erste Projekte zur Verbesserung der Frischwasserqualität und zum Schutz von Fließgewässern bereits in den 1990ern ins Leben gerufen. Die EU-Wasserrahmenrichtlinie wurde im Jahr 2000 verabschiedet.
Ein Großteil der Daten wurde von ehrenamtlichen Bürgerwissenschaftlern und Naturkundegesellschaften wie der GdO zusammengetragen. „Unsere Studie unterstreicht den großen Beitrag, den dieses Engagement und die Fachexpertise dabei leisten, das Vorkommen von Arten zu untersuchen. Unsere Ergebnisse deuten auf einen stärkeren Rückgang in den letzten zehn Jahren hin, was deutlich macht, wie wichtig die Unterstützung durch Fachgesellschaften und Bürgerwissenschaften auch in der Zukunft sein wird“, sagt Letztautorin Prof. Aletta Bonn von UFZ, FSU und iDiv.
Diese Studie wurde u.a. durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG; FZT 118) im Rahmen des Projektes “sMon – Biodiversitätstrends in Deutschland” gefördert. sMon ist ein iDiv-Syntheseprojekt mit dem Ziel, exemplarische Datensätze zu verschiedenen Taxa und Habitaten zusammenzuführen und die Möglichkeiten und Grenzen für die Analyse von Biodiversitätsveränderungen auszuloten. Darauf aufbauend sollen Perspektiven für zukünftige Monitoring-Programme in Deutschland abgeleitet werden. sMon bringt Vertreterinnen und Vertreter der Landesämter aller Bundesländer, Mitglieder verschiedener Fachgesellschaften sowie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zusammen.
Originalpublikation:
Diana E. Bowler, David Eichenberg, Klaus-Jürgen Conze, Frank Suhling, Kathrin Baumann, Theodor Benken, André Bönsel, Torsten Bittner, Arne Drews, André Günther, Nick J.B. Isaac, Falk Petzold, Marcel Seyring, Torsten Spengler, Bernd Trockur, Christoph Willigalla, Helge Bruelheide, Florian Jansen, Aletta Bonn (2021). Winners and losers over 35 years of dragonfly and damselfly distributional change in Germany. Diversity and Distributions. https://onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1111/ddi.13274

18.06.2021, Schweizerischer Nationalfonds SNF
Die komplexe Organisation einer Ameisenkolonie
Eine vom Schweizerischen Nationalfonds unterstützte Studie über räuberische Ameisen erklärt, wie kleine Unterschiede zwischen Einzeltieren die kollektive Organisation der Kolonie verändern.
Soziale Insekten leben in Kolonien, die sich völlig autonom organisieren. Indem Forschende die demografische, genetische und morphologische Struktur von Ameisenvölkern untersuchten, konnten sie zeigen, wie sich diese auf die kollektive Organisation auswirkt. Die vom Schweizerischen Nationalfonds (SNF) unterstützte Studie ist in PLOS Biologie (*) erschienen.
Als Modell diente dabei die klonale Räuberameise (Ooceraea biroi). Die asiatische Ameisenart eignet sich für solche Studien, weil die Forschenden das Alter der Einzeltiere sowie den genetischen und morphologischen Aufbau der Kolonien leicht kontrollieren können.
Ihre Arbeit zeigt nun auf, dass die Organisation in einer homogenen Kolonie angepasst wird, sobald Tiere dazukommen, die sich vom Rest der Kolonie unterscheiden. „Bei Grössenunterschieden erhöht sich die Arbeitsteilung in der Kolonie, während genetische Unterschiede sie reduzieren“, erklärt Yuko Ulrich, Erstautorin und damals Leiterin der Studie an der Universität Lausanne. „Tatsächlich führt jede Heterogenität zu ganz bestimmten Veränderungen im Verhalten der Kolonie“, sagt die Forscherin.
Wer spült das Geschirr?
Die Ergebnisse überraschten die Forschenden, da sie teilweise im Widerspruch zu gängigen Theorien über soziale Gruppen stehen. „Bis anhin ist man davon ausgegangen, dass das individuelle Verhalten von der Toleranzschwelle gegenüber Reizen bestimmt ist“, sagt Yuko Ulrich. Um dieses Prinzip zu erklären, zieht die Wissenschaftlerin eine Parallele zum Menschen: „In einer Familie reagieren einige Individuen viel schneller als andere auf einen Haufen schmutziges Geschirr. Sie werden daher häufiger den Abwasch machen. Das Resultat ist eine Arbeitsteilung.“ Mit diesem Prinzip lassen sich aber die Beobachtungen der Forschenden nicht erklären.
Um diese zu erklären, mussten die Forschenden das theoretische Modell so erweitern, dass es nicht nur die Reiztoleranz, sondern auch die Effizienz jeder Ameise bei der Ausführung einer Aufgabe und die Gesamtarbeitslast in der Kolonie berücksichtigt.
Das Modell müsse noch getestet werden, aber es eröffne bereits neue Möglichkeiten, erklärt Yuko Ulrich. Es verändert das Verständnis für andere komplexe biologische Systeme, in denen eine grosse Anzahl heterogener Individuen interagiert. Dadurch werden präzisere Vorhersagen über das Verhalten solcher Systeme möglich.
Automatisiertes Tracking einzelner Tiere
Die Forschenden arbeiteten mit 120 Ameisenkolonien (homogen und heterogen), die sie in durchsichtigen Petrischalen aufzogen. Um das Verhalten jeder einzelnen Ameise ohne Unterbruch beobachten zu können, entwickelten sie ein automatisiertes Tracking-System. „Es ist das erste Mal, dass ein so gross angelegtes System in einer Ameisenstudie eingesetzt wurde. Ohne diese Art von Software wäre die Nachverfolgung unmöglich gewesen“, erklärt Yuko Ulrich. Jedes Experiment dauerte etwa einen Monat. Pro Kolonie wurden etwa 7000 Bilder aufgenommen.
Jede Ameise wurde mit einer Farbkombination bemalt, damit die Software sie eindeutig identifizieren kann. So ist es möglich, die Bewegungen jedes einzelnen Tieres aufzeichnen und einen Index der Arbeitsteilung zu generieren. Dieser bildet nicht die Tätigkeit jedes Tieres ab, sondern gibt Hinweise auf seine Rolle. „Wenn sich eine Ameise oft in der Nähe des Nestes aufhält, ist es wahrscheinlich, dass sie sich um die Larven kümmert. Eine Ameise, die sich viel bewegt, ist eher für die Nahrungssuche zuständig“, erklärt die Wissenschaftlerin.
Originalpublikation:
(*) Y. Ulrich, M. Kawakatsu, C. K. Tokita, J. Saragosti, V. Chandra, C. E. Tarnita, D. J. C. Kronauer: Response thresholds alone cannot explain empirical patterns of division of labor in social insects, PLOS Biology (2021). https://journals.plos.org/plosbiology/article?id=10.1371/journal.pbio.3001269

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