Die Hirschziegenantilope in Brehms Tierleben

Hirschziegenantilope (Brehms Tierleben)

Die Hirschziegenantilope, Sassi und Safin der Indier (Antilope cervicapra, Capra cervicapra und bezoartica, Strepsiceros cervicapra, Cervicapra bezoartica etc.), spielt in der indischen Götterlehre eine wichtige Rolle. Sie findet sich auf der Himmelskarte, [198] gespannt vor den Wagen des Mondes, dargestellt als ein Pfeil der Götter, nimmt in dem Thierkreise der Hindus die Stelle des Steinbocks ein und ist neben vielen anderen Arten der Göttin Tschandra oder dem Monde geheiligt. Sie ist etwas kleiner, schlanker und weit zierlicher als unser Damhirsch; ihre Leibeslänge beträgt 1,3 Meter, die Länge des Schwanzes 15 Centim., die Höhe am Widerriste 80 Centim. Der Leib ist schwach gestreckt und untersetzt, der Rücken ziemlich gerade und hinten etwas höher als am Widerriste, der Hals schmächtig und seitlich zusammengedrückt, der Kopf ziemlich rund, hinten hoch, nach vorn zu verschmälert, an der Stirne breit, längs der Nase gerade und an der Schnauze gerundet. Die Beine sind hoch, schlank und dünn, die hinteren etwas länger als die vorderen. Unter den verhältnismäßig großen und außerordentlich lebhaften Augen befinden sich Thränengruben, eine Art von Tasche bildend, welche willkürlich geöffnet und geschlossen werden kann.

Die Ohren sind groß und lang, unten geschlossen, in der Mitte ausgebreitet, gegen das Ende verschmälert und zugespitzt. Das Gehörn wird bis 40 Centim. lang, ist nach vorn und rückwärts gerichtet, fast gerade, jedoch mehrere Male schwach ausgebeugt und schraubenförmig gedreht. An der Wurzel stehen beide Stangen nahe zusammen, an der Spitze ungefähr 35 Centim. von einander entfernt. Je nach dem verschiedenen Alter sind die Hörner stärker oder schwächer und nahe der Wurzel mit mehr oder weniger ringförmigen Erhabenheiten versehen. Bei alten Thieren zählt man mehr als dreißig solcher Wachsthumsringe, bei dreijährigen ungefähr zehn, bei fünfjährigen bereits gegen fünfundzwanzig; ihre Anzahl steht aber nicht in einem geraden Verhältnisse zu dem Wachsthume. Die Behaarung ist kurz, dicht und glatt, das einzelne Haar ziemlich steif und, wie bei den meisten hirschähnlichen Thieren, etwas gedreht. Auf der Brust, an der Schulter und zwischen den Schenkeln bildet es deutliche Nähte, in der Horn- und Nabelgegend Wirbel, auf der Innenseite der Ohren vertheilt es sich in drei Längsreihen, am Handgelenke und an der Spitze des Schwanzes verlängert es sich zu kleinen Haarbüscheln, auf der Unterseite des letztern fehlt es gänzlich. Nach Alter und Geschlecht ist die Färbung eine verschiedene. Beim alten Bocke sind Vordergesicht, Hals, Rücken, Außenseite und ein bis auf die Fesselgelenke herabreichender, nach unten sich verschmälernder Streifen auf den Beinen dunkel braungrau, Stirn, Scheitel, Ohren, Nacken, Hinterhals und Hinterschenkel nebst Oberschwanz fahlgrau, der Vordertheil der Schnauze, ein Ring ums Auge, Kinn, der schmal rostrothbraun eingefaßte Spiegel und die ganze Unterseite von der Brust an sowie die Innenseite weiß, die bis auf eine schmale Stelle zwischen den Nasenlöchern behaarte Muffel, die Hörner, die zierlichen, mittelgroßen, zusammengedrückten und spitzigen Hufe und die mittelgroßen, abgeplatteten und abgestumpften Afterklauen schwarz, die Iris bräunlichgelb, der quergestellte Stern dunkelschwarz. Die Ziege ist viel lichter als der Bock, dunkel isabellbraun, ein verwaschener Streifen längs der Seiten dunkel isabellgelb, die Stirn schwarzbraun, ein Ring um das Auge und die Ohrwurzel weiß, das übrige wie bei dem Bocke gefärbt und gezeichnet. Junge Thiere sollen sich durch vorherrschend röthliche Färbung von den alten Weibchen unterscheiden.

Der Sasi bewohnt Vorderindien, namentlich Bengalen, und lebt in Herden von funfzig bis sechzig Stücken, welche von einem alten dunkelfarbigen Bocke angeführt werden. Unter allen Umständen ziehen die Thiere offene Gegenden den bedeckten vor; denn sie sind stets im hohen Grade für ihre Sicherheit besorgt. Kapitän Williamson erzählt, daß immer einige junge Männchen und auch alte Weibchen zum Vorpostendienste beordert werden, wenn sich die Herde an einem Lieblingsplatze zum Weiden anschickt. Namentlich Büsche, hinter denen sich Jäger heranschleichen und verstecken können, werden von diesen Wachen aufs sorgfältigste beobachtet. Es würde Narrheit sein, versichert dieser Beobachter, Windhunde nach ihnen zu hetzen; denn nur, wenn man sie überrascht, ist einiger Erfolg zu erwarten; sonst ergreifen sie augenblicklich die Flucht und jagen in wahrhaft wundervollem Laufe dahin. »Die Höhe und Weite ihrer Sprünge versetzt jedermann in Erstaunen: sie erheben sich mehr als drei Meter (?) über den Boden und springen sechs bis zehn Meter weit, gleichsam als ob sie den nachsetzenden Hund verspotten wollten.« Deshalb denken die indischen Fürsten auch nicht daran, sie mit Hunden zu jagen, beizen sie vielmehr mit Falken oder lassen sie vom schlauen Tschita oder Jagdleoparden fangen, wie dies in Persien gewöhnlich ist.

Die Aesung der zierlichen Thiere besteht in Gräsern und saftigen Kräutern. Wasser können sie auf lange Zeit entbehren.

Ueber die Fortpflanzung fehlen noch sichere Nachrichten. Es scheint, daß die Paarung nicht an eine bestimmte Zeit gebunden ist, sondern, je nach der Gegend, während des ganzen Jahres stattfindet. Neun Monate nach der Begattung wirft das Weibchen ein einziges, vollkommen ausgebildetes Junge, verbirgt es einige Tage lang im Gebüsch, säugt es mit Sorgfalt und bringt es dann zur Herde, bei welcher es verweilt, bis es die Eifersucht des Leitbockes vertreibt. Dann muß es in der Ferne sein Heil suchen und sehen, ob es sich anderen Rudeln anschließen kann. Die Weibchen sind bereits im zweiten Jahre, die Männchen wenigstens im dritten fortpflanzungsfähig. Es scheint, daß mit der Begattung ein eigenthümliches Erregtsein des Thränensackes in Verbindung steht. An Gefangenen hat man beobachtet, daß der ganze Hautbeutel unter dem Auge, die Thränengrube, welche sonst nur als ein schmaler Schlitz erscheint, wenn das Thier gereizt wird, weit hervortritt und sich förmlich nach außen umstülpt. Die glatten Innenwände des Sackes sondern einen stark riechenden Stoff ab, welcher durch Reiben an Bäumen oder Steinen entleert wird und wahrscheinlich dazu dient, das andere Geschlecht auf die Spur zu leiten. Während der Brunstzeit vernimmt man auch die Stimme des Männchens, welches sonst schweigt, eine Art von Meckern; das Weibchen gibt, so oft es erzürnt wird, blökende Laute von sich.

In Indien sind Tiger und Panther schlimme Feinde der Hirschziegenantilope. Die Indier stellen ihr ebenfalls eifrig nach und fangen sie auf sonderbare Weise lebendig. Hierzu bedient man sich eines zahmen Männchens, welches man, nachdem man ihm einen mit mehreren Schlingen versehenen Strick um die Hörner gebunden hat, unter die wilde Herde laufen läßt. Sobald der fremde Bock dort anlangt, entspinnt sich zwischen ihm und dem Leitbocke des Rudels ein Kampf, an dem bald auch Riken theilnehmen, und hierbei verwickeln sich gewöhnlich mehrere Stücke in den Schlingen des Strickes, reißen und zerren nach allen Richtungen hin und stürzen endlich vollständig wehrlos zu Boden.

Jung eingefangene Sassis werden außerordentlich zahm. Sie dauern leicht in Gefangenschaft aus, vertragen sich bis gegen die Paarzeit hin mit ihres Gleichen und erfreuen durch ihre Zuthunlichkeit und Anhänglichkeit. Doch muß man sich hüten, sie zu necken oder zu foppen. Sind sie z.B. gewöhnt, Brod aus der Hand zu fressen, so richten sie sich, wenn man ihnen diese Lieblingsspeise hoch hält, wie die zahmen Hirsche auf die Hinterbeine auf, um dieselbe zu erlangen; täuscht man sie auch dann noch, so werden sie böse, beginnen zu zittern und suchen ihren Unmuth durch Stoßen mit den Hörnern an den Tag zu legen. Am besten halten sie sich, wenn man ihnen freien Spielraum gibt. In größeren Parks gewähren sie wegen ihrer außerordentlichen Anmuth und Zierlichkeit ein prächtiges Schauspiel, werden hier auch viel zahmer als in den Käfigen, wo namentlich die Männchen manchmal ihren Wärter anfallen und nach ihm stoßen. In Indien wird der Sassi als ein heiliges Thier oft zahm gehalten. Frauen sind mit der Pflege des Halbgottes betraut und tränken ihn mit Milch; Musiker spielen ihm Tonstücke vor. Nur die Braminen dürfen sein Fleisch genießen. Aus seinen Hörnern bereiten sich die Geistlichen und Heiligen der Hindu eigenthümliche Waffen, indem sie dieselben unten durch eiserne oder silberne Querzapfen so befestigen, daß die Spitzen nach bei den Seiten von einander abstehen. Diese Waffe trägt man wie einen Stock und gebraucht sie wie einen Wurfspieß.

Bezoarkugeln, welche man im Magen dieser Antilope und in dem vieler anderen Wiederkäuer findet, gelten als besonders heilkräftige Arzneimittel und finden vielfache Anwendung.

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