Neues aus Wissenschaft und Naturschutz

29.03.2021, Eberhard Karls Universität Tübingen
Affen erfinden das Rad immer wieder neu
Forschungsteam der Universität Tübingen weist nach, dass Menschenaffen ihre Verhaltensmuster in jeder Generation neu erlernen müssen
Menschenaffen geben ihre Verhaltensweisen nicht an die nächste Generation weiter. Sie kopieren das Wissen ihrer Artgenossen nicht, sondern lernen es in jeder Generation neu – im Gegensatz zum Menschen. Dies zeigt eine Studie von Dr. Alba Motes-Rodrigo und Dr. Claudio Tennie von der Arbeitsgruppe „Werkzeuge und Kultur bei frühen Homininen“ der Universität Tübingen. „Affen sind darauf angewiesen, das sprichwörtliche Rad immer wieder neu zu erfinden. Die Form des Rades ändert sich dabei aber nicht“, erklärt Tennie.
Das Team aus dem Fachbereich Ältere Urgeschichte und Quartärökologie suchte in allen veröffentlichten Berichten über Menschenaffen nach Aussagen über lokal einzigartige Verhaltensmuster, wie zum Beispiel über Schimpansen, die Blätter als Löffel zum Wassertrinken einsetzten. Anschließend wurden diese systematisch auf Richtigkeit untersucht. Auf diese Weise wurde auf indirektem Wege überprüft, ob Menschenaffenkulturen auf den gleichen Mechanismen wie menschliche Kulturen aufgebaut sind. Die Studie wurde im Fachmagazin Biological Reviews veröffentlicht.
In der menschlichen Kultur werden Verhaltensweisen dadurch erlernt, dass Menschen sich gegenseitig beobachten und kopieren. So wird wertvolles Wissen an die nächste Generation weitergegeben. Hierbei werden Verhaltensweisen oft leicht abgewandelt, denn Menschen machen beim Kopieren Fehler oder fügen selbst Aspekte hinzu. Auf diese Weise verändert sich menschliche Kultur von Generation zu Generation. Alba Motes vergleicht dies mit dem Spiel „Stille Post“, bei dem ein Spieler seinem Nachbarn einen Begriff ins Ohr flüstert. Der Begriff wird von Mitspieler zu Mitspieler weitergegeben, was durch Hörfehler am Ende häufig zu einem anderen Begriff führt als dem Ursprungswort.
Wann genau die Mechanismen des Kopierens, die der menschlichen Kultur zugrunde liegen, entstanden sind, wird kontrovers diskutiert. Eine These besagt, dass die Fähigkeit, Verhalten zu kopieren, schon Millionen von Jahren zurückreicht und dass auch Menschenaffen einander kopieren. Eine andere These geht davon aus, dass Menschenaffen und auch viele Vorfahren der Menschen einander nicht kopieren.
Alba Motes-Rodrigo und Claudio Tennie suchten mit einer neuen Herangehensweise nach Beweisen für den Prozess des Kopierens bei Menschenaffen. Sie versuchten, Verhaltensweisen in Affenpopulationen zu identifizieren, die Veränderungen von Generation zu Generation durchlaufen haben. „Beruht das Verhalten der Menschenaffen wirklich auf Nachahmung, wie es bei Menschen der Fall ist, würden wir erwarten, dass sich ihr Auftreten kulturell verändert hat und es deshalb inzwischen einzelne Verhaltensweisen geben müsste, die nur auf eine Population an einem Ort beschränkt sind“, erklärt Motes.
Das Team suchte deshalb nach regional einzigartigen Verhaltensmustern von Menschenaffen, sowohl in allen veröffentlichten Berichten über Menschenaffen sowie in Gesprächen mit Experten für Menschenaffen. Ihr Ergebnis: Die überwältigende Mehrheit der Verhaltensweisen von Menschenaffen ist nicht regional begrenzt. Aus hunderten Verhaltensmustern konnten lediglich drei nicht andernorts nachgewiesen werden.
Diese Ergebnisse zeigen dem Forschungsteam zufolge, dass die Kultur der Affen durch andere Lernmechanismen aufrechterhalten wird als die menschliche Kultur. Im Gegensatz zum Menschen kopieren sich Affen nicht gegenseitig, sondern erfänden jede ihrer Verhaltensweisen in jeder Population und in jeder Generation immer wieder neu. „Dabei werden sie lediglich durch andere zu diesen Neuerfindungen angeregt, ohne dass die jeweilige Form der Verhaltensweise kopiert wird. Diese Erkenntnis erscheint überraschend, wird aber von neuesten Studien der vergleichenden Kognitionswissenschaften gestützt“, sagt Tennie. In diesen Untersuchungen kopierten Menschenaffen nur dann neue Verhaltensweisen, wenn sie vorher durch Menschen auf Verhaltenskopien trainiert worden waren.
Originalpublikation:
Alba Motes-Rodrigo and Claudio Tennie: The Method of Local Restriction: in search of potential great ape culture-dependent forms. Biological Reviews, DOI 10.1111/brv.12710

30.03.2021, Veterinärmedizinische Universität Wien
Fitte Zugvögel: Gezielter Schutz der Brustmuskulatur
Einem Schutzmechanismus von Zugvögeln ist nun ein europäisches Forschungsteam unter Leitung der Vetmeduni Vienna (Konrad-Lorenz-Institut für Vergleichende Verhaltensforschung) auf die Spur gekommen. Demnach sind Wachteln in der Lage, ihre Brustmuskeln bei ihren Wanderungsflügen gezielt vor oxidativem Stress zu schützen. Die ForscherInnen gehen davon aus, dass dieser Mechanismus ein wesentlicher Grund dafür ist, dass die Zugvögel ihre weiten Flüge überhaupt erfolgreich bewältigen können.
Eine erhöhte Kalorienaufnahme, wie sie bei Zugvögeln bei ihren Flugwanderungen zu beobachten ist, kann die Produktion von reaktiven Sauerstoff- und Stickstoffverbindungen erhöhen. Diese freien Radikale können lebenswichtige Moleküle, einschließlich Nukleinsäuren, Proteine und Lipide, schädigen – es kommt zum sogenannten oxidativen Stress. Allerdings haben aerobe Organismen verschiedene Abwehrstrategien, die sowohl exogene als auch endogen produzierte Antioxidantien nützen, um solchen Schäden entgegenzuwirken. Studien an verschiedenen Wirbeltierarten zeigen, dass Veränderungen des oxidativen Status Fitness-Konsequenzen haben können, beispielsweise indem die Überlebenswahrscheinlichkeit und das Fortpflanzungsverhalten beeinflusst wird.
Wenn Zugvögel wandern, verändert sich der oxidative Status im Gewebe
Ein Forschungsteam um Valeria Marasco vom Konrad-Lorenz-Institut für Vergleichende Verhaltensforschung der Vetmeduni Vienna untersuchte nun an einer in Gefangenschaft gehaltenen Population von Wachteln (Coturnix coturnix), ob das Auftreten des Migrationsphänotyps, der vor allem durch eine erhöhte Nahrungsaufnahme und -zufuhr signalisiert wird, mit Änderungen des oxidativen Status einhergeht. Dazu simulierten die ForscherInnen eine Herbstwanderung, auf die eine Überwinterungsphase folgte. Dabei untersuchten die WissenschafterInnen mit Thiobarbitursäure-reaktiven Substanzen (TBARS), Superoxiddismutase (SOD) und Glutathionperoxidase (GPx) drei Marker für den oxidativen Status. Diese verändern sich laut Valeria Marasco bei der Flugwanderung deutlich: „Wir fanden heraus, dass das Auftreten des Migrationsphänotyps mit höheren TBARS-Spiegeln in der Leber, niedrigeren SOD-Werten in roten Blutkörperchen, erhöhten GPx im Brustmuskel und Veränderungen der roten Blutkörperchen und der Leber verbunden ist.“
Brustmuskulatur wird vor oxidativem Stress geschützt
Allerdings fanden die ForscherInnen in keinem der untersuchten Gewebe einen Zusammenhang zwischen der Nahrungsaufnahme und der Variation der Marker für den oxidativen Status, obwohl die Nahrungsaufnahme bei den Vögeln in der Wanderungsphase höher war. Die Zunahme des Körpergewichts korrelierte jedoch positiv mit der GPx-Aktivität der Muskeln, als die Vögel in die vormigrierende Mastphase eintraten, während die Abnahme des Körpergewichts negativ mit der GPx der Muskeln korrelierte, als die Vögel in die Überwinterungsphase wechselten. Solche Korrelationen fehlten in roten Blutkörperchen und in der Leber. Daraus ergibt sich laut Marasco die folgende Schlussfolgerung: „Wir gehen davon aus, dass Vögel während des Auftretens des Migrationsphänotyps die oxidativen Kosten für die Leber strategisch reduzieren könnten, um die Brustmuskeln zu schützen, da diese von grundlegender Bedeutung sind, um Wanderungsflüge erfolgreich zu absolvieren.“
Geschlechtsspezifische Unterschiede bei einem der Stress-Marker
Zusammenfassend betonen die ForscherInnen, dass die soeben im Journal of Experimental Biology veröffentlichte Studie neue und eindeutige Beweise dafür liefert, dass Vögel beim Übergang in den wandernden und den nicht wandernden Zustand deutliche gewebespezifische Veränderungen des oxidativen Status erfahren. Laut den ForscherInnen sind nun weitere Studien an verschiedenen Vogelarten in freier Wildbahn – idealerweise mit einer natürlichen abwechslungsreichen Ernährung – erforderlich, um die Annahme zu validieren, dass Zugvögel ihre Flugmuskulatur strategisch vor schädlichen Erhöhungen des oxidativen Status schützen und damit ihre Fitness bei Wanderungsbewegungen verbessern. Zudem deuten die Daten zu GPx in der Migrationsphase auf geschlechtsspezifische Unterschiede in Bezug auf die roten Blutkörperchen und in der Leber hin. Weitere Studien sind nun nötig, um abzuklären, ob diese geschlechtsspezifischen Unterschiede funktionell mit den Markern für oxidativen Stress zusammenhängen.
Originalpublikation:
Der Artikel „Controlled expression of the migratory phenotype affects oxidative status in birds“ von Valeria Marasco, Manrico Sebastiano, David Costantini, Gianni Pola und Leonida Fusani wurde im Journal of Experimental Biology veröffentlicht. https://jeb.biologists.org/content/224/6/jeb233486

29.03.2021, Stiftung Zoologisches Forschungsmuseum Alexander Koenig, Leibniz-Institut für Biodiversität der Tiere
Forschendenteam extrahiert die Erbinformation von vor bis zu mehr als 100 Jahren gesammelten Schmetterlingen
Dr. Marianne Espeland, Kuratorin der Schmetterlingssammlung, Dr. Christoph Mayer, Bioinformatiker, und weitere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter vom Zoologischen Forschungsmuseum Alexander Koenig – Leibniz-Institut für Biodiversität der Tiere (Museum Koenig) in Bonn und der Lund Universität in Schweden haben in einer großen Studie die Erbinformation aus schon vor langer Zeit gesammelten und getrockneten Schmetterlingen extrahiert. Unter anderem ist es gelungen, die Erbinformation mehrerer hundert Gene eines Schmetterlings zu gewinnen, der vor 129 Jahren in Tibet gesammelt wurde.
Seit etwa 100 Jahren gehört dieser Falter zur umfangreichen Schmetterlingssammlung des Museum Koenig mit etwa 2 Millionen Individuen.
Erst jetzt gibt das Tier seine wertvollen Informationen preis, die uns die Evolution der Schmetterlinge besser verstehen lässt. „Die veröffentlichte Studie ist ein wichtiger Meilenstein um das Erbgut von längst ausgestorbenen oder extrem seltenen Arten für die Forschung zu erschließen“ erläutert Espeland. „Wer die Verbreitung, Abstammung und Diversität von Lebewesen verstehen will, der muss deren Erbgut vergleichen“ ergänzt Mayer. Um die Extraktion des Erbguts zu ermöglichen, sind moderne Techniken notwendig. Zusätzlich war die Entwicklung spezifischer Software erforderlich, die am Museum Koenig erfolgte.
Sammlungen wie die des Museum Koenig sind besonders wertvoll, unter anderem weil sie es uns erlauben, die Artenvielfalt in vergangenen Zeiten mit der heutigen zu vergleichen erklärten die Bonner Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler.
Insgesamt wurde am Museum Koenig die Erbinformation von mehreren Dutzend getrockneten Schmetterlingen analysiert und mit der bekannten Erbinformation von über hundert Schmetterlingen verglichen. Die Klärung der Stammesgeschichte der Schmetterlinge konnte damit signifikant verbessert werden. Die aktuelle Studie wurde in der Fachzeitschrift “Systematic Entomology” veröffentlicht.
Quelle
Adding leaves to the Lepidoptera tree: Capturing hundreds of nuclear genes from old museum specimens
Autoren: Christoph Mayer, Lars Dietz, Elsa Call, Sandra Kukowka, Sebastian Martin, Marianne Espeland
“Systematic Entomology”, Version of Record online:29 March 2021
DOI: https://doi.org/10.1111/syen.12481
https://onlinelibrary.wiley.com/toc/13653113/0/0

31.03.2021, Museum für Naturkunde – Leibniz-Institut für Evolutions- und Biodiversitätsforschung
Wie entstand unser Knochenstoffwechsel? Einblick in die Evolution der Knochen
Forschende am Museum für Naturkunde Berlin und am Musée national d’histoire naturelle Paris haben erstmals in 400 Millionen Jahre alten Fischfossilien Knochenzellen untersucht um herauszufinden, wie das hochkomplexe Netzwerk evolutiv entstand. Die Proben aus der Forschungssammlung des Museums wurden am Helmholtz-Zentrum Berlin im Rasterelektronenmikroskop untersucht. Die Forschenden fanden heraus, dass sogar in frühen fossilen Wirbeltieren Knochenzellen die Knochenmineralien auflösten, speicherten und wiederherstellen konnten. Diese Fähigkeit verschaffte den Fischen mit Knochenzellen einen Vorteil der möglicherweise so tiefgreifend war, dass er die Evolution der Wirbeltiere veränderte.
Ob Vögel, Fische oder Säugetiere, alle Wirbeltiere besitzen ein inneres Gerüst aus Knochen. Bei fast allen Wirbeltieren (mit Ausnahme von bestimmten Knochenfischen) besteht die Knochensubstanz aus einem komplexen Verbund aus Mineralien, Proteinen und lebenden Knochenzellen (Osteozyten). Dabei sind die Knochenzellen untereinander durch winzige Kanälchen verbunden, sodass sie Stoffe und Signale austauschen können und der Knochen wachsen oder sich regenerieren kann. Doch diese komplexe Architektur aus lebendigem und anorganischem Material musste im Lauf der Evolution erst entstehen.
Wie und wann das geschah, untersucht ein Team am Museum für Naturkunde Berlin um Dr. Florian Witzmann. Nun haben sie einen möglichen Meilenstein in dieser Entwicklung entdeckt – an Objekten aus der Forschungssammlung des Museums für Naturkunde Berlin, einer der weltweit größten Forschungsinfrastrukturen auf diesem Gebiet
Sie untersuchten dafür fossile Proben aus den Knochenplatten zweier früher Fischgattungen, die vor rund 400 Millionen Jahren lebten. Eine Probe stammte von Tremataspis mammillata, einem kieferlosen gepanzerten Fisch, der im späten Silur vor etwa 423 Millionen Jahren lebte und zu den sogenannten Osteostraci gehört. Die zweite, deutlich jüngere Probe war ein Stück Knochen aus dem kiefertragenden Fisch Bothriolepis trautscholdi, der im späten Devon vor rund 380 Millionen Jahren lebte und zu den Panzerfischen (Placodermi) gehört. „Bei diesen frühen Wirbeltieren war zwar schon bekannt, dass sie Knochenzellen besaßen, wir wussten aber wenig über die Art und Weise ihrer Verbindungen untereinander sowie über die Feinstrukturen der Hohlräume, in denen sich die Knochenzellen im lebenden Tier befanden. Um genauere Aussagen über den Knochenstoffwechsel machen zu können, mussten wir detailliertere Abbildungen dieser Strukturen haben, als bisher verfügbar waren“, sagt Witzmann.
Um dies möglich zu machen, schlug der HZB-Experte Dr. Ingo Manke ein Verfahren vor, das am HZB-Campus in Wannsee im Labor für Elektronenmikroskopie zur Verfügung steht: Die FIB-SEM-Tomographie am ZEISS Crossbeam 340. Dabei trägt ein fokussierter Gallium-Ionenstrahl kontinuierlich Material von der Probenoberfläche ab und gräbt sich nach und nach weiter in die Probe hinein – zeitgleich tastet ein Elektronenstrahl den frisch abgetragenen Teil der Probe ab und liefert Daten für die Erstellung von 3D-Abbildungen mit einer Auflösung, die mehr als hundertmal genauer ist als bei der Computertomographie.
Die aufwändige Analyse der hochaufgelösten 3D-Aufnahmen zeigt im Detail, wie das Netzwerk aus Hohlräumen und Kanälchen aufgebaut war. „Das belegt, dass unsere frühen, noch kieferlosen Vorfahren bereits Knochen mit einer ähnlichen inneren Struktur und wahrscheinlich vielen ähnlichen physiologischen Fähigkeiten besaßen wie wir selbst,“ erklärt Witzmann.
„Das wichtigste paläobiologische Ergebnis ist, dass wir in diesen frühesten Knochenproben auch direkte Spuren eines Stoffwechsels erkennen können“, sagt Yara Haridy, die am Museum für Naturkunde Berlin ihre Doktorarbeit macht. Durch lokale Osteolyse, also Auflösung der Knochenmatrix, welche die Knochenzellen umgab, war der Organismus wahrscheinlich in der Lage, in Notzeiten seinen Bedarf an Phosphor zu decken. Damit hatte er einen Vorteil im Vergleich zu seinen ursprünglicheren Zeitgenossen, die zellfreien Knochen besaßen, deren Knochen also keine Osteozyten enthielten. „Dieser Vorteil hat offenbar dazu geführt, dass sich bei Wirbeltieren Knochen mit Knochenzellen weitgehend durchsetzen konnten, also Knochen, wie wir sie auch bei uns Menschen kennen. Dies ist ein wichtiger Schritt zu der Erkenntnis, wie unser eigener Knochenstoffwechsel entstanden ist“, erklärt Haridy.
Publikation:
Bone Metabolism and Evolutionary Origin of Osteocytes; Yara Haridy*, Markus Osenberg*, André Hilger, Ingo Manke, Donald Davesne, Florian Witzmann
Naturkundemuseum Berlin, Yara Haridy (federführend),
https://advances.sciencemag.org/lookup/doi/10.1126/sciadv.abb9113

31.03.2021, Universität Innsbruck
Menschheitsgeschichte: Früher Homo sapiens im Outback Afrikas
Ein internationales Forscher*innen-Team mit Beteiligung des Innsbrucker Geologen Michael Meyer liefert erstmals mehr als 100.000 Jahre alte Belege für moderne Menschen in der Kalahari-Wüste im Landesinneren Afrikas. Damit sind die Ursprünge der menschlichen Spezies nicht mehr nur in Küstennähe zu finden. Die Ergebnisse wurden im Fachmagazin Nature veröffentlicht.
Die Wiege des modernen Menschen mit modernen kognitiven Fähigkeiten liegt im südlichen Afrika, wie zahlreiche archäologische Funde belegen. Viele dieser archäologischen Stätten befinden sich in Küstennähe. Das führte bislang zur weit verbreiteten Annahme, dass die Entwicklung des Homo sapiens zu einem sozialen und kulturfähigen Lebewesen – mit geistigen, kreativen Denkfähigkeiten vergleichbar mit den heutigen – mit dem Meer zusammenhängt. Neue archäologische Funde in der südafrikanischen Kalahari, sozusagen dem „Afrikanischen Outback“, werfen aber nun ein anderes Licht auf die Geschichte des Menschen und belegen diese These nicht. „Vielfach wird die Meinung vertreten, dass Verhaltensinnovationen in der frühen Menschheitsgeschichte mit der Küste und Meeresressourcen verbunden sind. In der vorliegenden Studie haben wir Funde unter einem Felsvorsprung mehr als 600 Kilometer im Landesinneren analysiert und ein Alter von 105.000 Jahren festgestellt. Die Funde belegen, dass diese steinzeitlichen Binnenmenschen Verhaltensweisen und kognitive Fähigkeiten an den Tag legten, die gleichwertig sind mit jenen, die man beim Homo sapiens zur gleichen Zeit in unmittelbarer Küstennähe antrifft“, erklärt Michael Meyer. Der Geologe leitet das Lumineszenz-Labor am Institut für Geologie der Universität Innsbruck und war verantwortlich für die Datierung der Sedimentproben aus den südafrikanischen Ausgrabungen gemeinsam mit dem damaligen Post-Doc-Forscher der Universität Innsbruck Luke Gliganic.
Felsvorsprung als spiritueller Ort
Die hier gelungenen Funde sind ein Glücksfall, da es nur sehr wenige gut erhaltene und datierbare archäologische Stätten im Inneren Afrikas gibt. „Ein Felsen auf dem so genannten Ga-Mohana-Hügel in der Kalahari ist so eine Stätte. Unsere Analysen von diesem bis heute für die einheimischen Menschen wichtigen Ort zeigen, dass modernes menschliches Verhalten schon früh auch im Landesinneren zu finden war – und um nichts jenem in Meeresnähe nachstand. In der Kalahari-Savanne herrschte zu jener Zeit ein feuchteres Klima mit Perioden vermehrter Niederschläge. Wir gehen daher davon aus, dass frühe moderne Menschen auch andere Regionen des afrikanischen Kontinents besiedelt haben“, sagt die Erstautorin der Studie, Jayne Wilkins von der Griffith University in Australien. Der Felsvorsprung am Ga-Mohana-Hügel wurde bereits vor mehr als 100.000 Jahren und auch heute als spiritueller Ort genutzt, daher ging das Team außerordentlich vorsichtig vor, um keine Schäden zu hinterlassen. Die Forscher*innen fanden 22 weiße Kalzitkristalle und Fragmente von Straußeneierschalen, letztere dienten den Frühmenschen als Wasserbehälter. „Wir vermuten, dass es sich bei den geometrischen Kalzitkristallen um bewusst gesammelte Objekte handelt, die spirituelle und rituelle Zwecke erfüllten“, ergänzt die Archäologin.
Sandkorn als Miniuhr
Zur Datierung der Funde wurde die Lumineszenz-Methode herangezogen. Die Optisch Stimulierte Lumineszenz (OSL)-Datierung basiert auf der Messung von in Sandkörnern gespeichertem Licht und ist eines der wichtigsten Werkzeuge zur Altersbestimmung in den Erdwissenschaften und der Archäologie. „Bei dieser Datierungsmethode werden natürliche Lichtsignale genutzt, die sich im Laufe der Zeit in Quarz- und Feldspatkörnern anreichern. Dabei kann man sich jedes Korn wie eine winzige Uhr vorstellen, die wir unter kontrollierten Laborbedingungen ‚ablesen‘. Das Lichtsignal lässt uns auf das Alter der archäologischen Sedimentschichten schließen. Je mehr Licht, desto älter das Sediment“, beschreibt Michael Meyer die Vorgehensweise. Im OSL-Labor an der Universität Innsbruck werden bereits seit mehreren Jahren Untersuchungen dieser Art durchgeführt und brisante geologische und archäologische Forschungsfragen bearbeitet, die von Afrika, über Australien, das Tibetische Hochplateau und den Alpenraum reichen. Dabei geht das Innsbrucker Team besonders präzise vor und arbeitet mit jedem Sandkorn „einzeln“: „Wir verwenden Laserstimulation und statistische Modelle, um aus Tausenden einzeln gemessenen Quarzkörnern das Alter des Sediments zu bestimmen. Das ist sehr arbeits- und zeitintensiv, lohnt sich aber auf jeden Fall, da wir dadurch besonders robuste Altersdaten erhalten und viel präzisere Aussagen zu Mensch-Umweltdynamiken treffen können, als mit herkömmlichen Ansätzen möglich wäre“, so der Geologe. So auch in dieser Studie am Ga-Mohana-Hügel, wo die auf Einzelkorndatierung basierenden OSL-Alter mit unabhängig datierten Klimaarchiven perfekt zusammenpassten und so einen wesentlich detaillierteren Einblick in die menschlichen Evolutionsgeschichte und die gleichzeitig ablaufenden Klima und Umweltveränderungen ermöglichte.
Publikation:
Jayne Wilkins, Benjamin J. Schoville, Robyn Pickering, Luke Gliganic, Benjamin Collins, Kyle S. Brown, Jessica von der Meden, Wendy Khumalo, Michael C. Meyer, Sechaba Maape, Alexander F. Blackwood, Amy Hatton (2021): Innovative Homo sapiens behaviors 105,000 years ago in a wetter Kalahari. Nature
DOI: 10.1038/s41586-021-03419-0, Link: https://dx.doi.org/10.1038/s41586-021-03419-0

31.03.2021, Deutsches Zentrum für integrative Biodiversitätsforschung (iDiv) Halle-Jena-Leipzig
Biodiversität kann sich positiv auf mentale Gesundheit auswirken
In Regionen mit einer höheren Vielfalt an Pflanzen- und Vogelarten geht es den Menschen, die dort leben, besser. So lassen sich die Ergebnisse einer Studie unter Leitung des Deutschen Zentrums für integrative Biodiversitätsforschung (iDiv), des Senckenberg Biodiversität und Klima Forschungszentrums (SBiK-F) und der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel zusammenfassen, die im Fachmagazin Landscape and Urban Planning veröffentlicht wurde. Den Forschenden zufolge profitiert insbesondere die mentale Gesundheit von einem größeren Artenreichtum, ein direkter Einfluss auf die physische Gesundheit lässt sich hingegen nicht nachweisen.
Die Studie, die von Forschenden von iDiv, SBiK-F und der Universität Kiel geleitet wurde, analysierte den Zusammenhang zwischen Biodiversität und menschlicher Gesundheit in Deutschland. Die Forschenden unterschieden zwischen der mentalen und der physischen Gesundheit und griffen auf Daten zu fast 15.000 Haushalten und 30.000 Personen zurück, die durch das Sozio-oekonomische Panel (SOEP) gesammelt wurden. Als Indikatoren für die Biodiversität nutzten sie Daten zur Artenvielfalt von Pflanzen und Vögeln sowie die Populationsdichte von Vögeln.
In Landkreisen mit mehr Pflanzen- und Vogelarten geht es den Menschen besser
Die Ergebnisse zeigen eine höhere mentale Gesundheit der Menschen in Landkreisen mit einer größeren Vielfalt an Pflanzen- und Vogelarten. „Wenn also eine Person in einem Kreis mit vielen verschiedenen Pflanzen und Vögeln lebt, dann geht es dieser Person im Durchschnitt mental besser als Menschen in Kreisen mit niedrigerer Artenvielfalt“, sagt Erstautor Joel Methorst, der die Studie im Rahmen seiner Promotion bei iDiv, SBiK-F und der Goethe-Universität Frankfurt leitete und nun an der Helmut-Schmidt-Universität in Hamburg forscht. Darüber hinaus ließ sich feststellen, dass sich die Nähe zu öffentlichen Parks und Grünflächen positiv auf die Gesundheit auswirkt. Je näher der Park, desto besser geht es auch den Menschen.
Entgegen der Erwartung der Forschenden scheint die Populationsdichte von Vögeln jedoch nicht relevant für die mentale Gesundheit zu sein. „Das könnte daran liegen, dass manche Arten mit hoher Populationszahl wie Tauben, Möwen oder Krähen nicht immer so beliebt in der Bevölkerung sind“, erklärt Joel Methorst.
Biodiversität wirkt sich auch indirekt auf die Gesundheit aus
Nicht nachweisen ließ sich ein Zusammenhang zwischen der Artenvielfalt und der physischen Gesundheit. Die Forschenden gehen dennoch davon aus, dass es einen indirekten Zusammenhang gibt: Wer gerne in der Natur aktiv ist, um Tiere und Pflanzen zu erleben, kann mit dieser körperlichen Aktivität auch seinen Gesundheitszustand verbessern.
Positive Effekte lassen sich jedoch nicht nur durch ein direktes Erleben der Biodiversität – also ein Ausflug in die Natur oder in den Garten – generieren. Eine Umgebung mit einer höheren Zahl an Pflanzen- und Vogelarten kann sich auch indirekt positiv auf die Gesundheit auswirken, da eine größere Artenvielfalt oft mit besseren Umweltbedingungen korreliert.
Naturschutz als Maßnahme der Gesundheitsförderung
Einen kausalen Zusammenhang zwischen der Zahl der Arten und der mentalen oder physischen Gesundheit konnten die Forschenden nicht ermitteln. Dazu müssten beispielsweise Daten für verschiedene Zeitpunkte vorhanden sein. Zeitreihen zur Biodiversität in Deutschland sind derzeit jedoch noch nicht verfügbar.
Dennoch lassen sich aus den Untersuchungen wertvolle Schlüsse ziehen. „Unsere Ergebnisse zeigen, dass man Naturschutz durchaus auch als Maßnahme zur Gesundheitsförderung verstehen kann“, sagt Letztautorin Prof. Katrin Rehdanz von der Universität Kiel. „Vor allem Stadtplanung und Grünflächenämter sollten in Biodiversität investieren, um so die Gesundheit der städtischen Bevölkerung zu fördern.“
Diese Forschungsarbeit wurde u.a. gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG; FZT-118).
Originalpublikation:
Joel Methorst, Aletta Bonn, Melissa Marselle, Katrin Böhning-Gaese, Katrin Rehdanz (2021). Species richness is positively related to mental health – A study for Germany. Landscape and Urban Planning, DOI: 10.1016/j.landurbplan.2021.104084

31.03.2021, Helmholtz-Zentrum Potsdam – Deutsches GeoForschungsZentrum GFZ
Voraussetzungen für Leben schon vor 3,5 Milliarden Jahren
Erstmals konnten in so alten Flüssigkeiten organische Moleküle nachgewiesen werden, als mögliche Nährstoffe für Ur-Mikroben.
Mikrobielles Leben hatte auf unserem Planeten bereits vor 3,5 Milliarden Jahren die nötigen Rahmenbedingungen, um zu existieren. Zu dieser Erkenntnis kam ein Forschungsteam nach Untersuchungen mikroskopisch kleiner Flüssigkeitseinschlüsse in Bariumsulfat (Baryt) aus der Dresser Mine in Marble Bar, Australien. In ihrer Publikation „Ingredients for microbial life preserved in 3.5-billion-year-old fluid inclusions” legen die Forschenden dar, dass es bereits zu diesem Zeitpunkt organische Kohlenstoffverbindungen gegeben hat, die als Nährstoffe für mikrobielles Leben dienen konnten. An der im Fachmagazin „Nature Communications“ erschienenen Studie des Erstautors Helge Mißbach von der Universität Göttingen war auch Volker Lüders vom Deutschen GeoForschungsZentrum (GFZ) beteiligt. Er hat in der Sektion Organische Geochemie Kohlenstoff-Isotopenanalysen an Gasen in Flüssigkeitseinschlüssen durchgeführt.
Flüssigkeitseinschlüsse zeigen Potenzial für urzeitliches Leben
Lüders bewertet die Resultate als überraschend, warnt aber davor, diese fehlzuinterpretieren: „Man darf die Studienergebnisse nicht als direkten Nachweis für frühes Leben verstehen“, sagt der GFZ-Forscher. Die Befunde an den 3,5 Milliarden Jahre alten Flüssigkeiten zeigten vielmehr, dass damals bereits Potenzial für urzeitliches Leben vorhanden war. Ob zu dieser Zeit daraus bereits tatsächlich Leben entstand, lässt sich nicht bestimmen. Anhand der Ergebnisse wisse man nun einen „Zeitpunkt, von dem wir sagen können, es wäre möglich gewesen“, erklärt Lüders.
Australische Baryte als Geo-Archive
Flüssigkeitseinschlüsse in Mineralen sind mikroskopisch kleine Geoarchive für die Migration von heißen Lösungen und Gasen in der Erdkruste. Primäre Flüssigkeitseinschlüsse wurden direkt während des Mineralwachstums gebildet und liefern wichtige Hinweise über die Bedingungen, unter denen sie entstanden sind. Dazu gehören der Druck, die Temperatur und die Lösungszusammensetzung. Neben einer wässrigen Phase können Flüssigkeitseinschlüsse auch Gase enthalten, deren Chemie für Milliarden von Jahren bestehen bleiben kann. Die in dieser Studie untersuchten Flüssigkeitseinschlüsse stammen aus der Dresser Mine in Australien. Sie wurden während der Kristallisation von Bariumsulfat (Baryt) eingeschlossen. Das Forschungsteam hat sie umfassend auf ihre Bildungsbedingungen, Biosignaturen und Kohlenstoffisotope analysiert.
Im Zuge der Analysen stellte sich heraus, dass sie einen primordialen Stoffwechsel enthielten – und damit Energielieferanten für Leben. Die Ergebnisse von Lüders‘ Kohlenstoff-Isotopenanalyse lieferten dabei zusätzliche Hinweise auf unterschiedliche Kohlenstoffquellen. Während die gasreichen Einschlüsse von grauen Baryten Spuren von magmatischem, also anorganischem Kohlenstoff enthielten, konnten in den Fluideinschlüssen von schwarzen Baryten deutliche Hinweise auf eine organische Herkunft des Kohlenstoffs gefunden werden.
Anschlussforschung ist möglich
„Die Studie kann hohe Wellen schlagen“, sagt Lüders. Denn organische Moleküle dieser Art wurden für Flüssigkeitseinschlüsse in archaischen Mineralen bislang noch nicht nachgewiesen. Zugleich jedoch sei die Studie nur ein erster Schritt. Lüders sagt: „Die immer höhere Empfindlichkeit der Messgeräte wird der Untersuchung von festen und flüssigen Mikroeinschlüssen in Mineralen neue Tore öffnen. Messungen von Biosignaturen und Isotopenverhältnissen dürften in naher Zukunft immer exakter werden.“
Originalpublikation:
Mißbach, H., Duda, JP., van den Kerkhof, A.M., Lüders, V., Pack, A., Reitner, J., Thiel, V. – Ingredients for microbial life preserved in 3.5 billion-year-old fluid inclusions. Nat Commun 12, 1101 (2021). https://doi.org/10.1038/s41467-021-21323-z

31.03.2021, Julius Kühn-Institut, Bundesforschungsinstitut für Kulturpflanzen
Wildbienenvielfalt erfassen: Auf die Technik kommt es an
Forschungsteam stellt verschiedene Methoden zur Erfassung der Wildbienendiversität auf den Prüfstand und resümiert, welche Methoden für die zuverlässige Überwachung geeignet sind. Gemeinsame Presseinformation vom Senckenberg Deutsches Entomologisches Institut und dem Julius Kühn-Institut (JKI)
Wildbienen sind eine wichtige Indikatorgruppe für intakte Ökosysteme. Ein Team aus Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern des Julius Kühn-Instituts (JKI), des Dienstleistungszentrums Ländlicher Raum Mosel (DLR Mosel) und des Senckenberg Deutschen Entomologischen Instituts in Müncheberg hat die vier gängigen Probenahme-Methoden für Wildbienen verglichen. Sie zeigen in ihrer kürzlich im Fachjournal „Ecological Indicators“ (https://doi.org/10.1016/j.ecolind.2021.107573) erschienenen Studie, dass sich nur zwei der vier Methoden für eine zuverlässige Überwachung der Bienenvielfalt eignen.
Mehr als 50 Prozent der deutschen Wildbienenarten stehen auf der Roten Liste gefährdeter Arten, 26 sind als „extrem selten“ eingestuft und sieben Prozent sind inzwischen verschollen und wahrscheinlich dauerhaft ausgestorben. „Durch die zunehmende Industrialisierung und Versiegelung von Flächen finden Wildbienen heute immer weniger Nahrungspflanzen und geeignete Nistplätze und fehlen dort als wichtige Bestäuber“, erklärt Prof. Dr. Thomas Schmitt vom Senckenberg Deutschen Entomologischen Institut in Müncheberg und fährt fort: „Umso wichtiger ist es, ihre Vielfalt und ihre Bestände im Blick zu behalten und regelmäßig zu überwachen!“
Doch genau hier beginnt das Problem: Die verschiedenen, derzeit am häufigsten angewandten Nachweisverfahren sind schwer vergleichbar und liefern unterschiedliche Ergebnisse. Schmitt hat daher mit Forschenden des JKI an den Standorten Braunschweig und Siebeldingen sowie des DLR Mosel die gängigsten Probenahme-Methoden – das Fangen mit einem Handkescher, Farbschalen und Nistfallen – miteinander verglichen und qualitativ bewertet. In ihrem Untersuchungsgebiet, einer Weinbaulandschaft im rheinland-pfälzischen Moseltal hat das Team hierfür insgesamt 10.330 Tiere aus 134 Arten für ihren Vergleich gefangen und analysiert. Weitere 2.225 Individuen aus 99 Wildbienenarten wurden ergänzend für eine Gegenüberstellung zu den sogenannten „Malaise-Fallen“ – zeltartige Gebilde zum Fang von fliegenden Insekten – in die Auswertung einbezogen.
„Unsere Ergebnisse zeigen deutlich, dass sich nur zwei der vier Fangmethoden für Wildbienen eignen: Farbschalen und das Fangen mit dem Handnetz“, erläutert der Erstautor der Studie Dr. André Krahner vom JKI die Analyse und ergänzt: „Bei den Farbschalen haben sich insbesondere gelbe Fallen als besonders effektiv für eine vollständige Erfassung erwiesen.“
Das Fangen mit dem Kescher ist dagegen auch vom Geschick der sammelnden Person abhängig. „Zudem ist das Gelände ausschlaggebend – wer schon einmal an einem windigen und steilen Weinberg versucht hat mit dem Handnetz eine fliegende Biene einzufangen, weiß wovon ich spreche“, sagt Schmitt lachend. Diese Methode empfehlen die Beteiligten daher besonders für einen Einsatz bei größeren Arten wie Hummeln und gefährdeten Spezies. Die beiden weiteren Methoden erwiesen sich im umfassenden Wildbienen-Monitoring als wenig geeignet und dienen daher nur spezielleren Fragestellungen.
„Unsere Ergebnisse können zur Standardisierung von Erfassungsmethoden führen und bei diversen Monitoring-Programmen helfen. Sie sind daher ein wichtiger Beitrag für den Schutz der Wildbienen“, so das Resümee von Dr. Krahner, der am JKI-Institut für Bienenschutz in Braunschweig forscht.
Originalpublikation:
André Krahner, Juliane Schmidt, Michael Maixner, Matthias Porten, Thomas Schmitt (2021): Evaluation of four different methods for assessing bee diversity as ecological indicators of agro-ecosystems. Ecological Indicators, Volume 125. https://doi.org/10.1016/j.ecolind.2021.107573

01.04.2021, Deutsche Wildtier Stiftung
Covid-19-Müll wird zur Todesfalle für Wildtiere
Deutsche Wildtier Stiftung appelliert: Entsorgen Sie Schutzkleidung sachgerecht
Kleine Fische zappeln in achtlos weggeworfenen Plastikhandschuhen, die am Uferrand für sie zur Todesfalle geworden sind. Die Küken von Singvögeln strangulieren sich mit den Gummibändern von FFP-2-Masken, die die Vogeleltern als „Nistmaterial“ ins Nest geschleppt haben und Igel verheddern sich mit ihren Beinchen im Masken-Müll oder ersticken im PP-Vlies der Einmalkittel. „Noch ist das ganze Ausmaß, das durch die unsachgemäße Entsorgung von Schutzmaterialien verursacht wird, nicht abzusehen“, sagt Prof. Dr. Klaus Hackländer, Vorstand der Deutschen Wildtier Stiftung. „Doch schon jetzt steht fest, dass Wildtiere durch Covid-19-Müll zu Opfern der Pandemie werden.“
Prof. Dr. Hackländer hält die ersten Ergebnisse eines niederländischen Forscherteams der Universität Leiden, die im Fachmagazin „Animal Biology“ veröffentlicht worden sind, lediglich für die Spitze des Eisbergs. „Die Folgen für unsere Wildtiere durch Covid-19-Müll sind nicht abzusehen“, sagt er. „Aber das stille Sterben der Tiere durch unsachgemäß entsorgte Schutzkleidung hat längst begonnen!“
Kleine Vögel wie Rotkehlchen und Spatzen, aber auch Falken und Schwäne klemmen sich mit den Haltegummis der Wegwerfmasken die Flügel ein oder verheddern sich mit ihren Füßen. Die Gummis wickeln sich obendrein leicht um den Schnabel. Das alles hindert die Vögel an der Nahrungssuche und -aufnahme. Möwen, Enten und Schwäne, aber auch Säugetiere wie Füchse und Wildschweine fressen unbeabsichtigt Reste verdreckter Schutzkleidung. „Es kommt vor, dass Plastikteile, Filteraufsätze und Reste von Schutzvisieren im Tiermagen zum Hungertod führen“, sagt Prof. Dr. Hackländer. Auch in den Verdauungsorganen von Haustieren wie Hunden und Katzen finden Tierärzte immer häufiger Plastikreste, die sich als Covid-19-Schutzmaterial identifizieren lassen.
Der Vorstand der Deutschen Wildtier Stiftung ruft zur Achtsamkeit im Umgang mit Schutzkleidung auf, damit Wildtiere nicht gefährdet werden. „Abfälle wie Masken und Plastikhandschuhe nie lose wegwerfen, sondern in reißfeste, dichte Müllsäcke geben, fest verschließen und in den Restmüll geben“, sagt Prof. Dr. Klaus Hackländer. Gerade Masken sollten nie achtlos entsorgt werden. „Das Leben eines Wildtieres könnte auf dem Spiel stehen.“

01.04.2021, Johannes Gutenberg-Universität Mainz
Ameisen reagieren auf soziale Isolation
Studie stellt Veränderungen beim Verhalten und bei der Aktivität von Genen zur Immun- und Stressregulation als Folge sozialer Isolation fest
Ameisen reagieren auf soziale Isolation ähnlich wie Menschen oder andere soziale Säugetiere. Eine Studie eines israelisch-deutschen Forschungsteams ergab, dass Ameisen als Folge von sozialer Isolation ein verändertes Sozial- und Hygieneverhalten zeigen. Besonders überraschend fand das Team aber, dass im Gehirn der isolierten Ameisen Immun- und Stressgene runterreguliert wurden. „Das heißt, das Immunsystem ist weniger leistungsfähig, was wir auch als Folge von sozialer Isolation beim Menschen sehen – gerade jetzt in Zeiten von COVID-19“, teilt die Studienleiterin Prof. Dr. Susanne Foitzik von der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) dazu mit. Die Studie an einheimischen Ameisen wurde in der Fachzeitschrift Molecular Ecology veröffentlicht.
Über Folgen von Isolation bei sozialen Insekten ist bisher wenig bekannt
Menschen und andere soziale Säugetiere erleben die Isolation von ihrer Gruppe als stressig, was sich auf das Allgemeinbefinden und die körperliche Verfassung auswirkt. „Isolierte Menschen werden einsam, depressiv und ängstlich, entwickeln leichter Süchte und leiden unter einem geschwächten Immunsystem und einer beeinträchtigten Gesundheit im Allgemeinen“, sagt Prof. Dr. Inon Scharf, Erstautor der Studie und Kooperationspartner der Mainzer Forschungsgruppe von der Universität Tel Aviv. Während jedoch Isolation bei sozialen Säugetieren wie dem Menschen oder Mäusen eingehend untersucht wurde, ist weniger darüber bekannt, wie soziale Insekten in vergleichbaren Situationen reagieren – dabei leben sie in hoch entwickelten Sozialsystemen: Ameisen etwa verbringen ihr ganzes Leben als Teil ein und derselben Kolonie und sind von ihren Nestgenossinnen abhängig. Die Arbeiterinnen geben ihr eigenes Fortpflanzungspotenzial auf und kümmern sich um die Fütterung der Larven, die Reinigung und die Verteidigung des Nests und die Suche nach Nahrung, während die Königin fast ausschließlich Eier legt.
Für seine Studie über die Folgen von sozialer Isolation hat das Forschungsteam Ameisen der Art Temnothorax nylanderi untersucht. Diese Ameisen bewohnen in europäischen Wäldern Hohlräume in Eicheln und Stöcken am Boden und bilden Kolonien von ein paar Dutzend Arbeiterinnen. Junge Arbeiterinnen, die sich um die Brutpflege kümmern, wurden einzeln aus 14 Kolonien isoliert und für eine unterschiedlich lange Dauer von einer Stunde bis zu höchstens 28 Tagen getrennt gehalten. Die Studie wurde zwischen Januar und März 2019 durchgeführt und zeigt insbesondere Veränderungen in drei Punkten auf: Nach dem Ende der Isolation waren die Arbeiterinnen weniger an ihren erwachsenen Nestgenossinnen interessiert, erhöhten jedoch die Dauer des Brutkontakts; zudem reduzierten sie die Zeit, die sie mit Selbstpflege verbrachten. „Diese Veränderung im Hygieneverhalten könnte die Ameisen anfälliger für Parasiten machen, aber sie weist auch auf eine soziale Vereinsamung hin“, erklärt Susanne Foitzik.
Stress infolge von Isolation wirkt sich negativ auf das Immunsystem aus
Zwar zeigten sich signifikante Veränderungen in den Verhaltensweisen der isolierten Tiere, aber noch auffälliger war ein Blick auf die Genaktivität: Viele Gene, die mit der Funktion des Immunsystems und der Stressreaktion zusammenhängen, waren herunterreguliert worden. Das heißt, diese Gene sind weniger aktiv. „Das Ergebnis passt zu Studien an anderen sozialen Tieren, die eine Schwächung des Immunsystems nach der Isolation zeigen“, so Inon Scharf.
Die Biologinnen und Biologen um Susanne Foitzik legen damit die erste Studie zu den Auswirkungen von Vereinzelung bei sozialen Insekten vor, die Verhalten und genetische Analysen kombiniert. „Sie zeigt, dass Ameisen ebenso von Isolation betroffen sind wie soziale Säugetiere und deutet auf einen allgemeinen Zusammenhang zwischen sozialem Wohlbefinden, Stresstoleranz und Immunkompetenz bei sozialen Tieren hin“, fasst Foitzik die Ergebnisse der israelisch-deutschen Studie zusammen. Die Wissenschaftlerin kooperiert mit ihrem israelischen Partner Inon Scharf sowie mit Koautor und Arbeitsgruppenleiter Dr. Romain Libbrecht von der JGU auch im Rahmen eines neuen gemeinsamen DFG-Projekts zu den Fitnessvorteilen und molekularen Grundlagen des räumlichen Lernens bei Ameisen.
Originalpublikation:
Inon Scharf et al.
Social isolation causes downregulation of immune and stress response genes and behavioural changes in a social insect
Molecular Ecology, 27. März 2021
DOI:10.1111/mec.15902
https://onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1111/mec.15902

01.04.2021, Johann Heinrich von Thünen-Institut, Bundesforschungsinstitut für Ländliche Räume, Wald und Fischerei
Bedeutung der biologischen Vielfalt für die Landwirtschaft wird unterschiedlich wahrgenommen
Länderübergreifende Umfrage zeigt: Akteure aus Wissenschaft und Praxis haben stark abweichende Einschätzungen zur Biodiversität und bevorzugen unterschiedliche Informationsquellen
Um negative Auswirkungen der Landwirtschaft auf die biologische Vielfalt zu minimieren, braucht es biodiversitäts-freundliche Bewirtschaftung. Wissenschaftlich fundierte Handlungsempfehlungen dazu werden aber von der Praxis häufig nicht aufgegriffen. Eine aktuelle Befragung zeigt, dass die einzelnen Akteure die Bedeutung der landwirtschaftlichen Biodiversität, zum Beispiel für die Bestäubung, unterschiedlich wahrnehmen.
Die Studie wurde von Dr. Bea Maas von der Universität Wien (Österreich) geleitet und in Zusammenarbeit mit Dr. Anett Richter vom Thünen-Institut für Biodiversität (Braunschweig), Dr. Yvonne Fabian von Agroscope (Zürich, Schweiz) und Dr. Sara Kroos von der Columbia Universität (New York, USA) durchgeführt. Sie ist in der Zeitschrift „Biological Conservation“ veröffentlicht.
Für die Studie wurden 209 Landwirtinnen und Landwirte sowie 98 Umweltwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler aus Deutschland und Österreich befragt, wie sie die Bedeutung von biologischer Vielfalt für die landwirtschaftliche Produktion einschätzen. „Die Ergebnisse zeigen, dass die Wahrnehmungen zu Biodiversität, den damit verbundenen Ökosystemleistungen und Managementmaßnahmen sehr unterschiedlich sind“, sagt Bea Maas von der Universität Wien. Die Akteure würden unterschiedliche Informationsquellen bevorzugen und auch aus diesem Grund zu anderen Einschätzungen gelangen.
Akteure aus der Agrarforschung, so die Studienergebnisse, sehen Biodiversität, Agrarumweltprogramme und Naturschutzmaßnahmen als wichtiger für die landwirtschaftliche Produktion an als Landwirtinnen und Landwirte. „Während Forschende vor allem wissenschaftliche Informationen für ihre Einschätzungen heranziehen, nutzen Akteure aus der Landwirtschaft häufig Informationsquellen der Landes- und Bundesministerien und der Landwirtschaftskammern und legen Wert auf mündlichen Austausch“, erläutert Anett Richter vom Braunschweiger Thünen-Institut. Interessant sei, so Richter, dass Landwirtinnen mit höherer Bildung oder von Ökobetrieben die Artenvielfalt und deren Schutz als wichtiger bewerteten als ihre männlichen Kollegen oder konventionell Wirtschaftende.
Die unterschiedlichen Perspektiven weisen auf entscheidende Kommunikationslücken zwischen landwirtschaftlicher Forschung und Praxis hin, die auch das gegenseitige Verständnis erschweren. Forschung, Landwirtschaft und politische Praxis müssten besser integriert werden. Dafür geben die Autorinnen der Studie konkrete Handlungsempfehlungen: Erstens sollten wissenschaftliche Informationen besser für die Praxis zugänglich gemacht werden, zum Beispiel durch die Etablierung von Bildungs- und Beratungsprogrammen für die Landwirtschaft. Zweitens seien zielgerichtete Konzepte für die landwirtschaftliche Forschung und Praxis zu entwickeln, die unterschiedliche Stakeholder-Perspektiven in deren Gestaltung und Anwendung integrieren. Darüber hinaus sei es sinnvoll, eine integrative und inklusive Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft und Praxis zu unterstützen, etwa durch die aktive Förderung fachübergreifender Kommunikation.
Diese Bemühungen erfordern, so die Schlussfolgerung der Autorinnen, Partnerschaften und politisches Engagement auf höchster Ebene, um integrative Ansätze in der Entwicklung nachhaltiger Landwirtschaft zu verankern.
Originalpublikation:
Maas B., Fabian F., Kross S.M., Richter A. (2021). Divergent farmer and scientist perceptions of agricultural biodiversity, ecosystem services and decision-making. Biological Conservation.
https://doi.org/10.1016/j.biocon.2021.109065

01.04.2021, GEOMAR Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung Kiel
Effektive Beutejagd in der Tiefsee
Rekonstruktion von Tiefsee-Tintenfischgemeinschaften zeigt profitable Jagdzonen für extrem tauchende Wale
Ein internationales Forscherteam hat untersucht, warum Delfine und Wale rekordverdächtige Tauchgänge in mehrere Kilometer Tiefe durchführen. Erstmals konnten sie das Jagdverhalten mit der vorhandenen Beute in den Jagdgebieten in Verbindung bringen. Die Studie von Wissenschaftler*innen aus den Niederlanden und Deutschland unter Beteiligung des GEOMAR Helmholtz-Zentrums für Ozeanforschung Kiel ist jetzt in der Fachzeitschrift Science Advances erschienen.
Unsere Ozeane bestehen aus 1,3 Milliarden Kubikkilometern Meerwasser und sind durchschnittlich mehr als 3600 Meter tief. Die Tiefsee ist ein so riesiger Lebensraum, dass wir nicht genau wissen, welche Tiere darin leben und wie diese Tiere voneinander abhängen. Dank der Fortschritte bei der Beobachtung ozeanischer Top-Räuber, wie Haie und Delfine, erfahren wir mehr über ihr Nahrungsverhalten. Viele Wal- und Delfinarten jagen speziell in der Tiefsee. Die Wale suchen sich eine entlegene Nahrungsquelle in mehreren hundert Metern bis Kilometern Tiefe. Aber auch sie müssen nach jedem Tauchgang wieder an die Oberfläche zurückkehren. Die Belohnung für die Beute muss beträchtlich sein, damit sich dieser Hin- und Rückweg lohnt. „Und das ist bisher für uns eine echte Blackbox. Wir wissen zum Beispiel kaum etwas darüber, welche Tintenfischarten in welcher Wassertiefe vorkommen“, sagt Fleur Visser, Wissenschaftlerin am Institut für Biodiversität und Ökosystemdynamik der Universität Amsterdam und am NIOZ (Royal Netherlands Institute for Sea Research). Sie ist eine der beiden Hauptautorinnen einer deutsch-niederländischen Studie, die jetzt in der internationalen Fachzeitschrift Science Advances erschienen ist.
Um die Tiefsee besser zu verstehen und zu schützen, müssen wir mehr über ihre grundlegenden Lebensprozesse wissen, wie zum Beispiel die Interaktionen zwischen Top-Räubern und Beute. Top-Raubtiere sind wichtige Schlüsselarten, die die Gesundheit der Ökosysteme und die Artenvielfalt bestimmen. Ein grundlegendes Verständnis der Räuber-Beute-Dynamik in der Tiefsee wird erst möglich, wenn Daten aus der Jagdtechnik mit Daten über Beutetiere kombiniert werden.
Bei Untersuchungen rund um die Azoren leisteten die Forscher*innen Pionierarbeit bei dem erfolgreichen Versuch, Forschungsdaten sowohl von Top-Räubern als auch von Tiefsee-Beutegemeinschaften zu kombinieren. So fanden sie heraus, dass Risso-Delfine jagen in einer anderen Tiefenzone nach Tintenfischen jagen als Cuvier-Schnabelwale. Risso-Delfine, die während der Studie verfolgt wurden, fingen ihre Beute in Tiefen zwischen 12 und 623 Metern. Cuvier-Schnabelwale jagten viel tiefer, zwischen 800 und 1.700 Metern Tiefe bis hin zum Meeresboden. Die Wale, die tiefer tauchen, benötigen dafür mehr Energie. Es lohnt sich für sie nur, tiefer zu tauchen, wenn der Tauchgang auch mehr Energie (Kalorien) aus der Beute liefert.
Sensoren, die beide Walarten zeitweise bei Tauchgängen trugen, zeichneten Daten über die Tauchtiefe und die Geräusche auf, die sie beim Tauchen machen. Die Tiere jagen mit Hilfe von Schall, mit Echoortung – genau wie Fledermäuse. Schließlich ist es dunkel, wenn sie in Hunderte von Metern Tiefe oder noch tiefer tauchen. „Die Individuen machen eine bestimmte Art von Geräuschen, wenn sie versuchen, Beute zu fangen“, sagt Visser, „das ist ein Summen. So wissen wir, in welchen Tiefen sie Beute anvisieren“. Bei den Cuvier-Schnabelwalen wurden über 30 Fangversuche pro Stunde festgestellt, während die flacher tauchenden Risso-Delfine fast 50 Fangversuche pro Stunde unternahmen. Auf den ersten Blick scheinen extreme Tauchgänge also weniger erfolgreich zu sein als flachere Tauchgänge, was die Anzahl der potenziellen Beute angeht.
Die Forscher*innen vermuteten daraufhin, dass beide Walarten wahrscheinlich unterschiedliche Tintenfischarten jagen. Um diese Hypothese zu testen, wurde eine innovative Forschungsmethode angewandt, bei der Tintenfisch-DNA aus dem Meerwasser extrahiert wurde (Environmental DNA – eDNA), und zwar direkt im Jagdhabitat der Walarten.
Durch die Beprobung des Meerwassers in verschiedenen Tiefen vor der Azoreninsel Terceira konnten die Wissenschaftler*innen feststellen, welche Tintenfische in den Tiefen leben, in denen die Wale jagen. „Die geringen Mengen an Tintenfisch-eDNA in diesen Wasserproben wurden im Labor analysiert und mit der bekannten DNA von Tintenfischarten verglichen“, erläutert Véronique Merten vom GEOMAR Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung Kiel, gemeinsam mit Visser Hauptautorin der Studie. Ein unerwarteter Befund war jedoch, dass sich die Tintenfischgemeinschaften zwischen den Jagdgebieten der beiden Walarten nicht stark unterscheiden, obwohl Cuvier-Schnabelwale viel tiefer jagen. „Beide Räuber haben Zugang zu einer ähnlichen Auswahl an Tintenfischarten“, sagt Visser, „und wir wissen auch, dass diese Teil ihrer Nahrung sind. Es ist also wahrscheinlich, dass beide Räuber die gleiche Beute jagen, aber in sehr unterschiedlichen Tiefen“.
Ein entscheidender Teil des Puzzles könnte der einzigartige Fortpflanzungszyklus der Tintenfische sein. Um die Chancen auf eine erfolgreiche Fortpflanzung zu erhöhen, wandern viele Tintenfischarten in tiefere Gewässer, wenn sie ausgewachsen sind, um sich zu paaren und zu laichen. Dies ist eine Strategie, um Raubtieren aus dem Weg zu gehen. Diese Tintenfische mit weiter entwickelten oder reifen Fortpflanzungsdrüsen sind größer als die Individuen in geringeren Tiefen. „Es ist auch wahrscheinlich, dass sie nahrhafter sind als ihre jungen Verwandten. Gleichzeitig sind die sich fortpflanzenden Individuen für die tief tauchenden Wale möglicherweise auch leichter zu fangen“, sagt Henk-Jan Hoving vom GEOMAR, Ko-Autor der Studie. Durch das extreme Tauchen erhalten Cuvier-Schnabelwale möglicherweise Zugang zu profitablerer Beute. Der Unterschied in den Jagdgebieten zwischen den beiden Top-Raubtieren könnte durch die Verfügbarkeit von Beute mit größerem Nährwert in größeren Tiefen entstanden sein.
Wale reagieren empfindlich auf Bedrohungen in ihrer Umgebung, einschließlich vom Menschen verursachter Geräusche in den Ozeanen. Diese Geräusche können ihre Fähigkeit zu jagen einschränken. Um die Ökosysteme der Tiefsee besser zu schützen, ist nicht nur die Erforschung von Meeressäugern und anderen ozeanischen Top-Raubtieren unerlässlich. Es besteht ein ebenso dringender Bedarf an Wissen über ihre Beute. „Mit den jüngsten Entwicklungen in der eDNA-Methodik ist dies nun möglich geworden“, sagt Véronique Merten. „Insbesondere größere oder seltene Tintenfischarten sind extrem schwer zu untersuchen“. eDNA, so die Wissenschaftlerin sei sehr hilfreich, um diese schwer fassbaren Organismen in den tiefsten Teilen des Ozeans aufzuspüren.
Die Forscher am GEOMAR setzen ihre Arbeit an dieser innovativen Technik fort, um zu untersuchen, wie sich Lebensgemeinschaften im Laufe der Zeit verändern, und um Arten zu identifizieren, die zum Transport von Nährstoffen in der Tiefsee beitragen. Letztendlich hoffen sie auch, aus den eDNA-Daten Informationen über die Häufigkeit von Arten im Ozeanwasser zu gewinnen. „Unsere Methoden können auf andere Räuber-Beute-Systeme übertragen werden“, sagt Fleur Visser. „Das eröffnet die Möglichkeit, unser Verständnis der Interaktionen zwischen den Arten in der Tiefsee wirklich voranzutreiben.“
Originalpublikation:
Visser, F., V. Merten, T. Bayer, M. G. Oudejans, D. S. W. de Jonge, O. Puebla, T. B. H. Reusch, J. Fuss, H.-J. Hoving, 2021: Deep-sea predator niche segregation revealed by combined cetacean biologging and eDNA analysis of cephalopod prey. Science Advances, doi: https://doi.org/10.1126/sciadv.abf5908

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