Neues aus Wissenschaft und Naturschutz

13.07.2020, Deutsche Wildtier Stiftung
Wildkatzen-Mutter verteidigt ihre Jungen gegen einen Wolf
Sensationelle Aufnahmen einer Wildkamera der Deutschen Wildtier Stiftung dokumentieren das zum ersten Mal
Aufs Äußerste erregt peitscht die Wildkatze mit ihrem aufgeplusterten Schwanz hin und her. Das Fell ist aufgestellt, die Ohren sind nach vorne gerichtet. Immer wieder macht sie drohend einen Buckel und faucht, während sie in der Nacht auf einem Baumstamm angespannt hin und her läuft. Sie hat Nachwuchs und im Hintergrund lauert ein überlegener Gegner: Es ist ein Wolf. Man sieht nur seine Augen.
„Die Aufnahmen unserer Wildkamera sind eine kleine Sensation“, sagt Malte Götz, Wildkatzenexperte der Deutschen Wildtier Stiftung. „Die Bereitschaft einer Wildkatze sich für ihre Jungen sogar dem Wolf zu stellen, wurden zum ersten Mal dokumentiert.“
Die Aufnahmen der Wildkamera entstanden im Rahmen einer Telemetriestudie, die die Lebensraumansprüche von Wildkatzen fernab bewaldeter Mittelgebirgsregionen, ihrer wichtigsten Rückzugsräume, in Sachsen-Anhalt untersucht. Dort hat die Wildkatze im Harz überlebt; hier hat sie heute auch ihren Verbreitungsschwerpunkt.
„Seit einigen Jahren erobert sich die streng geschützte Art einige ihrer alten Lebensräume zurück“, sagt Malte Götz. „Dazu gehört auch das Norddeutsche Tiefland.“ Die Deutsche Wildtier Stiftung unterstützt die Wiederausbreitung der Wildkatze und untersucht unter anderem, welche Verstecke in Heide- und Auenlandschaften für die Aufzucht der Jungen und für die Tagesruhe genutzt werden. „Es ist wichtig zu wissen, welche Strukturen von Bedeutung sind und welche Gefahren der Art in der Kulturlandschaft drohen.“ Die Verteidigung gegenüber dem Wolf – wie mit der Wildkamera dokumentiert – zeigt, dass sich Wildkatzen den natürlichen Herausforderungen mutig stellen.

13.07.2020, Forschungsverbund Berlin e.V.
Wenn es laut ist, wird Echoortung für Fledermäuse teuer

Mit Rufen im Ultraschallbereich können sich Fledermäuse hervorragend in der Dunkelheit orientieren und ihre Insektenbeute aufspüren. Rufen sie dabei lauter, erhöht sich die Reichweite der Echoortung. Lange galt, dass die Fledertiere dabei keine besondere Rücksicht auf ihr Energiebudget nehmen müssen. Die Rufe – so die gängige Meinung – kosten die Tiere im Flug so gut wie keine zusätzliche Energie, weil sie die dafür nötige Muskelbewegung einfach an den Flügelschlag koppeln. Wissenschaftler*innen des Leibniz-Instituts für Zoo- und Wildtierforschung (Leibniz-IZW) in Berlin zeigten nun, dass intensive Echoortung keineswegs gratis ist, sondern viel zusätzliche Energie kostet.
Fledermäuse müssen deshalb einen Kompromiss zwischen Energieverbrauch und effektiver Echoortung finden und letztere sparsam einsetzen.
Lautäußerungen sind für die meisten Tiere überlebenswichtig. Denn mit ihren Rufen, Brüllen, Quaken, Zwitschern oder Singen locken Tiere potenzielle Partner an, vertreiben Konkurrenten oder suchen nach Beute. Diese Laute können ohrenbetäubend sein. Ein Bison brüllt mit bis zu 127 Dezibel (dB), einige Vögel erreichen 132 dB und Seelöwen schaffen sogar 137 dB. Zum Vergleich: Ein Schalldruckpegel von 110 dB entspricht etwa der Lautstärke eines Flugzeugtriebwerks in 100 Metern Entfernung. Ganz vorn im Konzert der Lautesten spielen trotz ihrer geringen Größe Fledermäuse mit. Einige von ihnen erreichen im Flug bei der Echoortung einen Schalldruckpegel von 137 dB. Für das menschliche Ohr sind diese Laute wegen ihrer hohen Frequenz nicht hörbar.
Grundsätzlich gilt: Die Erzeugung eines höheren Schalldruckpegels kostet mehr Energie. Will also eine Fledermaus auf der Suche nach Beuteinsekten die Reichweite ihrer Echoortung vergrößern, muss sie lauter rufen – das sollte eigentlich mehr Energie kosten. Bislang herrschte in der Wissenschaft jedoch die Meinung vor, dass Fledermäuse zumindest im Flug laute Rufe zum energetischen Nulltarif bekommen. Dies sei möglich, weil sie dazu die zur Lauterzeugung nötige Bewegung der Bauchdecke mit den Kontraktionen der aktiven großen Flugmuskeln synchronisierten. Der durch den Flügelschlag automatisch entstehende Druck in den Lungen reicht nach gängiger Lehrmeinung aus, um an den Stimmbändern auch sehr laute Töne zu produzieren. Der Energieverbrauch von fliegenden Fledermäusen sollte demnach also etwa konstant bleiben, egal ob sie laut oder leise rufen.
Ein Team aus Wissenschaftler*innen des Leibniz-Instituts für Zoo- und Wildtierforschung (Leibniz-IZW) und der Tel Aviv University in Israel widerlegte dies nun. Dazu ließen sie unter kontrollierten Bedingungen Rauhautfledermäuse (Pipistrellus nathusii) frei in einem Windkanal fliegen. Mit Lautsprechern erzeugten die Forscher*innen im Inneren des Kanals ein lautes Hintergrundrauschen, das die Fledermäuse dazu animierte, den Lärm mit intensiverer Echoortung zu übertönen. Vor dem Flug im Windkanal erhielten die Tiere eine isotonische Lösung von 13C-markiertem Natrium-Bikarbonat, welches sie über das Kohlendioxid mit der Atemluft ausatmeten. Aus der Isotopenzusammensetzung der Atemluft vor und nach dem Flug ermittelten die Wissenschaftler den Energieverbrauch der Tiere.
„In der normalen Geräuschkulisse des Windkanals lag die Rufintensität der Tiere bei durchschnittlich 113 dB“, sagt IZW-Wissenschaftlerin Shannon Currie, Mit-Erstautorin der Studie. „Bei einem zugeschalteten Lärmpegel von 109 dB steigerten die Fledermäuse die Schalldruckpegel der Rufe auf bis zu 128 dB.“ Weil der Schalldruckpegel eine logarithmische Größe ist, bedeutet das konkret, dass die Fledermäuse im Lärm 30-mal (!) lauter riefen als bei der regulären Geräuschkulisse des Windkanals.
Dies hatte deutliche Auswirkungen auf den Energieverbrauch. Während der Flüge mit erhöhter Geräuschkulisse stieg der Energieumsatz der Tiere um 0,12 Watt. Würde eine Fledermaus diesen Leistungsanstieg auf einem typischen nächtlichen Beutezug durchgängig halten, müsste sie etwa 0,5 Gramm zusätzliche Insektenbeute fangen, um den Energieverlust auszugleichen, also ein Vierzehntel ihres Körpergewichtes. Für ein Tier, das selbst nur sieben Gramm wiegt, ist das eine enorme Menge.
„Unsere Studie macht deutlich, dass bei Fledermäusen die Kopplung der Bauchdeckenbewegung mit der Kontraktion der Flugmuskulatur allein nicht ausreicht, um sehr laute Rufe zu produzieren“, erläutert Christian Voigt, Leiter der Abteilung Evolutionäre Ökologie am Leibniz-IZW. „Wir gehen deshalb davon aus, dass bei intensiverer Echoortung zusätzliche Muskulatur zur Unterstützung der Lauterzeugung aktiv wird. Und das kostet viel Energie – ab 130 Dezibel ganz besonders viel. Eine Fledermaus auf Beutesuche kann die Intensität und somit die Reichweite ihrer Rufe nicht nach Belieben erhöhen. Vielmehr muss sie laute Rufe sparsam und gezielt einsetzen und einen guten Kompromiss zwischen dem damit verbundenen Energieverbrauch und der Effizienz der Echoortung finden.“
Originalpublikation:
Currie SE, Boonmann A, Troxell S, Yovel Y, Voigt CC (2020): Echolocation at high intensity imposes metabolic costs on flying bats. Nature Ecology & Evolution. Doi: 10.1038/s41559-020-1249-8, https://www.nature.com/articles/s41559-020-1249-8

13.07.2020, Senckenberg Forschungsinstitut und Naturmuseen
Entgegen der Trends: Wie sich die Artenvielfalt in Europa lokal verändert
Senckenberg-Forschende haben mit einem internationalen Team die Ergebnisse einer einmaligen Zusammenstellung von 161 Langzeitmessreihen (15–91 Jahre) von 6200 marinen, terrestrischen und im Süßwasser lebenden Arten in 21 europäischen Ländern veröffentlicht. Die Wissenschaftler*innen zeigen, dass sich lokale Biodiversitätstrends in Europa teilweise erheblich von globalen Mustern unterscheiden. Insbesondere die Zusammensetzung von Artengemeinschaften hat sich lokal stark verändert. Die Studie erscheint heute im Fachjournal „Nature Communications“ und hat Auswirkungen auf die Erstellung von wirksamen Schutzkonzepten.
Global scheint der Trend klar: Seit Jahren nimmt weltweit die Artenvielfalt in nahezu allen Tier- und Pflanzengruppen besorgniserregend ab. „Lokal ist dies etwas komplexer – hier spielen Faktoren vor Ort, wie beispielsweise der Verlust seltener Arten sowie die Ansiedlung neuer Arten, eine große Rolle für das Gesamtergebnis“, erklärt Prof. Dr. Peter Haase, Abteilungsleiter „Fließgewässerökologie und Naturschutzforschung“ am Senckenberg Forschungsinstitut und Naturmuseum Frankfurt und fährt fort: „Ökosystemfunktionen – und die damit verbundenen Vorteile für uns Menschen – hängen immer mit der jeweiligen lokal vorhandenen Vielfalt und Häufigkeit von Arten zusammen und lassen sich schwer einfach ‚nach oben’ skalieren. Es ist daher unerlässlich, dass wir die unterschiedlichen Biodiversitäts-Trends in den einzelnen Ökosystemen kennen, um diese nachhaltig schützen zu können.“
Gemeinsam mit der bei Senckenberg und an der schwedischen Umeå Universität tätigen Erstautorin Francesca Pilotto hat Haase mit 64 weiteren internationalen Wissenschaftler*innen 161 Langzeitserien von 115 Standorten in 21 europäischen Ländern ausgewertet und in Verbindung zueinander gesetzt. Die über 6200 im Meer, an Land oder in Fließgewässern lebenden Arten aus neun biogeographischen Regionen umfassen acht taxonomische Gruppen, darunter Insekten, Vögel und Blütenpflanzen. Die Mehrzahl der untersuchten Standorte gehört zum globalen Netzwerk „Long-Term Ecological Research (LTER)“; einem internationalen Zusammenschluss zur langfristigen, interdisziplinären Umweltbeobachtung.
Die Auswertung der Forschenden zeigt, dass sich in weiten Teilen Mittel- und Südeuropas weder Artenvielfalt noch Anzahl der Arten und Individuen verändert haben, während in Nordeuropa ein Anstieg in Vielfalt und Artenzahlen zu beobachten ist. Letzteres ist u.a. auf die steigenden Temperaturen im Zuge des Klimawandels zurückzuführen. Zudem ist in weiten Teilen Europas ein Austausch der bisherigen Flora und Fauna durch neue, häufig an wärmere Gebiete angepasste Arten zu beobachten. Die Autor*innen geben diesbezüglich in ihrer Studie zu bedenken, dass die meisten Messreihen frühestens in den 1980er Jahren starteten und zu diesem Zeitpunkt bereits ein hoher Artenverlust zu verzeichnen war. „Je nach Großlebensraum und taxonomischer Gruppe können sich die Trends zudem deutlich unterscheiden. Während in marinen Gebieten beispielsweise in den untersuchten Zeiträumen die Vielfalt anstieg, ist dies für die Fließgewässer nicht zu beobachten. Die Diversität von am Gewässergrund lebenden Algen nahm im Schnitt ab, während Vögel und aquatische Wirbellose überraschenderweise einen Anstieg aufweisen. Wir sehen also, dass die Trends nicht immer Arten- oder Ökosystem-übergreifend gleich sind“, erläutert Pilotto.
Das Team fordert auf Grundlage ihrer Ergebnisse einen Ausbau der Langzeitmessreihen sowie eine Vereinheitlichung der europäischen Messmethoden in den verschiedenen Lebensräumen. „Nur so kann es uns gelingen, für die einzelnen Regionen und ihre Tier- und Pflanzenarten sinnvolle Schutzmaßnahmen zu entwickeln“, schließt Haase.
Originalpublikation:
Francesca Pilotto et al. (2020): Meta-analysis of multidecadal biodiversity trends in Europe.
NATURE COMMUNICATIONS | https://doi.org/10.1038/s41467-020-17171-y

14.07.2020, Universität Zürich
Die Vogelwelt der Alpen verliert an Vielfalt
Im Schweizer Hochgebirge nimmt die Diversität von Vögeln immer mehr ab, wie eine gemeinsame Studie der UZH und der Schweizerischen Vogelwarte belegt. Die Auswertung von Daten aus zwei Jahrzehnten zeigt, dass die alpinen Vogelgemeinschaften weniger vielfältig sind als früher und auch weniger ökologische Funktionen abdecken. Diese Entwicklung hängt wahrscheinlich mit der Klimaerwärmung und Änderungen in der Landnutzung zusammen.
Ökologen gehen davon aus, dass der globale Klimawandel einen besonders starken Effekt auf Tiere und Pflanzen hat, die im Gebirge leben – sie erwarten Veränderungen in der Verteilung, Häufigkeit und Interaktion der Arten. So gibt es Hinweise darauf, dass sich der Lebensraum einiger Schweizer Vogelarten − wie etwa dem Baumpieper oder dem Trauerschnäpper − in den letzten Jahren in grössere Höhen verschoben hat. Wie sich diese Veränderungen auf die Zusammensetzung der Vogelgemeinschaften auswirken, war bis jetzt nicht bekannt.
Forschende des Departements für Evolutionsbiologie und Umweltforschung der Universität Zürich und der Schweizerischen Vogelwarte sind dieser Frage nun nachgegangen. Die Grundlage dafür bildeten Daten, die über die letzten zwanzig Jahre von freiwilligen Ornithologinnen und Ornithologen gesammelt wurden. Die Studie deckte einen negativen Trend auf: Die Vogelgemeinschaften der Schweizer Alpen durchlaufen entlang des Höhengradienten einen Prozess der biotischen Homogenisierung – das heisst, sie gleichen sich einander immer mehr an und verlieren an Diversität.
Funktionelle Vielfalt ist wichtig
Der einfachste Massstab für Diversität einer Vogelgemeinschaft ist die Zahl der darin vertretenen Arten. Darüber hinaus liefert jedoch auch die funktionelle Vielfalt einer Gemeinschaft wertvolle Informationen. «Verschiedene Arten nutzen die Ressourcen auf unterschiedliche Weise und interagieren anders mit der Umwelt», sagt der Postdoktorand und Erstautor der Studie, Vicente García-Navas. «Nicht alle Arten spielen dabei eine gleich wichtige Rolle im Ökosystem. Der Verlust einer einzigen bestimmten Art kann schädlicher sein als der von mehreren anderen Arten.» Besonders wichtig seien Spezialisten wie beispielsweise einige Spechtarten. Denn ihre Baumhöhlen werden von anderen Vögeln und kleinen Säugetieren als Nistplatz und Versteck benötigt.
Um diese funktionelle Vielfalt der Vogelgemeinschaften zu messen, trugen García-Navas und sein Team für jede Vogelart hundert verschiedene Merkmale zu Körperbau, Ernährung, Lebensraum und vielem mehr zusammen. So konnten sie die Vielfalt an Funktionen in den verschiedenen Vogelgemeinschaften entlang des Höhengradienten bestimmen und ermitteln, wie sich das Bild im Laufe der letzten zwei Jahrzehnte gewandelt hat.
Spezialisten im Hochgebirge nehmen ab
Die Analysen ergaben, dass die obere Waldgrenze eine funktionelle Barriere zwischen zwei Gruppen darstellt: Vom landwirtschaftlich geprägten Tiefland bis zu den Gebirgswäldern leben ähnliche Vogelgemeinschaften mit Arten wie Goldammer, Dorngrasmücke und Mönchsgrasmücke. Darüber, im baumlosen Hochgebirge, bestehen die Gemeinschaften aus Arten, die an das Leben im offenen Gelände angepasst sind. So essen sie beispielsweise weniger Raupen oder bauen wie das Alpenschneehuhn ihr Nest am Boden.
Die Auswertung zeigte jedoch, dass diese besondere funktionelle Vielfalt der alpinen Gemeinschaften in den letzten Jahren abgenommen hat. «Unsere Studie zeigt, dass Bergspezialisten zunehmend Gefahr laufen, verdrängt zu werden», sagt der Ökologie-Professor Arpat Ozgul, Mitautor der Studie. Kritische Faktoren dafür seien die Verkleinerung von Lebensräumen, die Schwierigkeit, optimale Lebensräume in höheren Lagen zu finden, und die Invasion von Generalisten nach oben.
Der Sieg der Generalisten
Diese Zunahme von Generalisten wie Rotkehlchen und Trauerschnäpper ist möglicherweise auch der Grund für den Abwärtstrend in der sogenannten Betadiversität: Wie die Studie ebenfalls ergab, gleicht sich die Artenzusammensetzung der verschiedenen alpinen Gemeinschaften immer weiter aneinander an und es gibt immer weniger Variationen.
«Insgesamt deuten die Ergebnisse darauf hin, dass der doppelte Effekt der globalen Erwärmung und die Aufgabe der traditionellen Bewirtschaftung zu einer Verarmung der Vogelgemeinschaften in den Alpen führt», sagt García-Navas. Letzteres trage zur Verbuschung und zur Verschiebung der Baumgrenze nach oben bei. Deshalb seien dringend Schutzmassnahmen und eine Anpassung der Bewirtschaftung nötig.
Originalpublikation:
Vicente García-Navas, Thomas Sattler, Hans Schmid and Arpat Ozgul. Temporal homogenization of functional and beta diversity in bird communities of the Swiss Alps. Diversity and Distributions. 30 May 2020. DOI: https://doi.org/10.1111/ddi.13076

14.07.2020, Senckenberg Forschungsinstitut und Naturmuseen
Katzen: Unabhängig seit 6000 Jahren
Forschende des Senckenberg Centers for Human Evolution and Palaeoenvironment an der Universität Tübingen haben mit einem internationalen Team die Nahrungsgewohnheiten der Vorfahren heutiger Hauskatzen untersucht. Sie kommen zu dem Schluss, dass die ersten aus Europa bekannten Katzen sich nicht vom Menschen abhängig machten. Stattdessen ernährten sich die Tiere vor 6200 bis 4300 Jahren sowohl von Wildtieren, als auch von Nagetieren, die im Zusammenhang mit menschlicher Landwirtschaft standen. Die Studie erscheint heute im Fachjournal „PNAS“.
Die Falbkatze (Felis silvestris lybica) ist der Urahn aller heutigen Hauskatzen. Ursprünglich stammen die sandfarbenen Tiere vom afrikanischen Kontinent. „Vor etwa 6000 Jahren etablierten sich die Tiere auch in Europa und breiteten sich dort als Hauskatzen aus“, erklärt Prof. Dr. Hervé Bocherens vom Senckenberg Center for Human Evolution and Palaeoenvironment an der Universität Tübingen und fährt fort: „Die ältesten Fossilien sind ungefähr 6200 Jahre alt und wurden in Polen gefunden. Uns hat interessiert wie es zu der Domestizierung der Tiere nach ihrer Einwanderung kam.“
Um diesen Fragen auf die Spur zu kommen, hat Bocherens mit Erstautorin Magdalena Krajcarz von der Nikolaus-Kopernikus-Universität im polnischen Toruń und einem internationalen Team stabile Isotope im Knochenkollagen der Katzenfossilien gemessen. Anhand der unterschiedlichen Isotopenverhältnisse lassen sich Rückschlüsse auf die Ernährung der Tiere schließen. „Insgesamt haben wir sechs Katzenfossilien aus polnischen Fossilfundstätten untersucht. Um einen Vergleich zu haben, wurden zudem Fossilien der ältesten aus Polen bekannten domestizierten Katzen, sowie 34 weitere Tiere, die mit den Katzen vor etwa 6000 Jahren in Europa lebten, gemessen“, erläutert der Tübinger Wissenschaftler. Ziel der Studie sei es, auch mit der Erforschung der Ökologie und Soziologie der eingewanderten Falbkatzen, die historische Verbindung von Mensch und Katze zu rekonstruieren.
Die Ergebnisse der Studie zeigen, dass die eingewanderten Hauskatzen-Urahnen sich nicht vollständig vom Menschen abhängig machten. Bocherens hierzu: „Wir finden in den Knochen der Katzenfossilien sowohl Signale von Nagetieren, die im Zusammenhang mit menschlicher Landwirtschaft auftraten, als auch von Wildtieren.“ Die Forschenden schließen aus den Messergebnissen, dass die Vorfahren der heutigen Hauskatzen in Europa weiterhin wild lebten und nur einen Teil ihrer Nahrung in der Nähe menschlicher Behausungen zu sich nahmen. „Die Tiere waren also nicht synanthrop, nicht vollständig auf den Menschen und seinen Lebensraum angepasst, sondern lebten – im Gegensatz zu den Hunden in dieser Zeit – ‚opportunistisch’. Wenn es in der freien Wildbahn, welche sie sich mit den heimischen Wildkatzen teilen mussten, kein Fressen gab, durfte es auch gern Nahrung aus menschlicher Nähe sein“, fasst Bocherens zusammen und fügt hinzu: „Auch die heimischen, europäischen Wildkatzen ernährten sich von den Nagetieren. Es gab also eigentlich eine direkte Futterkonkurrenz zwischen den beiden Formen, die aber aufgrund des großen Angebots anscheinend nicht zur Verdrängung der einen oder anderen Katze führte.“
Originalpublikation:
Magdalena Krajcarz, Maciej T. Krajcarz, Mateusz Baca, Chris Baumann, Wim Van Neer, Danijela Popović, Magdalena Sudoł-Procyk, Bartosz Wach, Jarosław Wilczyński, Michał Wojenka, Hervé Bocherens (2020): Ancestors of domestic cats in Neolithic Central Europe: Isotopic evidence of a synanthropic diet. Proceedings of the National Academy of Sciences DOI: 10.1073/pnas.1918884117

14.07.2020, Staatliche Naturwissenschaftliche Sammlungen Bayerns
Dem Vergessen entrissen – 57 Jura-Muschelarten in fränkischer Tongrube entdeckt
Paläontologen der Bayerischen Staatssammlung für Paläontologie und Geologie (SNSB-BSPG) in München und der Universität Erlangen untersuchten 7.000 Muschelfossilien aus einer Tongrube in Buttenheim, Franken. Allein aus dieser Fundstelle konnten die Forscher 57 verschiedene Muschelarten aus der Unteren Jura-Zeit (185 Mio. Jahre) bestimmen. Bei zwei dieser Muschelarten handelt es sich sogar um bisher unbekannte, neue Arten. Ihre Ergebnisse veröffentlichten die Wissenschaftler in der angesehenen Fachzeitschrift Palaeontographica.
Die Schwäbisch-Fränkische Alb besteht aus Gesteinen der Jurazeit (ca. 200-145 Mio. Jahre), die durch ihren Reichtum an Fossilien weltberühmt geworden sind. Im Abbau befindliche Tongruben und Steinbrüche sind dort für Paläontologen die wichtigsten Lieferanten von Fossilien. Sie sammeln dort regelmäßig, um diese Schätze zu bergen, bevor sie zu Schotter, Zement, oder – wie in der Tongrube Buttenheim in Oberfranken – zu Blähtonkügelchen verarbeitet werden. Ein Paläontologen-Team um Prof. Alexander Nützel, Kurator an der Bayerischen Staatssammlung für Paläontologie und Geologie (SNSB-BSPG) hat nun die etwa 185 Millionen Jahre (Unterer Jura) alte, artenreiche Muschelfauna aus der Tongrube Buttenheim analysiert. Ihre detaillierte Beschreibung der Fossilien veröffentlichten die Forscher nun in der Fachzeitschrift Palaeontographica. Mit 57 Arten von Meeresmuscheln aus einer einzigen Fundstelle gehört diese Fauna zu den artenreichsten, die aus der Zeit des Unteren Jura weltweit bekannt sind. Die Wissenschaftler untersuchten rund 7.000 Muschelexemplare, die hauptsächlich von einem Hobbysammler über viele Jahre hinweg zusammengetragen wurden und nun an der SNSB-BSPG ein Zuhause fanden. Die Firma Liapor betreibt die Tongrube bei Buttenheim und ermöglicht durch Sammelgenehmigungen die optimale Zusammenarbeit von Bürgern, Wirtschaft und Wissenschaftlern.
Muscheln aus dem Fränkischen Jura sind an der Bayerischen Staatssammlung für Paläontologie und Geologie seit langem gut untersucht. So beherbergt die BSPG die historische Sammlung fränkischer Jura-Fossilien des Grafen zu Münster aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Trotz der umfangreichen Kenntnis der fränkischen Jura-Muscheln an der BSPG entdeckte der Erstautor der Studie, Baran Karapunar, im Rahmen seiner Master-Arbeit an der Ludwig-Maximilians-Universität München überraschend Neues: Unter den Muschelfossilien aus der Buttenheimer Tongrube konnten zwei neue Gattungen (Paracuspidaria, Eothyasira) und zwei neue Arten (Rollieria franconica sp. nov., Nicaniella schoberti sp. nov.) identifiziert werden. Außerdem ließen sich aufgrund der hervorragenden Erhaltung der Fossilien nun einige Arten viel detaillierter beschreiben sowie stammesgeschichtlich und ökologisch exakter einordnen. Zusammen mit weiteren Fossilien aus der Tongrube Buttenheim, wie etwa Schnecken und Seelilien, zeichnet sich nun ein immer lebendigeres Bild der Lebensverhältnisse im fränkischen Jurameer vor 185 Millionen Jahren ab. Die Muscheln lebten in und auf dem schlammigen Meeresboden. Sie filterten Nahrung aus dem Meerwasser oder pipettierten die nahrungsreiche Oberfläche des Meeresbodens ab. Einige lebten auch in Symbiose mit Bakterien, um sauerstoffarme Phasen im Meeresboden zu überstehen. Eine Art wurde regelmäßig von einem noch unbekannten Räuber angebohrt, was zu jener Zeit noch eine Seltenheit darstellte.
Originalpublikation:
Karapunar, B., Werner, W., Fürsich, F. T. & Nützel, A. (2020): Taxonomy and palaeoecology of the Early Jurassic (Pliensbachian) bivalves from Buttenheim, Franconia (Southern Germany). Palaeontographica Abteilung A 318: 1–127. DOI: 10.1127/pala/2020/0098

16.07.2020, Museum für Naturkunde – Leibniz-Institut für Evolutions- und Biodiversitätsforschung
Schwanz wog zweieinhalb Tonnen
Forscherin des Museums für Naturkunde Berlin digitalisiert Dinosaurierschwanz
Ein Forscherteam unter der Leitung von Verónica Díez Díaz, Postdoktorandin an der Humboldt-Universität zu Berlin und dem Museum für Naturkunde Berlin, hat zum ersten Mal den dreidimensionalen Bewegungsapparat des Schwanzes von Giraffatitan brancai rekonstruiert. Nach der Digitalisierung mittels Photogrammetrie, Rekonstruktion und Muskelmodellierung ergab sich ein angenommenes Schwanzgewicht von 2,5 Tonnen. Die erstellten digitalen Dateien sind frei verfügbar.
Seit der allerersten Entdeckung eines Dinosauriers interessieren sich nicht nur Paläontologinnen und Paläontologen, sondern auch die breite Öffentlichkeit dafür, wie diese Tiere aussahen. Viele wissenschaftliche Hypothesen wurden aufgestellt und zahlreiche Rekonstruktionen geschaffen. In den letzten Jahren konnten die Forschenden durch die Anwendung neuer Methoden im Bereich Computerwissenschaften und Digitalisierungstechniken neue Erkenntnisse über Aussehen, Verhalten und Lebensweise der Dinosaurier erlangen, die die bisherigen Rekonstruktionen zum Teil ad absurdum führten. Ein gutes Beispiel dafür ist die überholte und nach heutigem wissenschaftlichen Kenntnisstand falsche Aufstellung der Skelette mit am Boden schleifenden Schwänzen.
Ein Forscherteam unter der Leitung von Verónica Díez Díaz, Postdoktorandin an der Humboldt-Universität zu Berlin und dem Museum für Naturkunde Berlin, hat zum ersten Mal den dreidimensionalen Bewegungsapparat des Schwanzes eines der vollständigsten und bekanntesten Sauropoden rekonstruiert: den 150 Millionen Jahre alten Giraffatitan brancai. Alle Elemente des Schwanzes, also Wirbel und Rippen der Schwanzwirbelsäule, sowie das Becken und die Hintergliedmaßen, wurden mittels Photogrammetrie digitalisiert. Danach wurde das Schwanzskelett mit einer speziellen Software rekonstruiert. Im Anschluss wurden die Muskeln dank der überlieferten Unebenheiten und Grate, die diese Weichteile auf den Knochen hinterlassen hatten, modelliert. Als Vergleich dienten die Schwänze von Krokodilen.
Dank dieser detaillierten dreidimensionalen Rekonstruktion des Schwanzes waren die Forschenden in der Lage, das wahrscheinliche Gewicht und Volumen jedes Muskels genauer zu berechnen. Es ergab sich ein hypothetischer Gesamtwert für den kompletten Schwanz von ca. 2,5 Tonnen. Wahrscheinlich befand sich jedoch fast die Hälfte des Gewichts im vorderen Teil des Schwanzes, wo die massive und kräftige Muskulatur zum Vortrieb der Hintergliedmaßen beitrug.
Diese Art von Rekonstruktionen dienen dem Verständnis der Haltung und Fortbewegung ausgestorbener Tiere. Mit der Methodik können komplette Individuum rekonstruiert oder biomechanische Analysen durchgeführt werden.
Die für diese Studie verwendeten Exemplare befinden sich im Museum für Naturkunde Berlin. Alle erstellten digitalen Dateien sind unter diesem DOI-Link frei verfügbar: 10.7479/xm1h-5806
Publikation:
Díez Díaz et al. (2020) The Tail of the Late Jurassic Sauropod Giraffatitan brancai: Digitale Rekonstruktion seiner epaxialen und hypaxialen Muskulatur und Implikationen für die Schwanzbiomechanik. Grenzen der Geowissenschaften.
https://www.frontiersin.org/articles/10.3389/feart.2020.00160/full
Weitere Informationen zur Wissenschaftsgeschichte des Giraffatitan brancai finden sich in folgender Publikation:
Dinosaurierfragmente
Zur Geschichte der Tendaguru-Expedition und ihrer Objekte, 1906 – 2018
Ina Heumann, Holger Stoecker und Mareike Vennen
Wallstein Verlag GmbH 2018, ISBN 978-3-8353-3253-9

17.07.2020, Hochschule Trier
Wie sich die Artenvielfalt in Europa lokal verändert
Umwelt-Campus Birkenfeld beteiligt an Auswertung von über 150 Langzeitmessreihen aus 21 Ländern
Der Rückgang der Artenvielfalt ist eine der großen weltweiten Herausforderungen unserer Zeit. Ein internationales Team, dem auch Prof. Dr. Stefan Stoll von der Hochschule Trier, Umwelt-Campus Birkenfeld angehörte, wertete einen einmaligen Datensatz von 161 Langzeitmessreihen von 6200 marinen, terrestrischen und im Süßwasser lebenden Arten in 21 europäischen Ländern aus.
Die Wissenschaftler*innen zeigen in der aktuell im renommierten Fachjournal „Nature Communications“ erschienenen Studie, dass sich lokale Biodiversitätstrends in Europa teilweise erheblich von globalen Mustern unterscheiden. Die Ergebnisse der Studie haben Auswirkungen auf die Erstellung von wirksamen Schutzkonzepten.
Global scheint der Trend klar: Seit Jahren nimmt weltweit die Artenvielfalt in nahezu allen Tier- und Pflanzengruppen besorgniserregend ab. „Lokal ist dies etwas komplexer – hier spielen Faktoren vor Ort, wie beispielsweise der Verlust seltener Arten sowie die Ansiedlung neuer Arten, eine große Rolle für das Gesamtergebnis“, erklärt Prof. Dr. Peter Haase vom Senckenberg Forschungsinstitut und Naturmuseum Frankfurt, der die Studie gemeinsam mit Erstautorin Dr. Francesca Pilotto, ebenfalls Mitarbeiterin von Senckenberg sowie der Universität Umeå in Schweden, leitete. Die Auswertung zeigt, dass sich an vielen Orten in Mittel- und Südeuropa weder Artenvielfalt noch Anzahl der Arten und Individuen verändert haben, während in Nordeuropa vielerorts sogar ein Anstieg in Vielfalt und Artenzahlen zu beobachten ist. Letzteres ist unter anderem auf die steigenden Temperaturen im Zuge des Klimawandels zurückzuführen. Zudem ist in weiten Teilen Europas ein Austausch der bisherigen Flora und Fauna durch neue, häufig an wärmere Gebiete angepasste Arten zu beobachten. Die Autor*innen geben diesbezüglich in ihrer Studie auch zu bedenken, dass die meisten Messreihen frühestens in den 1980er Jahren starteten und zu diesem Zeitpunkt der weltweite Artenverlust bereits in vollem Gange war.
„Entgegen dem globalen Trend nahm regional im Bereich des Nationalparks Hunsrück-Hochwald zum Beispiel die Artenvielfalt in den Gewässern in den vergangenen Jahren deutlich zu, was vor allem mit der Erholung der Natur von den Auswirkungen des sauren Regens zu tun hat, der in den 1970er und frühen 80er Jahren zu einem dramatischen regionalen Artenverlust geführt hat“, erläutert Prof. Dr. Stefan Stoll vom Umwelt-Campus Birkenfeld, Hochschule Trier, einer der Mitautoren der Studie.
Die Mehrzahl der untersuchten Standorte gehört zum globalen Netzwerk „Long-Term Ecological Research (LTER)“, einem internationalen Zusammenschluss zur langfristigen, interdisziplinären Umweltbeobachtung, in dem auch der Umwelt-Campus Birkenfeld zusammen mit dem Nationalpark aktiv ist. Das Team fordert auf Grundlage ihrer Ergebnisse einen Ausbau und eine Verdauerung der Langzeitmessreihen um den Wandel in den Artgemeinschaften langfristig zu erfassen, sowie eine Vereinheitlichung der Messmethoden möglichst europaweit, so dass Daten und Trends noch besser vergleichbar werden. Diese Grundlagendaten sind wichtig um für die einzelnen Regionen und ihre Tier- und Pflanzenarten sinnvolle konkrete Schutzmaßnahmen zu entwickeln.

17.07.2020, Deutsches Zentrum für integrative Biodiversitätsforschung (iDiv) Halle-Jena-Leipzig
Handel mit Buschfleisch: Klare Strategien zur Eindämmung nötig
Extensiver Handel mit Wildtieren stellt nicht nur eine Bedrohung für viele Arten weltweit dar, er kann auch zur Übertragung von Krankheiten vom Tier auf den Menschen führen. Davon betroffen sind Hunderte von Tierarten, die sich hinsichtlich ihres Schutzstatus‘ und potentiell übertragbarer Krankheiten teils beträchtlich unterscheiden. Doch diese Unterschiede werden von Strategien zur Eindämmung des Wildtierhandels selten berücksichtigt. Ein internationales Forscherteam zeigt, weshalb Menschen verschiedene Wildtierarten jagen, konsumieren oder Handel treiben. Differenziertere Lösungsansätze sind notwendig, um den Ausbruch von Krankheiten und den Rückgang gefährdeter Arten zu vermeiden.
COVID-19 und die damit zusammenhängenden wirtschaftlichen, gesundheitlichen und gesellschaftlichen Verzerrungen haben deutlich gemacht, wie alarmierend die zunehmende Bedrohung durch Infektionskrankheiten ist. Rund 60 Prozent der auftretenden Infektionskrankheiten haben ihren Ursprung in Tieren; zu den bekanntesten gehören SARS, MERS, Ebola, HIV und COVID-19. Mehr als zwei Drittel dieser Krankheiten kommen ursprünglich bei Wildtieren vor. Entsprechend laut sind die Rufe nach einer stärkeren Beschränkung oder gar nach einem Verbot des Wildtierhandels. Diese Forderungen werden noch bestärkt durch die verheerenden Folgen nicht nachhaltigen Jagens, wodurch Hunderte Arten bedroht sind.
Doch für Millionen von Menschen, insbesondere im globalen Süden, stellt das sogenannte Buschfleisch eine Lebensgrundlage dar. Die Jagd und der Verzehr von Wildfleisch ist ein fester Bestandteil ihrer Kultur. Entsprechend zielen aktuelle Strategien oftmals auf eine Regulierung dieses Handels ab und weniger auf strikte Verbote. Tatsächlich weiß man jedoch recht wenig darüber, weshalb Menschen bestimmte Tiere jagen. „Für einen nachhaltigeren Wildtierhandel und die Vermeidung von unkontrollierten Krankheitsübertragungen und Artenrückgängen ist es essentiell, dass wir diese Gründe kennen und verstehen. Ich war überrascht, wie wenig Informationen es dazu gibt”, erklärt Mona Bachmann, Doktorandin bei iDiv und MPI-EVA.
Ein internationales Forscherteam unter der Leitung von Mona Bachmann und Hjalmar Kühl vom MPI-EVA und iDiv untersuchte daher das Wildtierhandelsnetzwerk an der westafrikanischen Elfenbeinküste. Da Wildtierhandel größtenteils illegal ist, wollen sich die entsprechenden Akteure dazu nur selten offen äußern. Doch mit der Hilfe lokaler, vertrauenswürdiger Informanten, oft selbst Jäger oder Händler, konnten die Wissenschaftler das Eis brechen. Etwa 350 Jäger, 200 Buschfleisch-Händler und 1000 Konsumenten gaben Einblicke in den Wildtierhandel und trugen so zu einem der aktuell umfassendsten Datensätze zum Wildtierhandel bei.
Allein in Subsahara-Afrika sind mehr als 500 Arten vom Handel mit Buschfleisch betroffen – von Ratten bis hin zu Elefanten. Etwa 80 Prozent der regional erzeugten Buschfleisch-Biomasse stammt von sogenannten Generalisten, die sich schnell vermehren, wie Nagetiere, Ducker (eine kleine Antilopenart) oder Antilopen. Diese Arten vertragen eine intensivere Bejagung und bilden in ländlichen Gebieten einen wichtigen Teil der Lebensgrundlage. Würde man diese Arten durch andere tierische Proteine ersetzen, könnte dies wiederum zur Überfischung oder zur großflächigen Umwandlung von Landschaften in Weideflächen beitragen. Arten, die weniger Nachkommen zeugen, wie viele Primaten, sind hingegen bereits durch eine geringe Bejagung gefährdet. Da diese vergleichsweise selten sind, machen sie einen eher geringen Teil der Beute aus. Auch kann generell eine größere Nähe zum Menschen – sei es aus phylogenetischer Sicht wie bei den Primaten oder aus räumlicher Sicht wie bei den Nagetieren – das Risiko einer Krankheitsübertragung erhöhen.
Die meisten Strategien zielen darauf ab, die Jagd auf Wildtiere generell zu reduzieren – egal, wie häufig eine Art ist oder ob es sich um potentielle Krankheitsüberträger handelt. Doch die Menschen jagen verschiedene Tierarten aus verschiedenen Gründen. Bleibt diese Tatsache unberücksichtigt, werden seltenere Arten mit einer höheren Schutzbedürftigkeit möglicherweise übersehen, weil sie nur einen geringen Anteil der erlegten Biomasse ausmachen – wie viele Primaten oder andere krankheitsanfälligere Arten.
Der Studie zufolge gab es teils beträchtliche Unterschiede bei den Präferenzen von Jägern, Händlern und Konsumenten – und bei ihren Motivationen. Menschen jagen aus finanziellen, kulturellen oder bildungsbezogenen Gründen, oder einfach um ihre Ernährung abzusichern. So sind Primaten beispielsweise meist das Ziel kommerzieller Jäger, weil es sich bei ihrem Fleisch um ein Luxusgut handelt und sich damit mehr Profit machen lässt. Nagetiere hingegen werden vor allem dann gejagt und verzehrt, wenn es an alternativen Proteinquellen wie Fisch oder anderem Fleisch mangelt. Und: Waren sich die Jäger oder Konsumenten über die negativen ökologischen Konsequenzen des nicht nachhaltigen Buschfleisches bewusst, jagten oder konsumierten sie weniger Primaten. Im Gegensatz dazu änderten die Händler ihr Verhalten nicht.
Breit angelegte Strategien zur Eindämmung des Wildtierhandels konzentrieren sich oft auf die Bereiche Entwicklung, Bildung oder Kultur. Die Forschungsergebnisse zeigen, dass dies unterschiedliche Auswirkungen auf Tiere wie Nager, Ducker und Primaten hat. Auch sind verschiedene Reaktionen bei Jägern, Händlern und Konsumenten zu erwarten.
„Bis zu 60 Prozent des konsumierten Fleisches stammt von Nagetieren und nur sieben Prozent von Primaten“, so Bachmann. „Würden wir Buschfleisch als Ganzes betrachten, würden wir als Hauptgrund für den Konsum einen Mangel an Protein identifizieren und somit entwicklungsbezogene Projekte empfehlen. Aber Primaten werden unabhängig davon konsumiert, ob alternative Proteinquellen zur Verfügung stehen. Eine wirtschaftliche Entwicklung könnte daher dazu führen, dass sich noch mehr Menschen dieses Luxusprodukt leisten können. Um Primaten zu schützen, müssen entwicklungsbezogene Strategien daher durch bildungsbezogene ergänzt werden.“
Die Wissenschaftler drängen daher darauf, dass politische Entscheidungsträger eine Priorität auf Planungsprozesse legen: Klare Ziele, wie Artenschutz, Entwicklung oder die Vermeidung von Krankheiten, müssen gesetzt werden. Zuvor müssen jedoch die Nutzergruppen und ihre Beweggründe für das problematischen Verhalten erforscht werden. Andere Bereiche wie Psychologie und Marketing können dabei helfen, Kampagnen optimal zu gestalten.
„Wissenschaftler und Praktiker im Bereich des Naturschutzes wollen oft schnell Lösungen finden, weil jede Verzögerung einen hohen Preis hat“, meint Bachmann. „In West- und Zentralafrika führt das häufig zu Universallösungen. Aber unsere Ergebnisse legen nahe, dass möglicherweise viele Strategien auf die falschen Ziele zugeschnitten sind. Mangelhafte Planung beeinträchtigt nicht nur den Erfolg der Strategien, sie kann auch Schaden verursachen und die ohnehin knappen Ressourcen verschwenden, die zum Schutz der Biodiversität verfügbar sind.“ Hjalmar Kühl fügt hinzu: „Wenn wir das Problem des Raubbaus an Wildtieren wirklich lösen und die damit einhergehenden Risiken vermeiden wollen, um Arten zu erhalten und das Wohl der Menschen zu gewährleisten, dann müssen wir es an seinen Wurzeln packen. Wir können das Problem nicht einfach weiter ignorieren, sondern müssen Ressourcen investieren und Strategien entwickeln, die wirklich zu einem nachhaltigen Zusammenleben von Menschen und Wildtieren beitragen.“
Originalpublikation:
Mona Bachmann, Martin Reinhardt Nielsen, Heather Cohen, Dagmar Haase, Joseph A. K. Kouassi, Roger Mundry, Hjalmar S. Kuehl (2020). Saving rodents, losing primates – why we need tailored bushmeat management strategies. People and Nature. DOI: 10.1002/pan3.10119

20.07.2020, Westfälische Wilhelms-Universität Münster
Höhlenfische haben weniger Zellen des angeborenen Immunsystems
Höhlenfische haben eine unerwartete Eigenschaft: Sie können Wissenschaftlern einiges über Autoimmunkrankheiten beim Menschen verraten. Ein internationales Forscherteam hat jetzt die Auswirkungen einer verringerten Parasitenzahl und -infektion auf die Entwicklung des Immunsystems der Höhlenfische untersucht. Das Ergebnis: Höhlenfische haben eine andere Empfindlichkeit gegenüber Immunstimulanzien und weisen eine andere Zusammensetzung von Immunzellen auf. Unter anderem besitzen sie weniger Zellen des angeborenen Immunsystems, die bei Entzündungen eine Rolle spielen. Die Studie ist in „Nature Ecology & Evolution“ erschienen.
Höhlenfische sind klein, leben an versteckten Orten und sind auf allen Kontinenten außer der Antarktis verbreitet. Sie haben aber noch eine andere Eigenschaft, die auf den ersten Blick überraschend erscheint: Sie können Forschern einiges über das Auftreten von Autoimmunkrankheiten beim Menschen verraten. Denn ähnlich wie der Mensch leben Höhlenfische in einer Umgebung mit einer reduzierten Anzahl von Parasiten, hatten jedoch bereits viel mehr Zeit, um sich an diese Bedingungen anzupassen – etwa 150.000 Jahre. Ein internationales Forscherteam unter der Leitung des Stowers Institute for Medical Research in den USA hat jetzt die Auswirkungen einer verringerten Parasitenzahl und -infektion auf die Entwicklung des Immunsystems der Höhlenfische untersucht.
Die Wissenschaftler unter Beteiligung von Dr. Jörn P. Scharsack von der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster (WWU) sahen sich an, wie das Immunsystem der Höhlenfische auf Bedrohungen reagiert – verglichen mit dem Immunsystem von Flussfischen, die in einer parasitenreichen Umgebung leben. Die Ergebnisse zeigen, dass Höhlenfische eine andere Empfindlichkeit gegenüber Immunstimulanzien und eine andere Zusammensetzung von Immunzellen aufweisen. Unter anderem besitzen sie weniger Zellen des angeborenen Immunsystems, die bei Entzündungen eine Rolle spielen.
In zukünftigen Studien hoffen die Wissenschaftler, genetische Faktoren zu identifizieren, die an der Evolution des Immunsystems von Höhlenfischen beteiligt sind. Die Ergebnisse könnten Hinweise auf die Entwicklung von Störungen des Immunsystems und möglicherweise auch von Autoimmunkrankheiten des Menschen liefern, bei denen das Immunsystem den eigenen Körper angreift. Die Studie ist in der Fachzeitschrift „Nature Ecology & Evolution“ erschienen.
Hintergrund und Methode:
Höhlenfische haben wie der Mensch ein angeborenes und ein adaptives Immunsystem, das sie vor potenziellen Parasiten schützt. Das menschliche Immunsystem sucht jedoch manchmal nach etwas, das es alternativ angreifen kann, wenn keine Parasiten vorhanden sind – während die Höhlenfische ein Immunsystem entwickelt haben, das auch ohne Parasiten normal zu funktionieren scheint.
„Eine Hypothese ist, dass bestimmte Parasiten dazu beitragen, unsere Immunsystem-Reaktionen auszugleichen. Wenn diese Parasiten nicht vorhanden sind, kann dieses Gleichgewicht gestört werden, und als Folge davon greift das Immunsystem unsere eigenen Zellen im Körper an“, sagt Erstautor Dr. Robert Peuß, der die Studie in der Forschergruppe von Dr. Nicolas Rohner am Stowers Institute durchführte und mittlerweile an der WWU tätig ist. Die Frage, warum das Immunsystem bei einem Menschen betroffen ist und beim anderen nicht, ist immer noch eine Frage, die vielen Wissenschaftler weltweit nach wie vor ein Rätsel ist.
Fortschritte in der modernen Hygiene und in der medizinischen Behandlung haben die Gesundheit verbessert, allerdings ist das für Menschen eine relativ neue Situation, sodass sich die Prozesse des Immunsystems evolutionär noch nicht anpassen konnten – anders als beim Höhlenfisch. In ihrer Studie bewerteten die Forscher die Lebensräume von mexikanischen Pachón-Höhlenfischen und ihren Verwandten aus dem Fluss Río Choy in Mexiko, sogenannte Oberflächenfische, die in einer parasitenreichen Umgebung leben. „Wir haben in den Oberflächenfischen eine große Anzahl von Parasiten bei Oberflächenfischen gefunden – im Darm, in der Haut, in der Leber, in der Gallenblase, eigentlich überall“, sagt Robert Peuß. In den Höhlenfischen fanden sich hingegen gar keine Parasiten.
Im Labor untersuchten die Forscher das angeborene und das adaptive Immunsystem beider Fischarten. Das angeborene Immunsystem ist die erste Verteidigung gegen Parasiten und löst mit einer breiten Verteidigungsstrategie eine unspezifische Entzündungsreaktion aus, während das adaptive Immunsystem in der Regel eine Immunantwort langsamer in Gang setzt, diese Reaktion aber hochspezifisch ist. Die erste Beobachtung, die das Team machte, war, dass das angeborene Immunsystem von Höhlenfischen im Vergleich zu Oberflächenfischen viel empfindlicher ist, wenn es mit einer potenziellen Bedrohung konfrontiert wird – was zu einer stärkeren Entzündungsreaktion führt.
Interessanterweise fand das Team heraus, dass Höhlenfische weniger Zellen produzieren, aus denen das angeborene Immunsystem besteht. Die Verringerung dieser Zellen könnte möglicherweise die erhöhte Empfindlichkeit kompensieren. Aber ist die verringerte Zahl der angeborenen Immunzellen in Höhlenfischen lediglich eine Folge der geringeren Anzahl von Parasiten in der Höhle? Oder gibt es noch andere Vorteile, wenn weniger dieser Zellen produziert werden, die die Entzündung antreiben?
Um diese Fragen zu beantworten, untersuchten die Forscher den Körperfettanteil der Höhlenfische. Eine Zunahme des Fettgewebes verstärkt normalerweise auch die Entzündung – auch beim Menschen. Bei den Höhlenfischen, die einen viel höheren Körperfettanteil haben als die Oberflächenfische, wurden jedoch keine höheren Entzündungswerte festgestellt. „Die Verminderung der angeborenen Immunzellen bei Höhlenfischen im Vergleich zu Oberflächenfischen ist wahrscheinlich die Ursache für das Ausbleiben der Entzündungsreaktion“, sagt Robert Peuß.
Die genetischen Faktoren, die bei Höhlenfischen zu einer verminderten Produktion von angeborenen Immunzellen führen, sind bisher noch unbekannt. In Folgeuntersuchungen wollen die Forscher diese Faktoren identifizieren und herausfinden, ob es beim Menschen ähnliche Faktoren geben könnte.
Aufbau einer Höhlenfischzucht am Institut für Evolution und Biodiversität der WWU
Mit dem Wechsel von Robert Peuß an das Institut für Evolution und Biodiversität der WWU planen die Wissenschaftler, dort eine Höhlenfischzucht aufzubauen und die Tiere als Untersuchungsmodel für Wirt-Parasit-Interaktionen zu etablieren. Der Forschungsschwerpunkt soll auf Studien zur Erforschung der genetischen Grundlagen für Immun-Investitionsstrategien und immunologische Hypersensitivität liegen.
Originalpublikation:
R. Peuß et al. (2020): Adaptation to low parasite abundance affects immune investment and immunopathological responses of cavefish. Nature Ecology & Evolution; DOI: 10.1038/s41559-020-1234-2

20.07.2020, Forschungsverbund Berlin e.V.
Erste detaillierte Einblicke in den Geburtsvorgang bei Nashörnern
Wann genau kommt ein Nashornbaby zur Welt? Wie lange dauert die Geburt tatsächlich? Läuft der Geburtsvorgang normal ab oder ist Geburtshilfe notwendig? Die Beantwortung dieser und vieler ähnlicher Fragen ist schwierig für Experten in Zoos, da grundlegende Kenntnisse über den Ablauf von Nashorngeburten fehlen. Wissenschaftler des Leibniz-IZW und Zootierärztinnen und Zootierärzte aus sechs europäischen Zoos haben nun 19 trächtige Breitmaulnashörner bei der Geburt intensiv begleitet und zeitliche Abläufe während der Entwicklung vor der Geburt wie Milchproduktion, fallende Hormonspiegel und Trächtigkeitsdauer überwacht, um den Beginn der Geburt besser vorhersagen zu können.
Dafür wurden die Dauer verschiedener Geburtsstadien, die Position des Fötus bei der Geburt und die ersten Lebensstunden des Nashornbabys beobachtet. Die verbesserte Wissensgrundlage über den Ablauf normaler Geburten bei Nashörnern ermöglicht Zootierärztinnen und Zootierärzte eine bessere Einschätzung, ob Geburtshilfe eventuell notwendig ist. So könnte die Zahl der Totgeburten oder perinataler Todesfälle in Menschenhand sinken. Die Ergebnisse sind in der Fachzeitschrift „Theriogenology“ veröffentlicht.
Die Erzeugung von Nachkommen ist für langsam reproduzierende Arten wie Nashörner mit einem enormen zeitlichen Aufwand verbunden. Ein Reproduktionszyklus beim Nashorn beinhaltet einen 4- bis 6-wöchigen Brunstzyklus, 16 Monate Trächtigkeit und bis zu 6 Monate Stillzeit. Ein Reproduktionszyklus dauert somit 1,5 bis 2,5 Jahre – einer der längsten bei landlebenden Säugetieren. Die Geburt eines lebenden und gesunden Kalbes ist daher ein wichtiges Ereignis, da sie sicherstellt, dass die vom Weibchen investierte Zeit und Energie nicht in letzter Minute verloren gehen. „Die Geburt sowie die Zeit kurz davor und danach stellen das Nadelöhr des Fortpflanzungszyklus dar. Dies sind die Schlüsselmomente, die eine neue Generation etablieren und das langfristige Überleben der Art sichern“, sagt der Nashornspezialist Prof. Robert Hermes von der Abteilung für Reproduktionsmanagement des Leibniz-IZW. „Auch wenn die Geburt eines lebenden Kalbes bei Arten mit langen Reproduktionszyklen von so herausgehobener Bedeutung ist, waren wesentliche Abläufe einer Nashorngeburt bislang wenig dokumentiert und Prognosen des Geburtsverlaufes fast unmöglich.“
Aus diesem Grund erforschte ein Wissenschaftlerteam des Leibniz-IZW zusammen mit Zootierärztinnen und Zootierärzten aus sechs europäischen Zoos die letzte Phase des Reproduktionszyklus, quasi dessen Achillesferse – die Geburt. Zur besseren Vorhersage der Geburt zeichneten sie bei 19 trächtigen Breitmaulnashörnern die zeitlichen Abläufe für die Entwicklung des Euters vor der Geburt, die Genitalschwellung, die Milchproduktion, Auffälligkeiten im Verhalten und die Abnahme des trächtigkeitssteuernden Hormons Progesteron sowie die Trächtigkeitsdauer auf. Der Beginn der Geburt, die verschiedenen Geburtsstadien, das Platzen der Fruchtblase, die Position des Fötus bei der Geburt und wichtige Meilensteine des Kalbes nach der Geburt wurden ebenfalls aufgezeichnet, um den Ablauf und die Konsequenzen einer normal verlaufenden Geburt medizinisch besser beurteilen zu können.
„Die Geburt eines Breitmaulnashornkalbes nach 16 Monaten und 3 Wochen Trächtigkeit dauerte im Durchschnitt 7 Stunden und 38 Minuten“, so Hermes. „Die Wehen sind bei den meisten Nashörnern schwer erkennbar und können für unerfahrene Beobachter sogar gänzlich unerkannt bleiben. Der letzte Teil der Nashorngeburt ist besser sichtbar, beginnt mit dem Platzen der Fruchtblase zwei Stunden vor Geburt und endet mit dem Herauspressen des Kalbes aus dem Leib der Mutter in weniger als 25 Minuten.“ Wenn Nashornkälber mit dem Kopf voran geboren wurden (84 Prozent der registrierten Geburten), dauerte diese letzte Phase sogar weniger als 10 Minuten. Wenn das Kalb mit den Hinterfüßen zuerst geboren wurde, konnte sie allerdings auch bis zu 45 Minuten dauern. „Eine sehr schnelle Austreibung des Fötus, der zwischen 40 und 70 Kilogramm wiegt, ist vermutlich wichtig, um keine unerwünschte Aufmerksamkeit von Raubtieren zu erregen“, schließt Hermes. Es dauerte etwa eine Stunde, bis das Kalb aufstand, und etwa 3,5 Stunden, bis es zum ersten Mal gestillt wurde. Abweichungen von diesem Normalverlauf können auf Geburtskomplikationen hinweisen, die einen geburtshilflichen Eingriff erfordern.
Jede sechste Geburt bei Panzer- und Breitmaulnashörnern in Zoos führte bisher zu Totgeburten oder zum Ableben des Nachwuchses direkt nach der Geburt. Dennoch gab es bisher nur wenige Einzelberichte über Geburtsverläufe, Schwergeburten oder Totgeburten. Aus diesem Grund sind die jetzt gesammelten umfassenden Daten von grundlegender Bedeutung, um Schwergeburten, drohenden Sauerstoffmangel des Nashornkalbes während der Geburt, perinatale Störungen des Neugeborenen oder mangelndes Aufzuchtverhalten des Muttertieres rechtzeitig diagnostizieren zu können. „Die Ergebnisse unserer Untersuchung werden den Betreuern von Nashornpopulationen in menschlicher Obhut helfen, Geburten besser vorherzusagen und gegebenenfalls Geburtshilfe zu leisten, um die derzeit hohen Totgeburten- und perinatalen Sterberaten zu senken“, sagt Hermes.
Originalpublikation:
Hermes R, Göritz F, Wiesner M, Richter N, Mulot B, Alerte V, Smith S, Bouts T, Hildebrandt TB (2020): Parturition in white rhinoceros. Theriogenology.
Doi: https://doi.org/10.1016/j.theriogenology.2020.06.035

21.07.2020, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel
Die Besiedlung mit Mikroben hängt vom Wirt ab
CAU-Forschungsteam untersucht am Beispiel des Süßwasserpolypen Hydra die grundlegenden Prinzipien beim Zustandekommen des Mikrobioms
Jedes vielzellige Lebewesen auf der Welt ist von einer unvorstellbar großen Anzahl von Mikroorganismen besiedelt und hat sich in der Entstehungsgeschichte des Lebens gemeinsam mit ihnen entwickelt. Das natürliche Mikrobiom, also die Gesamtheit dieser Bakterien, Viren und Pilze, die in und auf einem Körper leben, ist von fundamentaler Bedeutung für den Gesamtorganismus: Einerseits übernimmt es zum Beispiel von der Unterstützung der Nahrungsaufnahme bis hin zum Schutz vor Krankheitserregern lebenswichtige Aufgaben für das Wirtslebewesen. Andererseits können Störungen des Mikrobioms verschiedene schwerwiegende Krankheiten verursachen, beim Menschen zum Beispiel Diabetes, Morbus Crohn oder andere chronische Entzündungskrankheiten. Forschende weltweit untersuchen daher seit einigen Jahren intensiv die hochkomplexen Interaktionen von Wirtslebewesen und Mikroorganismen und ihre Beteiligung an zentralen Lebensprozessen. Eine besondere Herausforderung dabei ist es, zunächst eine Normalzusammensetzung des gesunden Mikrobioms zu definieren.
Einem Forschungsteam aus der Arbeitsgruppe Zell- und Entwicklungsbiologie an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU) gelang nun ein wichtiger Schritt auf diesem Weg: Am Beispiel des Süßwasserpolypen Hydra untersuchten die Forschenden um Professor Thomas Bosch, welche grundlegenden Prinzipien bei der Ansiedlung des Mikrobioms in einem Organismus wirken. Dazu unternahmen sie Zeitserienexperimente mit den beiden häufigsten Bakterienarten (Curvibacter und Duganella) des Hydra-Mikrobioms und beobachteten, wie sie bei ihrem Wachstum in einer künstlichen Umgebung miteinander und mit ihrer Umwelt interagieren. Anschließend verglichen sie die gemeinsame Ansiedlung der beiden Bakterien auf dem Wirtslebewesen. Das Forschungsteam konnte zeigen, dass eine natürliche Mikrobiom-Zusammensetzung nur unter den spezifischen Lebensbedingungen des Wirtes zustande kommen kann – also die Umwelt einen entscheidenden Einfluss auf das Mikrobiom ausübt. Ihre Ergebnisse veröffentlichten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des CAU-Sonderforschungsbereichs (SFB) 1182 „Entstehen und Funktionieren von Metaorganismen“ heute in der Fachzeitschrift mBio.
Ein neuer Untersuchungsansatz
Das Mikrobiom eines Lebewesens bildet ein eigenständiges und unter normalen Umständen stabiles Ökosystem. Die spezifische Zusammensetzung und Häufigkeit der darin vorkommenden verschiedenen Mikrobenarten beeinflusst die Lebensfunktionen und die Gesundheit des Wirtsorganismus. Wie diese charakteristischen Muster der Mikrobiom-Zusammensetzung zustande kommen, wird gegenwärtig intensiv erforscht. Das Kieler Forschungsteam bediente sich eines neuen Ansatzes, der auf einer Zeitserienbeobachtung eines neu entstehenden künstlichen Mikrobioms beruht: „Wir haben das einfache Mikrobiom der Hydra gewissermaßen in seine Bestandteile zerlegt und im Reagenzglas ein vereinfachtes Modell der Interaktionen der dominanten Bakterienarten nachgestellt: Duganella und Curvibacter konnten unter diesen Bedingungen nicht koexistieren, Curvibacter starb immer aus“, betont Erstautor Dr. Peter Deines, ehemaliger Wissenschaftler in der CAU-Zell- und Entwicklungsbiologie und SFB 1182-Mitglied. „In der künstlichen Umgebung setzt sich Duganella immer gegen Curvibacter durch und verdrängt es dank seiner besseren Konkurrenzfähigkeit im Laufe der Zeit“, so Deines weiter. Auf diesem Weg konnten die Forschenden die grundsätzliche Populationsdynamik dieser beiden Bakterien im direkten Kontakt miteinander bestimmen und auf dieser Grundlage anschließend den Einfluss der Wirtsumgebung auf die Bakterienzusammensetzung ableiten.
Dazu haben die Kieler Forschenden sterile, also von Mikroorganismen befreite, Hydren mit den beiden Bakterien besiedelt. „Hier zeigte sich ein ganz anderes Bild, denn unter den Lebensbedingungen des Wirtstieres konnte Curvibacter existieren, jedoch noch immer nicht in den Verhältnissen die man in der Natur findet. Das deutet darauf hin, dass den selteneren Bakterien des Mikrobioms hier eine wesentliche Rolle zukommt“, betont Deines, dessen Arbeit durch einen Marie Curie-Grant der Europäischen Union gefördert wurde. Dieser deutliche Effekt lässt den Schluss zu, dass beide Bakterienarten nur im Ökosystem des Wirtsorganismus und als Teil der gesamten bakteriellen Lebensgemeinschaft stabil nebeneinander existieren können. Dieser Wirtseffekt kommt möglicherweise unter anderem durch die räumliche Verteilung der verschiedenen Bakterien innerhalb des Körpers zustande.
Systembiologie der Wirts-Mikroben-Beziehungen
Die nun vorlegte Arbeit ist auch in methodischer Hinsicht bedeutend. Die häufig zur Bestimmung der Mikrobiom-Zusammensetzung genutzte DNA-Sequenzierung der vorhandenen Mikroorganismen ist prinzipiell nur eine Momentaufnahme, bei der die zeitliche Entwicklung der Populationsdynamik weitgehend verloren geht. Wichtig für das Verständnis der Mikrobiom-Zusammensetzung ist es aber, wie in den Experimenten der Kieler Forschenden auch den zeitlichen Ablauf zu betrachten. Ihre Arbeit beruht also einerseits auf der Beobachtung der mikrobiellen Populationsentwicklung über die Zeit, andererseits auf einer Simplifizierung der Interaktionen innerhalb des Mikrobioms im Sinne eines systembiologischen Ansatzes. Damit lassen sich vor allem bei einfachen Modellorganismen einzelne Bestandteile aus dem Gesamtsystem der Mikrobengemeinschaft herauslösen und nach dem Baukasten-Prinzip kombinieren, um mittels dieser Vereinfachung die Prinzipien ihres Zusammenspiels nachvollziehen zu können.
Auf diese Weise gelang es dem Kieler Forschungsteam zudem, die maximale Tragfähigkeit des Ökosystems innerhalb des Wirtsorganismus zu bestimmen. Damit ist die maximale Beladungsfähigkeit eines Gewebes oder einer Zelle mit einer bestimmten Anzahl von Mikroben gemeint. So konnten sie einen wichtigen Bestandteil zur Beschreibung eines Normalzustandes des Mikrobioms zu identifizieren. „Die mikrobielle Tragfähigkeit eines Wirtes ist eine wichtige Variable seines Gesundheitszustandes, die in der bisherigen Forschung nur wenig beachtet wurde“, betont SFB 1182-Sprecher Bosch. „Viele Erkrankungen, auch des Menschen, entstehen, wenn diese Tragfähigkeit über- oder unterschritten wird – etwa bei Darmerkrankungen, die durch ein schädliches, weil zu starkes und überproportionales Wachstum bestimmter Bakterienarten im Verdauungstrakt geprägt sind“, so Bosch weiter. Erste Indizien weisen im Hydra-Modellsystem zudem darauf hin, dass sich bestimmte Krankheitserscheinungen durch eine geänderte Ernährung und deren Auswirkung auf die Zusammensetzung des Mikrobioms positiv beeinflussen lassen. In weiteren Forschungsarbeiten wollen die Mitglieder des Kieler SFB 1182 diese Zusammenhänge von mikrobieller Tragfähigkeit und Gesundheitszustand bei verschiedenen Lebewesen genauer untersuchen, um daraus in Zukunft mögliche therapeutische Eingriffe in das Mikrobiom ableiten zu können.
Originalpublikation:
Deines P, Hammerschmidt K, Bosch TCG (2020): Microbial species coexistence depends on the host environment. mBio First published 21 July 2020
https://doi.org/10.1128/mBio.00807-20

22.07.2020, Deutsche Wildtier Stiftung
Schlangen im Garten: Keine Angst vor den scheuen Sensibelchen
Deutsche Wildtier Stiftung: Heimischer Schlangen-Bestand nimmt durch die Zerstörung von Lebensraum immer mehr ab
Schlangen sind ganz besondere Garten-Gäste; man muss es ihnen erst recht machen, damit sie zu Besuch kommen. Einer, der weiß, was die scheuen Diven sich wünschen, ist Moritz Franz-Gerstein von der Deutschen Wildtier Stiftung. „Schlangen nutzen gern naturnahe Gärten“, sagt er. „Wer heimischen Schlangen im Garten Lebensraum bietet, leistet einen wertvollen Beitrag für Biodiversität und Artenschutz.“
Juli und August sind gute Monate, um einer Schlange zu begegnen. Das kann eine schwarzgefleckte Ringelnatter (Natrix n. natrix) sein, mit hellem Bauch und gelben Kopfflecken. Die eng verwandte Barren-Ringelnatter (Natrix n. helvetiva) wurde erst vor drei Jahren als eigene Art klassifiziert. „Sie ist in Deutschland sehr selten und nur im Westen Deutschlands zu finden“, so Franz-Gerstein. Oder sogar die größte der heimischen Schlangen: Eine olivgrüne bis grauschwarze Äskulapnatter (Elaphe longissima), die ihre ovalen Eier in einen feuchtwarmen Kompost- oder Grashaufen legt. Die inzwischen seltene Art ist aus der griechischen Mythologie heraus bis heute Symbol der Ärzte und Apotheker. Die Schlingnatter (Coronella austriaca) ist eine kleine, zierliche Schlange, die häufig mit der Kreuzotter verwechselt wird.
Alle fünf der in Deutschland heimischen Natternarten sind ungiftig. Giftig sind Kreuzotter (Vipera berus) und Aspisviper (Vipera aspis). „Bisse sind aber selten und verlaufen meist glimpflich“, sagt der Schlangen-Experte der Deutschen Wildtier Stiftung. In aller Regel schlängeln sich die Wildtiere schnell davon, sobald man sich ihnen nähert. „Schlangen sind sensibel, nehmen jede noch so kleinste Bodenerschütterung war und suchen dann das Weite“, so Franz-Gerstein.
Nützlich sind die Gartenbesucherinnen auch. „Da, wo sich eine Schlange aufhält, sind weniger Mäuse und auch viel weniger Ratten zu finden“, sagt der Artenschützer. Sogar der Geruch der Häutungsreste einer Schlange vertreibt Ratten und Mäuse. Schlangen sind sehr genügsam, was ihre Speisekarte angeht: „Hat eine Schlange eine Maus oder einen Frosch verspeist, kommt sie problemlos drei Monate ohne erneute Mahlzeit aus; denn diese Tiere sind virtuose Energiesparer – um nicht zu sagen ,elegante Faulenzer‘.“
Schlangen sind in Deutschland selten geworden und stehen darum unter besonderem Schutz. Nur sieben von weltweit 3.000 Schlangenarten leben bei uns. Ihr Bestand nimmt durch die Zerstörung ihres natürlichen Lebensraumes immer mehr ab. So ist beispielsweise die Würfelnatter (Natrix tesselata) nur noch in Rheinland-Pfalz und an der Elbe in Sachsen nachgewiesen. Gartenbesitzer können den Tieren helfen: Naturnahe Gärten mit Steinhaufen, offenem Kompost für Grünschnitt und Laub oder einem Teich als Biotop bieten Lebensraum, der anderswo knapp wird.

22.07.2020, Eberhard Karls Universität Tübingen
Sag‘ mir, was der Fuchs fraß, und ich sage dir, wie der Mensch zu ihm stand
Pressemitteilung der Universität Tübingen und der Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung: Forschungsteam untersucht, was Knochen des Kulturfolgers über sein Lebensumfeld vor rund 40.000 Jahren verraten
Füchse passten sich schon vor 40.000 Jahren an Menschen an und änderten ihr Nahrungsspektrum. Diese Entwicklung fiel mit dem Auftreten des modernen Menschen in Südwestdeutschland zusammen, als die Höhlen der Schwäbischen Alb stärker genutzt wurden. Die hauptsächliche Ernährungsweise des Fuchses und seine Beziehungen zum Menschen untersuchte ein Forschungsteam des Senckenberg Centre for Human Evolution and Palaeoenvironment an der Universität Tübingen für den Zeitraum vor 42.000 bis 32.000 Jahren. Dafür haben die Teammitglieder Chris Baumann, Professor Hervé Bocherens, Dr. Dorothée Drucker und Professor Nicholas Conard Isotopenanalysen von Fuchsknochen aus verschiedenen Fundstellen Südwestdeutschlands, mehreren Höhlen auf der Schwäbischen Alb, herangezogen. Neben den Füchsen, die in der Nähe von Menschen lebten, gab es auch solche, die unabhängig waren und selbst auf die Jagd gingen oder sich an der Beute großer Raubtiere bedienten. Die Ergebnisse hat das Forschungsteam in der Fachzeitschrift PlosONE veröffentlicht.
Menschen nahmen schon früh Einfluss auf ihre Umwelt. So wird vermutet, dass sie durch ihr Jagdverhalten im späten Pleistozän das Aussterben großer Pflanzenfresser mit verursachten. „Wir haben nun untersucht, ob die Jagdaktivitäten der Menschen manchen Tierarten auch Vorteile verschafft haben könnten“, sagt Chris Baumann. Ursprünglich hätten Rotfuchs und Polarfuchs (Vulpes vulpes und Vulpes lagopus) hauptsächlich von der Jagd auf kleine Säugetiere gelebt. „So war es im Mittelpaläolithikum vor mehr als 42.000 Jahren“, sagt der Wissenschaftler. „Das war in Südwestdeutschland die Zeit der Neandertaler, und die Schwäbische Alb war kaum besiedelt.“
Eine neue ökologische Nische
Als seit dem Jungpaläolithikum, in den Kulturperioden des Aurignacien (42.000 bis 34.000 Jahre vor heute) und Gravettian (34.000 bis 30.000 Jahre vor heute) der moderne Mensch in die Region einwanderte und die Höhlen auf der Schwäbischen Alb stärker genutzt wurden, ergab sich für die Füchse eine neue ökologische Nische. „Die Daten aus den Isotopenanalysen der Fuchsknochen deuten darauf hin, dass sich die Nahrungszusammensetzung etlicher Tiere änderte. Wir gehen davon aus, dass diese Füchse sich nun überwiegend von Fleischabfällen ernährten, die Menschen hinterlassen hatten, oder vielleicht sogar von ihnen gefüttert wurden“, sagt Hervé Bocherens. Dabei handelte es sich um Fleisch von großen Tieren, die die Füchse nicht selbst erbeuten konnten wie Mammuts und Rentiere.
„Die Menschen brachten erlegte Rentiere im Ganzen in ihre Höhlen. Dagegen wurden die riesigen Mammuts vor Ort zerlegt, dort wo sie getötet wurden“, erklärt Baumann. Die Füchse nutzten wahrscheinlich beides als Nahrungsquelle. Sie seien sehr flexibel und stellten sich schnell auf das am leichtesten zu erreichende Futter ein. Auch heute sei bei Füchsen zu beobachten, dass sie sich in der Nähe von menschlichen Siedlungen überwiegend von Abfällen ernährten. Umgekehrt seien in der Vogelherd-Höhle bei Niederstotzingen im Lonetal Unterkiefer von Füchsen mit Schnittspuren aus dem Jungpaläolithikum gefunden worden, die zeigten, dass Menschen Fleisch und Fell der Füchse nutzten.
Hund, Fuchs und Wolf
In einer vorhergehenden Publikation hatte das Forschungsteam das Nahrungsspektrum von Hund, Fuchs und Wolf im Zeitraum zwischen 17.000 und 13.000 Jahren vor heute, der Kulturperiode des Magdalenien, von mehreren Fundstätten in Südwestdeutschland und der Schweiz untersucht. „Die Wölfe ernährten sich von einem weiten Spektrum von Beutetieren, während Hunde bei ihrem Futter von Menschen abhingen“, fasst Baumann die Ergebnisse zusammen. Die meisten Füchse besetzten eine eigene ökologische Nische und ernährten sich von kleinen Säugetieren. „Es gab jedoch einen Rotfuchs, der ein ähnliches Nahrungsspektrum hatte wie die Hunde. Er lebte in der Nähe von Menschen, wie heutige Füchse in den Städten.“
Originalpublikation:
Chris Baumann, Hervé Bocherens, Dorothée G. Drucker, Nicholas J. Conard: Fox dietary ecology as a tracer of human impact on Pleistocene ecosystems. PlosONE, https://doi.org/10.1371/journal.pone.0235692
Chris Baumann, Britt M. Starkovich, Dorothée G. Drucker, Susanne C. Münzel, Nicholas J. Conard, Hervé Bocherens: Dietary niche partitioning among Magdalenian canids in south-western Germany and Switzerland. Quaternary Science Reviews, Volume 227, 1. Januar 2020; https://doi.org/10.1016/j.quascirev.2019.106032

22.07.2020, Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften e.V.
Die Gene hinter den Superkräften der Fledermäuse
Forschende veröffentlichen die ersten sechs hochqualitativen Referenzgenome von Fledermäusen
Fledermäuse können fliegen und sich mit Hilfe von Echoortung mühelos in völliger Dunkelheit orientieren; sie überleben tödliche Krankheiten und sind erstaunlich widerstandsfähig gegenüber dem Altern und Krebs. Forschende haben nun erstmals das Erbgut von Fledermäusen nahezu vollständig entschlüsselt, das für die einzigartige Anpassung und die Superkräfte dieser Tiere verantwortlich ist.
Bat1K ist ein weltweites Konsortium von Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen, das sich der Sequenzierung des Erbguts jeder einzelnen der 1421 lebenden Fledermausarten widmet. Nun haben diese Wissenschaftler sechs hochpräzise Fledermausgenome erstellt und analysiert. Diese sind zehnmal vollständiger als alle bisher veröffentlichten Fledermausgenome. Damit bilden sie die Grundlage, um die einzigartigen Eigenschaften von Fledermäusen zu erforschen.
„Wir können nun besser verstehen, wie Fledermäuse Viren tolerieren, das Altern verlangsamen und Flug und Echoortung entwickelt haben. Mit diesem Wissen über die genetischen Eigenschaften der Fledermäuse lassen sich möglicherweise künftig Alterungsprozesse und Krankheiten des Menschen lindern”, sagt Emma Teeling, Hauptautorin vom University College Dublin und Mitbegründerin von Bat1K.
Die Forschenden haben Fledermausgenome wurden mit Hilfe neuester Technologien des DRESDEN-concept Genome Center (DGC) entschlüsselt. Das DGC ist eine gemeinschaftlich genutzte hochmoderne Technologieplattform in Dresden. Das Team konnte so die DNA der Fledermaus sequenzieren und neue Methoden entwickeln, um dann die einzelnen Teile in der richtigen Reihenfolge zusammenzusetzen und die vorhandenen Gene zu bestimmen.
„Mit den modernsten DNA-Sequenzierungstechnologien und neuen Computermethoden für derartige Daten haben wir 96 bis 99 Prozent jedes Fledermausgenoms auf Chromosomenebene rekonstruiert und das in einer noch nie dagewesenen Qualität. Diese ist beispielsweise mit der aktuellen Qualität des menschlichen Genoms vergleichbar – das Ergebnis von mehr als einem Jahrzehnt intensiver Bemühungen. Daher bieten diese Fledermausgenome eine hervorragende Grundlage für Experimente und evolutionäre Studien der faszinierenden Fähigkeiten und physiologischen Eigenschaften dieser Tiere“, so Eugene Myers, Hauptautor und Direktor am Max-Planck-Institut für molekulare Zellbiologie und Genetik und am Zentrum für Systembiologie, Dresden, Deutschland.
Verwandtschaft der Fledermäuse
Das Team hat diese Fledermausgenome mit 42 anderen Säugetieren verglichen, um die noch strittige Frage zu beantworten, wo Fledermäuse im Stammbaum der Säugetiere angesiedelt sind. Mit Hilfe neuartiger Methoden und mit umfassenden molekularen Datensätzen fand das Team heraus, dass Fledermäuse am engsten mit einer Gruppe namens Ferungulata verwandt sind. Dazu zählen Fleischfresser (zum Beispiel Hunde, Katzen und Robben), Schuppentiere, Wale und Huftiere (Hufsäuger).
Um die genomischen Veränderungen aufzuspüren, die zu den einzigartigen Anpassungen von Fledermäusen geführt haben, hat das Team systematisch nach genetischen Unterschieden zwischen Fledermäusen und anderen Säugetieren gesucht. Dabei fanden die Forscher Regionen im Genom, die sich bei Fledermäusen anders entwickelt haben. So gingen Gene im Laufe der Evolution verloren oder es kamen neue hinzu, die die einzigartigen Eigenschaften von Fledermäusen beeinflusst haben könnten.
„Unsere Genom-weiten Suchen haben Veränderungen in den Genen des Gehörs gefunden. Diese Änderungen könnten zur Echoortung beitragen. Darüber hinaus haben wir Duplikationen von antiviralen Genen, Änderungen in Genen des Immunsystems und den Verlust von Genen entdeckt, die Entzündungen fördern. Diese Veränderungen könnten zu der außergewöhnlichen Immunität von Fledermäusen und zu deren Toleranz gegenüber Coronaviren beitragen”, erklärt Michael Hiller, Hauptautor und Forschungsgruppenleiter am Max-Planck-Institut für molekulare Zellbiologie und Genetik in Dresden, am Max-Planck-Institut für Physik komplexer Systeme, und am Zentrum für Systembiologie Dresden.
Hohe Virustoleranz
Das Team fand auch Hinweise darauf, dass sich die Fähigkeit der Fledermäuse, Viren zu tolerieren, in ihren Genomen widerspiegelt. Die hochqualitativen Genome enthielten „fossile Virensequenzen“ von einer großen Vielfalt an Viren. Dies zeigt, dass Fledermäuse schon in der Vergangenheit Virusinfektionen überlebt haben.
Die hohe Qualität der Fledermausgenome hat es dem Team erlaubt, mehrere regulatorische Regionen im Genom eindeutig zu identifizieren und experimentell zu bestätigen. Diese Regionen haben möglicherweise die wichtigsten evolutionären Entwicklungen von Fledermäusen beeinflusst.
„Mit derart vollständigen Genomen waren wir in der Lage, regulatorische Regionen zu identifizieren, die die Aktivität von den Genen kontrollieren, die für Fledermäuse einzigartig sind. Insbesondere konnten wir spezifische Fledermaus-Mikro-RNAs im Labor überprüfen, um ihre Auswirkungen auf die Genregulation zu zeigen. In der Zukunft könnten wir diese Genome dazu nutzen, um zu verstehen, wie die regulatorischen Regionen und die Epigenomik zu den außergewöhnlichen Anpassungen beigetragen haben”, so Sonja Vernes, Hauptautorin und mitbegründende Direktorin von Bat 1K, Max-Planck-Institut für Psycholinguistik, Nijmegen, Niederlande.
Dies ist aber nur der Anfang. Die verbleibenden rund 1400 lebenden Fledermausarten weisen eine unglaubliche Vielfalt in Bezug auf Ökologie, Langlebigkeit, Sinneswahrnehmung und Immunologie auf. Hinsichtlich der genetischen Grundlage dieser spektakulären Eigenschaften sind noch zahlreiche Fragen offen. Bat1K wird helfen diese Fragen beantworten, da immer mehr hochqualitative Fledermausgenome generiert werden und damit die genetische Grundlage der wunderbaren Superkräfte von Fledermäusen weiter erforscht werden kann.
Originalpublikation:
David Jebb, Zixia Huang, Martin Pippel, Graham M. Hughes, Ksenia Lavrichenko,Paolo Devanna, Sylke Winkler, Lars S. Jermiin, Emilia C. Skirmuntt, Aris Katzourakis,Lucy Burkitt-Gray, David A. Ray, Kevin A. M. Sullivan, Juliana G. Roscito,Bogdan M. Kirilenko, Liliana M. Dávalos, Angelique P. Corthals, Megan L. Power,Gareth Jones, Roger D. Ransome, Dina K. N. Dechmann, Andrea G. Locatelli,Sébastien J. Puechmaille, Olivier Fedrigo, Erich D. Jarvis, Michael Hiller,Sonja C. Vernes, Eugene W. Myers & Emma C. Teeling
Six reference-quality genomes reveal evolution of bat adaptations
Nature, 22 June 2020

22.07.2020, Senckenberg Forschungsinstitut und Naturmuseen
Extreme Umweltbedingungen führen zu massiver Umverteilung der globalen Artenvielfalt
Die biologische Vielfalt ist weltweit nicht gleichmäßig verteilt, sondern die meisten Arten leben in den Tropen, so dass die Anzahl der Arten Richtung Nord- und Südpol abnimmt. Dies gilt allerdings nicht für den Zeitraum von vor 252 bis 247 Millionen Jahren, wie Fossilien zeigen. Die Senckenberg-Wissenschaftlerin Dr. Shan Huang berichtet im Fachmagazin „Proceedings of the National Academy of Sciences“, dass die biologische Vielfalt damals global gleichmäßiger verteilt war, weil extreme Umweltveränderungen und ein Massenaussterben zusammenwirkten. Die Studie belegt, dass ein schneller Klimawandel die globale Verteilung der biologischen Vielfalt maßgeblich verändern wird.
Vor 252 Millionen kam es zum dramatischsten Massenaussterben aller Zeiten, dem in den Weltmeeren neunzig Prozent aller Tier- und Pflanzenarten zum Opfer fielen. Dieses Ereignis am Ende des Perm-Zeitalters, das Perm-Trias-Massenaussterben, hatte Folgen, die über den reinen Artenverlust hinausgehen: In den folgenden fünf Millionen Jahren sah die weltweite Verteilung der Artenvielfalt grundlegend anders aus als vor und nach diesem Zeitraum.
„Heute und auch vielfach während der Erdgeschichte sehen wir, dass die Artenvielfalt in den Tropen am höchsten ist und in Richtung der Pole abnimmt. Das ist der sogenannte latitudinale Biodiversitätsgradient. In der Untertrias (circa 252 bis 247 Millionen Jahre vor heute) war genau das aber nicht der Fall. Stattdessen gab es überall in den Weltmeeren, von den Polen bis zu den Tropen, ungefähr gleich viele Arten – der Gradient war also fast komplett flach“, erklärt Dr. Shan Huang, Wissenschaftlerin am Senckenberg Biodiversität und Klima Forschungszentrum.
Huang erforscht die Geobiodiversität, d.h. wie Klima, Erdoberflächenprozesse und biologische Vielfalt auf unterschiedlichen Zeitskalen interagieren. Im Rahmen der aktuellen Studie analysierte sie gemeinsam mit anderen Forschenden 52.000 Fossilien mariner Organismen aus der Zeit des späten Perm bis zur Trias (254 bis 201 Millionen Jahren vor heute). Darunter befinden sich Algen, Einzeller, wirbellose Tiere und Wirbeltiere aus allen Weltmeeren.
Huang und ihr Team glauben, dass die gleichmäßigere Verteilung der Artenvielfalt durch die extremen globalen Umweltbedingungen während der Untertrias verursacht wurde. Unter anderem erwärmte sich der Ozean um zehn Grad und es kam zu Sauerstoffmangel in den Weltmeeren, wodurch tropische Ökosystem zusammenbrachen. Die Fossilien zeigen, dass das dadurch verursachte Massenaussterben zu global gleichmäßig verteilter Artenvielfalt führte, weil die überlebenden Arten tendenziell weit verbreitet waren. Die extremen Umweltbedingungen verhinderten, dass sich endemische Arten in den Tropen häuften, wie es heute der Fall ist.
Als die Umweltturbulenzen vorüber waren, verteilte sich die Artenvielfalt wieder gemäß ihres regulären Musters, in dem die Artenvielfalt in den Tropen am höchsten war. „Wir sehen hier, dass in diesem Zeitraum die Verschiebungen in der Verteilung biologischer Vielfalt durch Umweltveränderungen verursacht wurden. Dies steht im Gegensatz zu früheren Arbeiten, die die Temperatur als Haupttreiber der Verteilung der globalen Biodiversität ausmachten“, sagt Huang. Alles in allem deuten die Fossilienfunde darauf hin, dass stablie Umweltbedingungen für den Erhalt einer vielfältigen tropischen Meeresfauna wichtig sind, während extreme klimatische Veränderungen insbesondere tropische Ökosysteme schädigen.
„Wenn wir auf der Grundlage der Vergangenheit eine Aussage über die Zukunft machen wollen, dann ist die Botschaft: Tropische Meeresökosysteme, zu denen auch die Korallenriffe gehören, werden die ersten großen Opfer eines schnellen globalen Wandels sein. Es gibt zahlreiche Beweise dafür, dass dieser Zerstörungsprozess aktuell bereits begonnen hat. Unsere Studie liefert weitere Beweise aus der Vergangenheit darüber, wie der Prozess zukünftig weitergehen könnte. Der moderne Klimawandel könnte also zu einer massiven globalen Umverteilung der biologischer Vielfalt führen. Arten, die ihre Lebensräume dem nicht anpassen können, werden aussterben“, kommentiert Huang.
Originalpublikation:
Song, H., Huang, S., Jia, E. et al. (2020): Flat latitudinal diversity gradient caused by the Permian–Triassic mass extinction. Proceedings of the National Academy of Sciences, doi: 10.1073/pnas.1918953117

22.07.2020, Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung
Der Klimawandel beeinflusst die Ausbreitung invasiver Tierarten
Asiatische Strandkrabbe als Beispiel für erfolgreiche Ausbreitung in Nord- und Ostsee
Gemeinsame Pressemitteilung: Alfred-Wegener-Institut Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung und Universität Greifswald
Welche Faktoren beeinflussen die Ausbreitung invasiver Tierarten in unseren Ozeanen? Diese Frage untersuchte ein Team von Forschenden des Alfred-Wegener-Institutes, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI), der Bangor University (Wales, UK) und des Zoologischen Instituts und Museums der Universität Greifswald im Rahmen des DFG-geförderten Graduiertenkollegs 2010 RESPONSE (Biological Reactions to Novel and Changing Environments). Die Ergebnisse der Studien sind nun im Wissenschaftsjournal „Ecography“ erschienen (DOI: 10.1111/ecog.04725).
Vertreter der Krebstiere dominieren die Nahrungsketten vieler küstennaher Lebensräume unserer Weltmeere. Als blinde Passagiere des globalen Schiffsverkehrs haben sich viele Krebsarten zudem weit über ihren natürlichen Lebensraum hinaus ausgebreitet. Die Asiatische Strandkrabbe Hemigrapsus sanguineus etwa ist ein Beispiel für solch invasive Arten. Innerhalb weniger Jahrzehnte hat sich die ursprünglich im pazifischen Raum beheimatete Art sehr weiträumig über unseren Globus ausgedehnt. In den 1980er Jahren erreichte sie etwa die Atlantikküste Nordamerikas und gegen Ende der 1990er Jahre fasste sie auch in den europäischen Küstenmeeren Fuß. Sowohl in Nordamerika als auch in Nordeuropa breitet sich diese Art nun mehr und mehr nordwärts in Richtung der sich schnell erwärmenden polaren Gewässer aus. In den neu besiedelten Ökosystemen kann sie dabei so zahlreich vorkommen, dass heimische Krebsarten wie z.B. die Europäische Strandkrabbe Carcinus maenas beeinträchtigt oder verdrängt werden. Als aktive Räuber üben diese Tiere einen hohen Fraßdruck in den neu besiedelten Gewässern aus und dezimieren so z.B. marine Wirbellose wie Muschel oder junge Strandkrabben, die dann als Nahrungsorganismen für andere Tiere fehlen. Dies kann die Nahrungsnetze in diesen Ökosystemen nachhaltig verändern.
Wie beeinflusst nun jedoch der Klimawandel die Ausbreitung invasiver Arten in den Weltmeeren? Erfolgreiche invasive Arten unserer Ozeane zeichnen sich oftmals durch eine hohe Toleranz gegenüber Schwankungen von Umweltfaktoren wie Temperatur und Salzgehalt aus und können daher durch den Klimawandel bedingte Veränderungen der Ozeane gut überstehen. Das Wissenschaftsteam des Alfred-Wegener-Institutes, der Bangor University (Wales, UK) und der Universität Greifswald hat sich besonders auf die frühen Entwicklungsstadien der Asiatischen Strandkrabbe fokussiert und die mikroskopisch kleinen Larven untersucht, die sich in der Wassersäule treibend entwickeln. Es ist bekannt, dass die Larven vieler Meerestiere empfindlicher auf Umweltschwankungen reagieren als ausgewachsene Tiere, daher stellen diese Larven den „Flaschenhals“ bei der Etablierung neuer Populationen dar.
Ziel der Studie war zudem der Versuch, Modelle für Vorhersagen zu entwickeln, in welchem Tempo sich diese Art von Strandkrabbe mit der Klimaerwärmung nordwärts ausbreiten kann. Die zentrale Frage des Projektes: Sind Kenntnisse zu den jahreszeitlichen Einflüssen auf die Entwicklung der Larven für derartige Vorhersagen hilfreich? In der Studie hat das Team zunächst Entwicklungsparameter der Larven wie Überlebensrate und Entwicklungsdauer bei verschiedenen Wassertemperaturen gemessen. Dafür untersuchten sie am Alfred-Wegener-Institut auf Helgoland das Auftreten von Krabbenlarven im Freiland und studierten die Dauer der jungen Entwicklungsstadien im Labor. Mit Hilfe eines mechanistischen Modells konnten die Autorinnen und Autoren dann die Zeitfenster bestimmen, in denen in der Reproduktionssaison die Wassertemperatur über einem bestimmten Grenzwert liegen sollte, um eine erfolgreiche Entwicklung der Larven zum juvenilen Tier zu ermöglichen. Diese Modellierung zeigte ein beträchtliches Potential für eine weitere nördliche Ausbreitung der Asiatischen Strandkrabbe entlang der Küsten Nordenglands und Norwegens.
„Unsere Studie belegt, dass wir uns bei der Vorhersage der klimabedingten Ausbreitung von marinen Tierarten insbesondere die frühen Entwicklungsstadien betrachten müssen, denn diese sind für die Besiedlung neuer Lebensräume und die dauerhafte Etablierung von Populationen entscheidend“, sagen AWI-Biologin Dr. Gabriela Torres und Dr. Luis Giménez, ebenfalls Biologe am AWI und Erstautor der Studie. Prof. Dr. Steffen Harzsch vom Zoologischen Institut und Museum ergänzt: „Das Graduiertenkolleg RESPONSE bietet uns eine ganz herausragende Plattform für interdisziplinäre Kooperationen weit über Greifswald hinaus, um Aspekte des Klimawandels wissenschaftlich zu untersuchen.“
Originalpublikation:
Luis Giménez, Michael Exton, Franziska Spitzner, Rebecca Meth, Ursula Ecker, Simon Jungblut, Steffen Harzsch, Reinhard Saborowski und Gabriela Torres: Exploring larval phenology as predictor for range expansion in an invasive species. Ecography43: 1–12, 2020, http://dx.doi.org/10.1111/ecog.04725

23.07.2020, Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie
Neandertaler besaßen niedrigere Schmerzschwelle
Schmerz wird durch spezielle Nervenzellen übertragen, die aktiviert werden, wenn potenziell schädliche Einflüsse auf verschiedene Teile unseres Körpers treffen. Diese Nervenzellen verfügen über einen speziellen Ionenkanal, der eine Schlüsselrolle beim Auslösen des elektrischen Schmerzimpulses spielt, der an das Gehirn übertragen wird. Einer neuen Studie von Wissenschaftlern des Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie in Leipzig und des Karolinska Institutets in Schweden zufolge empfinden Menschen mehr Schmerzen, die die Neandertaler-Variante dieses Ionenkanals geerbt haben.
Die stetig steigende Anzahl sequenzierter Neandertaler-Genome ermöglicht es Forschern nun erstmals, genetische Veränderungen zu identifizieren, die bei vielen oder allen Neandertalern vorhanden waren. Wenn diese Veränderungen bei heute lebenden Menschen vorkommen, können deren physiologische Auswirkungen im Vergleich zu Menschen ohne diese Genvariante untersucht werden. Ein Gen, das solche Veränderungen aufweist, haben Hugo Zeberg, Svante Pääbo und Kollegen genauer analysiert: Insbesondere Menschen aus Mittel- und Südamerika, aber auch in Europa, haben eine Neandertaler-Variante eines Gens geerbt, das für einen Ionenkanal kodiert, der die Schmerzempfindung auslöst.
Anhand von Daten aus einer umfangreichen Bevölkerungsstudie in Großbritannien zeigen die Autoren, dass Menschen, die die Neandertaler-Variante des Ionenkanals tragen, mehr Schmerzen empfinden. „Wie viel Schmerzen Menschen empfinden, ist vor allem von ihrem Alter abhängig. Menschen, die die Neandertaler-Variante des Ionenkanals haben, empfinden mehr Schmerzen – in etwa so, als wären sie acht Jahre älter“, sagt Erstautor Hugo Zeberg, Forscher am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie und am Karolinska-Institut. „Die Neandertaler-Variante des Ionenkanals weist drei Aminosäure-Unterschiede zu der üblichen ‚modernen‘ Variante auf“, erklärt Zeberg. „Während einzelne Aminosäuresubstitutionen die Funktion des Ionenkanals nicht beeinträchtigen, führt die vollständige Neandertaler-Variante mit drei Aminosäuresubstitutionen bei heute lebenden Menschen zu einer erhöhten Schmerzempfindlichkeit.“
Auf molekularer Ebene wird der Neandertaler-Ionenkanal leichter aktiviert, was erklären könnte, warum Menschen, die diesen geerbt haben, eine niedrigere Schmerzgrenze haben. „Ob Neandertaler mehr Schmerzen empfunden haben ist allerdings schwer zu sagen, weil Schmerz außerdem sowohl im Rückenmark als auch im Gehirn moduliert wird“, sagt Svante Pääbo. „Aber diese Arbeit zeigt, dass die Schwelle zur Auslösung von Schmerzimpulsen bei Neandertalern niedriger war als bei den meisten heute lebenden Menschen“.
Originalpublikation:
Hugo Zeberg, Michael Dannemann, Kristoffer Sahlholm, Kristin Tsuo, Tomislav Maricic, Victor Wiebe, Wulf Hevers, Hugh P.C. Robinson, Janet Kelso and Svante Pääbo
A Neandertal sodium channel increases pain sensitivity in present-day humans
Current Biology, 23 July 2020, https://doi.org/10.1016/j.cub.2020.06.045

23.07.2020, Humboldt-Universität zu Berlin
Naturschutzstrategien müssen sich Veränderungen von Landschaften anpassen
Neue Studie zeigt: Biodiversität kann nur erhalten werden, wenn die Auswirkungen von Landwirtschaft verstanden werden.
Die wachsende Nachfrage nach Agrarrohstoffen wie Sojabohnen, Palmöl oder Rindfleisch treibt die Entwaldung im globalen Süden voran, auf Kosten der biologischen Vielfalt. Es ist daher eine der großen Herausforderungen des Anthropozäns, sie wirkungsvoll zu schützen und zu erhalten. Eine gemeinsame Studie von Forscherinnen und Forschern der Humboldt-Universität zu Berlin (HU), CONICET und INTA (Argentinien) zeigt, dass es von der Landschaft in der Umgebung von Agrarbetrieben abhängt, wie stark die Biodiversität unter der Landwirtschaft leidet. „Die Arten reagieren unterschiedlich auf das gleiche Maß an landwirtschaftlicher Intensität, je nachdem, wie viel Wald noch vorhanden ist“, erklärt Dr. Leandro Macchi (CONICET & HU), Lead-Autor der Studie.
Das Forschungsteam konzentrierte sich auf den Gran Chaco, einen globalen Hotspot der Entwaldung und das Ökosystem, das im weltweiten Vergleich am schnellsten verschwindet. Es sammelte umfangreiche Datensätze über das Verhältnis von Intensität der Vogelwelt und der Landwirtschaft und analysierte, wie sich die Vogelgemeinschaften mit der Landnutzungsänderung wandeln. Dies geht über frühere Studien hinaus, die die Kompromisse zwischen Erhalt der Biodiversität und Landwirtschaft nur zu einem festen Zeitpunkt beobachteten und dann annahmen, dass die Ergebnisse konstant bleiben. Dr. Julieta Decarre vom INTA erklärt aber: „Viele dieser Arten waren nur Gewinner in Landschaften, die noch viel Wald enthielten, wurden aber mit fortschreitender Entwaldung zu Verlierern. Letztendlich verschwinden diese Arten dann ganz aus der Landschaft.“
Dieser Befund hat weitreichende Folgen für Landwirte und Planer. „Unsere Ergebnisse zeigen deutlich, dass jede Strategie zum Erhalt der biologischen Vielfalt scheitern kann, wenn sie nicht berücksichtigt, dass Biodiversität auf gleiche Formen der Landwirtschaft in verschiedenen Landschaften sehr unterschiedlich reagieren kann“, erklärt Tobias Kümmerle (HU Berlin), Seniorautor der Studie. „Das bedeutet, dass wir die Veränderungen ständig beobachten müssen – und bereit sein müssen, unseren Erhaltungsansatz zu ändern“.
Originalpublikation:
Trade-offs between biodiversity and agriculture are moving targets in dynamic landscapes, Journal of Applied Ecology
DOI: 10.1111/1365-2664.13699
https://besjournals.onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1111/1365-2664.13699

24.07.2020, Universität Zürich
Kluge Köpfe entwickeln geschickte Hände
Affenarten mit grossen Gehirnen beherrschen schwierigere Handgriffe als solche mit kleinen Hirnen. Doch das Erlernen feinmotorischer Fähigkeiten wie der Werkzeuggebrauch kann dauern: am meisten Zeit beansprucht es bei Menschen. Arten mit grossem Hirn wie Menschen und Menschenaffen lernen zwar nicht langsamer als andere Primaten, beginnen aber erst später damit, wie Forschende der Universität Zürich zeigen.
Menschen sind sehr geschickt mit den Händen, brauchen aber sehr lange, um verschiedene Fingerfertigkeiten zu erlernen. Erst im Alter von etwa fünf Monaten können Kinder erstmals gezielt greifen. Und bis sie schwierigere Handgriffe beherrschen – etwa mit Messer und Gabel zu essen oder die Schnürsenkel zu binden – dauert es nochmals rund fünf bis sechs Jahre. In diesem Alter haben viele Affenarten bereits ihren ersten Nachwuchs. Weshalb brauchen Menschen im Vergleich zu ihren nächsten Verwandten so viel länger, um feinmotorische Fähigkeiten auszubilden?
Hirnentwicklung verläuft bei Affen in starren Mustern
Um diese Frage zu klären, hat Sandra Heldstab zusammen mit Karin Isler, Caroline Schuppli und Carel van Schaik vom Anthropologischen Institut der Universität Zürich während mehr als sieben Jahren 36 Affenarten beobachtet. Die Evolutionsbiologin studierte 128 Jungtiere in 13 europäischen Zoos von Geburt an bis zum Alter, in dem sie sämtliche Fingerfertigkeiten erwachsener Tiere erlernt hatten. Überraschend war, dass alle Affenarten ihre jeweiligen Fingerfertigkeiten in exakt derselben Reihenfolge erlernten. «Unsere Ergebnisse zeigen, dass die neuronale Entwicklung in extrem starren Mustern verläuft – auch bei unterschiedlichsten Affenarten», erklärt Heldstab.
Erst ein grosses Hirn ermöglicht geschickte Hände
Grosse Unterschiede fanden die Forschenden jedoch bei den konkreten feinmotorischen Fähigkeiten, die die verschiedenen Affenarten als Erwachsene beherrschen. Affenarten mit grossen Gehirnen wie Makaken, Gorillas oder Schimpansen können mit ihren Händen viel schwierigere Aufgaben lösen als solche mit kleinen Gehirnen wie Lemuren oder Krallenaffen. «Wir Menschen können nicht bloss zufällig so geschickt mit Händen und Werkzeugen umgehen, unser grosses Hirn hat dies überhaupt erst ermöglicht. Ein kluges Köpfchen hat also auch ein geschicktes Händchen», sagt Heldstab.
Menschen entwickeln Fingerfertigkeiten später als Affen
Geschickte Hände haben jedoch ihren Preis: Bei Arten mit grossen Gehirnen wie dem Menschen dauert es sehr lange, bis sie selbst einfachste Hand- und Fingerbewegungen erlernt haben. «Wir brauchen nicht nur länger, weil wir schwierigere Handgriffe erlernen als etwa Lemuren oder Krallenaffen, sondern vor allem weil wir erst viel später mit dem Erlernen dieser Fähigkeiten beginnen», sagt Heldstab. Die Forschenden vermuten, dass grosse Gehirne wie jenes des Menschen bei der Geburt noch weniger weit entwickelt sind.
Genügend Zeit zum Lernen ist essenziell
Zudem ist Lernen kostspielig, da Fehler passieren können und Eltern viel Zeit und Energie investieren müssen, bis der Nachwuchs selbständig ist. «Unsere Studie zeigt einmal mehr, dass sich im Verlauf der Evolution nur bei Säugetierarten, die lange leben und genügend Zeit zum Lernen haben, ein grosses Hirn und komplexe Fingerfertigkeiten inklusive Werkzeuggebrauch entwickeln konnten. Dies macht deutlich, warum so wenige Arten unserem Weg folgen und warum wir Menschen zum technologisch vollkommensten Organismus auf diesem Planeten werden konnten», folgert Sandra Heldstab.
Originalpublikation:
Sandra A. Heldstab, Karin Isler, Caroline Schuppli, Carel P. van Schaik. When ontogeny recapitulates phylogeny: Fixed neurodevelopmental sequence of manipulative skills among primates. Science Advances. July 24, 2020. DOI: 10.1126/sciadv.abb4685

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