Neues aus Wissenschaft und Naturschutz

21.10.2019, Deutsches Zentrum für integrative Biodiversitätsforschung (iDiv) Halle-Jena-Leipzig
Makaken können durch das Jagen von Ratten Palmölproduktion nachhaltiger und effizienter machen
Der Südliche Schweinsaffe hat in Malaysia keinen sonderlich guten Ruf und gilt gemeinhin als Plantagenschädling. Tatsächlich ernähren sich die Affen auch von Ratten, der größten Plage im Palmölanbau, und können eine wichtige Ökosystemdienstleistung durch natürliche Schädlingsbekämpfung erbringen. Das fanden Wissenschaftler der Universiti Sains Malaysia (USM), des Deutschen Zentrums für integrative Biodiversitätsforschung (iDiv), der Universität Leipzig (UL) und des Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie (MPI EVA) heraus. Gemeinsam untersuchten sie Kosten und Nutzen von Makaken in Palmölplantagen. Ihre Ergebnisse wurden in der Fachzeitschrift Current Biology veröffentlicht.
Palmöl ist als Bestandteil von verarbeiteten Nahrungsmitteln, Kosmetika, Waschmitteln und Biokraftstoffen aus unserem Alltag kaum noch wegzudenken. Doch die Herstellung erfolgt auf Kosten der Natur: Der Rückgang natürlicher Waldbestände, verringerte Artenvielfalt und die Beeinträchtigung der Klimaregulierung sind nur einige der negativen Begleiterscheinungen, wenn tropischer Regenwald in Monokulturen wie Ölpalmplantagen umgewandelt wird. Heute werden weltweit mehr als 18 Millionen Hektar Land für die Palmölproduktion genutzt, davon befindet sich rund ein Drittel in Malaysia, einem der Hauptproduzenten von Palmöl.
Hohe Ernteverluste werden hier durch Ratten verursacht, die sowohl die reifen als auch unreifen Früchte fressen. Allein in Malaysia entsprechen die jährlichen Verluste einer Anbaufläche, die doppelt so groß wie Luxemburg ist. Für die Bekämpfung der Nagetiere wird häufig Gift eingesetzt. Der großflächige Einsatz solcher Rodentizide ist jedoch nicht nur teuer und kaum wirksam, sondern auch überaus schädlich für die Umwelt und insbesondere für Tierarten, auf die man es gar nicht abgesehen hat. Eine Schlüsselrolle bei der natürlichen Schädlingsbekämpfung und somit auch einer nachhaltigeren Palmölproduktion nehmen Fressfeinde wie etwa Schleiereulen ein, die bereits als Alternative zum konventionellen Pflanzenschutz eingesetzt werden. Forscher bezweifeln jedoch, dass Schleiereulen allein die Rattenpopulationen eindämmen können. „Im Idealfall werden verschiedene Fressfeinde eingesetzt, die unterschiedliche ökologische Nischen abdecken, also entweder tag- oder nachtaktiv sind oder in verschiedenen Substraten innerhalb der Plantage jagen“, erklärt Dr. Nadine Ruppert, die an der USM forscht und das Macaca Nemestrina Project ins Leben gerufen hat.
Das Forscherteam aus Malaysia und Deutschland untersuchte, ob Makaken tatsächlich zu einer deutlichen Verminderung der Ratten auf den Plantagen beitragen können. Sie beobachteten das Fressverhalten zweier Gruppen freilebender und habituierter Südlicher Schweinsaffen (Macaca nemestrina) in einer Palmölplantage, die an ein Waldschutzgebiet an der Westküste der malaysischen Halbinsel angrenzt. Die Forscher fanden heraus, dass Makaken zwar ebenfalls die Früchte der Ölpalmen fressen, dadurch aber lediglich einen Schaden von weniger als 1 % verursachen – sehr gering also, verglichen mit einem Verlust von 10 %, der durch Ratten entsteht. Ihren Schätzungen zufolge fraß jedoch jede der Makakengruppen mehr als 3000 Ratten im Jahr. „Wir gehen davon aus, dass sich die Makaken hervorragend zur Schädlingsbekämpfung eignen, da sie aktiv nach Ratten suchen und dabei sehr zielgerichtete Strategien anwenden“, meint Erstautorin Anna Holzner, die als Doktorandin an der UL und am MPI EVA forscht. „Andere Fressfeinde jagen vor allem nachts in Bodennähe nach Beute. Die Südlichen Schweinsaffen hingegen entfernen aktiv den Blattgrund an den Stämmen der Palme um nach Ratten zu suchen, die sich dort tagsüber verstecken.“ Holzner und ihre Kollegen bewiesen außerdem, dass sich die Zahl der Ratten durch den regelmäßigen Besuch der Primaten auf den Plantagen um mehr als 75 % reduzieren lässt. Stellt man Kosten und Nutzen gegenüber, so kann dank der Makaken eine Ertragssteigerung um 7 % erzielt werden, was pro Jahr ungefähr 100 € pro Hektar entspricht.
„Wir erwarten, dass unsere Ergebnisse sowohl private als auch öffentliche Plantagenbesitzer ermutigen werden, den Schutz dieser Primaten und ihres natürlichen Waldlebensraums in und um Ölpalmenplantagen zu berücksichtigen“, sagt Letztautorin Prof. Anja Widdig, Leiterin der Forschungsgruppe für Primate Behavioural Ecology am MPI EVA und der UL. Zusammen mit Palmölproduzenten und Nichtregierungsorganisationen in Malaysia werden sich die Wissenschaftler dafür einsetzen, dass ihre Erkenntnisse zukünftig Früchte tragen: Wildtierkorridore könnten die Makakenpopulationen und die Biodiversität schützen, während gleichzeitig sowohl die Erträge der Plantagen als auch die Nachhaltigkeit der Palmölproduktion durch eine umweltfreundlichere Art der Schädlingsbekämpfung gesteigert werden könnten. „So erzielen wir letztendlich eine Win-Win-Situation für Palmölindustrie und die Biodiversität“, meint Prof. Widdig.
Originalpublikation:
Anna Holzner, Nadine Ruppert, Filip Swat, Marco Schmidt, Brigitte M. Weiß, Giovanni Villa, Asyraf Mansor, Shahrul Anuar Mohd Sah, Antje Engelhardt, Hjalmar Kühl, Anja Widdig (2019), Macaques can contribute to greener practices in oil palm plantations when used as biological pest control. Current Biology.

21.10.2019, Museum für Naturkunde – Leibniz-Institut für Evolutions- und Biodiversitätsforschung
Dinos brauchen keinen Zahnarzt
Berlins Publikumsmagnet T. rex Tristan Ottos ist ein einmaliges Forschungsobjekt: Anhand der Schädelknochen des Tyrannosaurus rex ist es Wissenschaftlerinnen des Museums für Naturkunde gelungen, neue Belege zu finden, dass die Zähne des riesigen Raubsauriers regelmäßig gewechselt wurden. Immer wieder wuchsen dem Tyrannosaurus rex neue Zähne nach. Dies wurde nun im Fachmagazin Historical Biology veröffentlicht.
Zu den am besten erhaltenen Knochen am Skelett vom Tyrannosaurus rex Tristan Otto gehören die des Schädels. Diese Knochen konnten mit Hilfe von Computertomographie an der Charité Berlin durchleuchtet werden, so dass man ihr Inneres zerstörungsfrei erkennen kann. Mit Hilfe dieser Aufnahmen konnten Wissenschaftlerinnen des Museums für Naturkunde Berlin nun untersuchen, wie Tristan Ottos Zähne wuchsen. Zwar war Wissenschaftlern schon bekannt, dass die Zähne des Raubsauriers nachwuchsen. Wie genau dieser Prozess jedoch ablief, ist jetzt erstmals beschrieben worden.
„T. rex Tristan Otto ist an unser Forschungsmuseum gekommen, damit unsere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mit modernster Technik mehr über die Lebensweise des Tyrannosaurus rex erfahren. Es ist für uns ein großer Erfolg, dass wir nun mit unserer Forschung zu neuen Erkenntnissen über das Gebiss dieses zwölf Meter langen Giganten beitragen“, betont Generaldirektor Johannes Vogel. „Gleichzeitig begeistert Tristan Otto Millionen von Besucherinnen und Besuchern für Natur und Wissenschaft.“
Die T.-rex-Eigentümer Niels Nielsen und Jens Peter Jensen haben es erst ermöglicht, dass Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler am Museum für Naturkunde Berlin an Tristan Otto forschen können.
Wie wuchsen T. rex die Zähne nach?
Bei Reptilien, wie zum Beispiel Krokodilen, werden im Gegensatz zu Säugetieren regelmäßig die Zähne ausgetauscht. Dies ist möglich, weil die Zähne nicht zum Kauen benutzt werden, so dass trotz einzelner fehlender Zähne das Gebiss noch funktioniert. Die Zähne werden in einer bestimmten Reihenfolge und Regelmäßigkeit ausgetauscht – es gibt also stets nachwachsende und voll funktionierende Zähne im Gebiss. Die nachwachsenden Zähne sind dabei schon in den einzelnen Zahnfächern erkennbar. Sie wachsen langsam in die Wurzeln der funktionalen Zähne hinein und lösen diese auf – am Ende fällt der alte Zahn aus, der neue bricht durch.
Jeder zweite Zahn im Zahnwechsel
Die computertomographischen Aufnahmen der zahntragenden Schädelknochen von Tristan Otto zeigen genau ein solches Muster von nachwachsenden Ersatzzähnen, die sich innerhalb des Kiefers in den einzelnen Zahnfächern befinden. Dabei ist meist nur ein Ersatzzahn ausgebildet, nur in zwei Zähnen konnte ein kleiner, zweiter Ersatzzahn sichtbar gemacht werden. Die kleinsten und jüngsten der Ersatzzähne sind noch schlank und haben nur eine dünne Schmelzschicht, während die größeren Ersatzzähne schon sehr den funktionalen Zähnen mit ihrem verdickten Zahnschmelz ähneln.
Durch Messungen der Ersatzzähne und der funktionalen Zähne konnte rekonstruiert werden, dass im Oberkiefer die Zähne in einem regulären und zwischen geraden und ungeraden Zahnfächern alternierendem getauscht wurden. Sprich: Jeder zweite Zahn befand sich im Zahnwechsel, die Zähne dazwischen waren hingegen funktional. Im Unterkiefer variiert diese Reihenfolge hingegen etwas, hier erfolgte der Zahnwechsel wahrscheinlich im vorderen und hinteren Kieferteil fast gleichzeitig.
Erfolgreiche Jagd durch scharfe, nachwachsende Zähne
Über die Verweildauer der Zähne im Maul von Tristan Otto kann mit Hilfe der Aufnahmen leider keine Aussage getroffen werden – hierzu müssten die Zähne zerschnitten werden. Man weiß allerdings von anderen Exemplaren von T. rex, dass sie ihre Zähne mehr als zwei Jahre lang im Maul behielten. Dr. Daniela Schwarz, Co-Autorin der Studie sagt dazu: „Regelmäßig die Zähne zu wechseln, muss für große Raubsaurier wie Tristan Otto ein großer Vorteil gewesen sein, denn einzelne ausgebissene, abgebrochene oder abgenutzte Zähne waren für die Tiere somit nicht dramatisch – sie wuchsen ja einfach nach. Wir können davon ausgehen, dass Tristan Otto immer einen gut funktionierenden Satz scharfer Zähne im Maul hatte, um erfolgreich auf die Jagd zu gehen.“
Publiziert in:
Sattler, Franziska & Schwarz, Daniela 2019. Tooth replacement in a specimen of Tyrannosaurus rex (Dinosauria, Theropoda) from the Hell Creek Formation (Maastrichtian), Montana. Historical Biology (online)
DOI: https://doi.org/10.1080/08912963.2019.1675052

22.10.2019, Dachverband Deutscher Avifaunisten
Der dramatische Abwärtstrend bei den Feldvögeln hält an
Die Fachgruppe „Vögel der Agrarlandschaft“ der Deutschen Ornithologen-Gesellschaft (DO-G) hat mit Unterstützung des DDA ermittelt, dass die Zahl der abnehmenden und stark abnehmenden Arten von 55 Prozent auf 68 Prozent gestiegen ist. Die Bestandsrückgänge von Rebhuhn (89 Prozent seit 1992), Kiebitz (88 Prozent seit 1992), Feldlerche (45 Prozent seit 1992) und vieler weiterer Arten halten nicht nur an, sie haben sich sogar noch beschleunigt.
In der Analyse berücksichtigt wurden die neuesten Daten aus dem Vogelschutzbericht 2019 mit Bestandsdaten bis 2016, die das Bundesumweltministerium im Juli 2019 der EU übermittelt hat.
Als wesentliche Ursache für die Bestandsrückgänge sehen die Fachleute die fortschreitende Intensivierung der Landwirtschaft, insbesondere durch Pestizideinsatz, starke Düngung, den Verlust von Landschaftselementen wie Ackerbrachen, die Einengung der Fruchtfolgen, z.B. durch den vermehrten Maisanbau für Biogasanlagen, Eutrophierung und Verlust von ökologisch wertvollem Dauergrünland. Auch das mit der aktuellen EU-Agrarförderperiode eingeführte so genannte „Greening“ habe wegen des zu geringen Flächenansatzes und der Anrechenbarkeit von wenig wirksamen Maßnahmentypen nicht zur Verbesserung der Bestandssituation der Agrarvögel beigetragen.

21.10.2019, Helmholtz-Zentrum Potsdam – Deutsches GeoForschungsZentrum GFZ
Es war wirklich der Asteroid
Eine neue Studie untermauert die Idee, dass ein plötzlicher Impakt die Dinosaurier und mit ihnen einen Großteil des Lebens auf der Erde aussterben ließ. Dies lässt sich aus den Überresten winziger Kalkalgen ableiten, die der GFZ-Wissenschaftler Michael Henehan untersuchte. Seine Ergebnisse zeigen auch, dass die Ozeane Millionen Jahre brauchten, um sich von dem Einschlag zu erholen.
Fossile Überreste winziger Kalkalgen geben nicht nur Auskunft über das Ende der Dinosaurier, sondern zeigen auch, wie sich die Ozeane nach dem fatalen Asteroideneinschlag erholten. Die Fachwelt war sich zwar einig, dass eine Kollision mit einem Asteroiden ein Massenaussterben auf unserem Planeten auslöste, aber es gab Hypothesen, wonach die Ökosysteme bereits zuvor durch zunehmenden Vulkanismus unter Druck standen. „Unsere Daten sprechen gegen eine graduelle Verschlechterung der Lebensbedingungen vor 66 Millionen Jahren“, sagt Michael Henehan vom Deutschen GeoForschungsZentrum. Gemeinsam mit Kollegen von der Universität Yale hat er eine Studie im Fachjournal „Proceedings of the National Academy of Sciences“ (PNAS) veröffentlicht, die die Ozeanversauerung in dieser Zeit untersucht.
Er untersuchte dazu Isotope des Elements Bor in den Kalkschalen von Plankton (Foraminiferen). Demnach gab es einen plötzlichen Impakt, der zu einer massiven Ozeanversauerung führte. Es dauerte Millionen von Jahren, bis sich die Ozeane vom Säureeintrag wieder erholten. „Vor dem Einschlagsereignis konnten wir keine zunehmende Versauerung der Weltmeere feststellen“, sagt Henehan.
Der Einschlag eines Himmelskörpers hat Spuren hinterlassen: den „Chicxulub-Krater“ im Golf von Mexiko sowie Iridium-Spuren in Sedimenten. Bis zu 75 Prozent aller Tierarten sind damals ausgestorben. Der Impakt markiert die Grenze zweier Erdzeitalter – der Kreidezeit und des Paläogens (früher sprach man von der Kreide-Tertiär-Grenze). Henehan und sein Team der Yale University rekonstruierten die Umweltbedingungen in den Ozeanen mit Fossilien aus Tiefseebohrkernen und aus damals gebildeten Gesteinen. Demnach wurden die Ozeane nach dem Aufprall so sauer, dass Organismen, die ihre Schalen aus Kalk herstellten, nicht überleben konnten. Da dadurch viele Lebensformen in den oberen Schichten der Ozeane ausstarben, wurde die Kohlenstoffaufnahme durch Photosynthese in den Ozeanen um die Hälfte reduziert.
Dieser Zustand dauerte mehrere zehntausend Jahre, bis sich Kalkalgen wieder ausbreiteten. Es dauerte jedoch mehrere Millionen Jahre, bis sich die Fauna und Flora erholt hatten und der Kohlenstoffkreislauf ein neues Gleichgewicht erreicht hatte.
Entscheidende Daten dafür fanden die Forschenden bei einer Exkursion in den Niederlanden, wo eine besonders dicke Gesteinsschicht aus der Zeit der Kreide-Paläogen-Grenze in einer Höhle erhalten ist. „In dieser Höhle hat sich eine besonders dicke Tonschicht aus der unmittelbaren Zeit nach dem Aufprall angesammelt, was wirklich sehr selten ist“, sagt Henehan. In den meisten Fällen lagert sich Sediment so langsam ab, dass ein so abruptes Ereignis wie ein Asteroideneinschlag in den Gesteinsarchiven schwer nachzuvollziehen ist. „Da dort so viel Sediment auf einmal abgelagert wurde, konnten wir genügend Fossilien für die Analyse gewinnen, und wir konnten den Übergang erfassen“, sagt Henehan.
Der Großteil der Arbeit entstand an seiner früheren Arbeitsstätte, der Universität Yale. Seit er am GFZ ist, nutzt er die Infrastruktur hier und verspricht sich davon wesentliche Impulse für seine Arbeit. „Mit dem Femtosekundenlaser im HELGES-Labor arbeiten wir daran, diese Art von Signalen aus viel kleineren Probenmengen messen zu können“, sagt Henehan. „Dies wird es uns in Zukunft ermöglichen, alle Arten von Informationen mit wirklich hoher zeitlicher Auflösung zu erhalten, auch von Standorten mit sehr niedrigen Sedimentationsraten.“
Originalpublikation:
“Rapid ocean acidification and protracted Earth system recovery followed the end-Cretaceous Chicxulub impact,” www.pnas.org/cgi/doi/10.1073/pnas.1905989116

22.10.2019, Stiftung Zoologisches Forschungsmuseum Alexander Koenig, Leibniz-Institut für Biodiversität der Tiere
Von Nachtfalterohren und Fledermäusen. Internationales Forscherteam beleuchtet die Evolution der Schmetterlinge neu
Der größte jemals von einem internationalen Expertenteam genutzte Datensatz zur Analyse der Evolution der Tag- und Nachtfalter erbrachte ein völlig überraschendes Ergebnis: „Ohren“ als Schlüsselmerkmale innerhalb der Gruppe der Nachtfalter entstand neun Mal im Verlauf der Evolution dieser Insektengruppe unabhängig voneinander. Allein vier Mal unabhängig voneinander traten Hörorgane bereits 30 Mio Jahre eher auf als bisher gedacht.
Damit hatten bestimmte Schmetterlingsarten bereits zu Zeiten der Dinosaurier in der Kreidezeit die Fähigkeit zu hören. Die Studie zeigt auch, dass die Ko-Evolution der Entwicklungen der Blütenpflanzen und der Fähigkeit der Schmetterlinge, mit einem Saugrüssel Nektar aufnehmen zu können, vor etwa 241 Millionen Jahren zeitlich zusammenfällt, also in die Zeit, in der sich Blütenpflanzen schnell diversifizierten.
Die Rüssel halfen den ursprünglichen Schmetterlingen, Zugang zum Nektar zu erhalten. Dies ermöglichte es ihnen vielleicht, besser neue Lebensräume erreichen zu können, weiter zu fliegen und neue Wirtspflanzen zu besiedeln. Tagfalter, eine viel jüngere und weniger vielfältige Gruppe als die Nachtfalter, entstanden erst vor etwa 100 Millionen Jahren und können auch als tagfliegende Nachtfalter betrachtet werden. Die Ergebnisse der Studie legen nahe, dass der gemeinsame Vorfahr der heutigen Tag- und Nachtfalter wahrscheinlich vor etwa 300 Millionen Jahren aufgetaucht ist – ungefähr 100 Jahre früher als bisher angenommen.
Grundlage der Veröffentlichung bildeten die taxonomische Untersuchung fossiler Schmetterlinge und die umfassende genetische Analyse von etwa 2000 Genen für 186 heute noch lebende Schmetterlingsarten (Tagfalter und Nachtfalter).
Schmetterlinge gehören mit fast 160.000 bekannten Arten zu den artenreichsten Gruppen im Tierreich. Vom berühmten blauen Morphofalter bis hin zum Ernteschädling Armeewurm kennen viele Menschen die Schönheit und die verheerenden Folgen, die Arten dieser Tiergruppen auszeichnen. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben die Vielfalt dieser Insekten lange Zeit auf das Zusammenspiel mit anderen Organismen zurückgeführt. Sie vermuteten lange Zeit, dass sich Tagfalter zusammen mit den Blütenpflanzen entwickelten, von deren Nektar sie sich ernähren. Nachtfalter entwickelten ausgeklügelte Abwehrmechanismen als Reaktion auf Fledermäuse, welche ihre gefährlichsten Räuber sind. In einer neuen Studie werden diese klassischen Hypothesen.
untersucht, indem die frühe Geschichte der Schmetterlinge beleuchtet wird. Unter Verwendung des größten jemals für die Gruppe zusammengestellten Datensatzes erstellte ein internationales Forscherteam mit Bonner Beteiligung einen evolutionären Stammbaum für Schmetterlinge. Sie nutzten zusätzlich Fossilien, um zu ergründen, wann sich bei Tag- und Nachtfaltern Schlüsselmerkmale entwickelt haben. Ihre Ergebnisse zeigen, dass die ersten Schmetterlinge kurz nach dem Auftreten der ersten Blütenpflanzen lebten. Überraschenderweise entwickelten jedoch mehrere Nachtfalterlinien Millionen von Jahren vor der Existenz von Fledermäusen „Ohren“, die zuvor als Auslöser für die Entwicklung von Hörorganen bei Nachtfaltern galten.
„Mit dem durch Fossilien datierten Stammbaum können wir uns die bisher detaillierteste Darstellung der Evolutionsgeschichte von Tag- und Nachtfaltern ansehen“, sagte der Hauptautor der Studie, Akito Kawahara, Professor und Kurator am vom Florida Naturkundemuseum und McGuire Center für Schmetterlinge und Artenvielfalt. „Wir haben lange darüber nachgedacht, dass blühende Pflanzen zu der außergewöhnlichen Anzahl von Nacht- und Tagfalterarten beigetragen haben müssen, wie wir sie heute kennen. Nun haben wir endlich diese These testen können. Die Studie hilft, zu überprüfen, ob frühere Hypothesen übereinstimmen. Wir stellen fest, dass die Pflanzenhypothese dies tut, die Fledermaushypothese jedoch nicht. “ Die Forschungsergebnisse legen auch nahe, dass Schmetterlinge viel älter sind als bisher angenommen, und dass der gemeinsame Vorfahr der heutigen Tag- und Nachtfalter wahrscheinlich vor etwa 300 Millionen Jahren aufgetaucht ist – ungefähr 100 Jahre früher als bisher angenommen.
Koevolution im Kreuzverhör
Ein wegweisender Aufsatz von Paul Ehrlich und Peter Raven aus dem Jahr 1964 beschrieben die eng verwobenen Beziehungen zwischen Schmetterlingen und Blütenpflanzen als Grundlage für die Theorie der Koevolution – der Idee, dass verschiedene Organismengruppen sich in jeweiliger Reaktion aufeinander entwickeln. Als Pflanzen Giftstoffe entwickelten, um hungrige Raupen abzuwehren, entwickelten Schmetterlingslarven Möglichkeiten, sie zu tolerieren. Pflanzen wiederum würden ihre „Waffen“ verbessern, was zu einem Wettrüsten zwischen ihnen und ihren Fressfeinden führt. In ähnlicher Weise haben Wissenschaftler, darunter Kawahara, Fledermäuse als treibende Kraft für die Entwicklung spezieller Abwehrmechanismen bei Nachtfaltern angeführt, so zum Beispielultraschallempfindliche Hörorgane, Abwehr-Signale zur Störungen der Echolotung der Fledermäuse und Hinterflügel mit langen, aufwändigen „Schwänzen“, die das Sonar ablenken und ein irreführendes Ziel erzeugen. Diese Abwehrstrategien im „Luftkrieg“ zwischen Nachtfaltern und Fledermäusen können einen Angreifer im Flug ablenken oder die Flucht des verfolgten Tieres ermöglichen.
Die Überprüfung dieser Hypothesen der Koevolution von Blütenpflanzen und Schmetterlingen sowie deren Hörorgane als Antwort auf die Existenz von Fledermäusen erfordert eine Zeitreise in die Vergangenheit – keine leichte Aufgabe bei einer Gruppe von Insekten, die im Fossilienbestand notorisch selten ist. Hinzu kommt, dass Fossilien oft schwierig zu identifizieren sind, wenn es sich um Nachtfalter oder Tagfalter handelt, sagte Kawahara. So wurde ein in Fossilien ursprünglich als Schmetterlingsflügel vermuteter Abdruck erst später als Blatt erkannt. Um solche Fehler zu verhindern, verwendete Kawaharas Team zwei analytische Ansätze. Frühere Studien zu Lepidoptera-Fossilien wurden eliminiert, die fragwürdig erschienen. 16 verbliebene Fossilien wurden mit anderen Schmetterlingen verglichen und ein Konsens darüber gefunden, welche Funde wirklich Nacht- respektive Tagfalter waren. Diese Fossilien dienten der Datierung des Stammbaums, der aus mehr als 2.000 Genen für 186 vorhandene Nacht- und Tagfalterarten aufgestellt wurde. Um diese Daten ein zweites Mal zu überprüfen, erfolgte dieselbe Analyse mit nur drei Fossilien, von denen jedes alle charakteristischen Merkmale einer bestimmten Schmetterlingsgruppe aufwies.
Reisen in Nachtfalterohren
Eine sehr große Überraschung war die Entdeckung, dass im Stammbaum der Nachtfalter die Entwicklung der Hörorgane neunmal unabhängig auftrat. Vier Mal davon vor etwa 91 Millionen Jahren – etwa 30 Millionen Jahre bevor Fledermäuse den Nachthimmel beherrschten.
„Einen alleinigen Evolutionsdruck für die Entstehung des Hörvermögens in der Gruppe der Nachtfalter bildete das Auftreten der Fledermäuse nicht“, meinte Prof. Dr. Bernhard Misof, kommissarischer Direktor am Zoologischen Forschungsmuseum Alexander Koenig – Leibniz-Institut für Biodiversität der Tiere in Bonn (ZFMK). „Die Ergebnisse legen nahe, dass mit dem Auftreten der Fledermäuse im Eozän und damit nach dem Aussterben der Dinosaurier der durch die Nachtjäger bedingte Feinddruck im Verlauf der weiteren Evolution zu vielfältigen Spezialisierungen der bereits vorhandenen Hörorgane und auch zu Neuentwicklungen von Hörorganen führte“ ergänzte Marianne Espeland, Florida Museum und ZFMK.
Was konnten Nachtfalter in Zeiten ohne Fledermäuse gehört haben? „Wir wissen es nicht“, sagte Kawahara. Er und Prof. Jesse Barber, ein Fledermausexperte stellt die Hypothese auf: „Wahrscheinlich haben sie diese Hörorgane verwendet, um die Geräusche anderer Raubtiere wie Tritte, Fluchtgeräusche oder Rascheln zu erkennen. Erst später entwickelten sich Spezialisierungen der Ohren in einer Weise, dass die Tiere auch das Fledermaussonar hören konnten.“ Viele Nachtfalter und einige Tagfalter haben je nach Familie „Ohren“ an verschiedenen Körperteilen. Die Mehrheit der Hörorgane befindet sich jedoch in der Nähe der Flügel. Dies ist der optimale Ort, um zu erkennen, ob sich ein Geräusch zum Insekt hin oder von ihm weg bewegt, sagte Studienmitautor Jayne Yack, Professor für Neuroethologie an der Carleton University in Ottawa, Ontario.
„Es ist sinnvoll, die Ohren in der Nähe der Flügel zu haben, wenn man Geräuschen durch geschickte Flugbewegungen ausweichen möchte“, sagte sie. Obwohl es eine Überraschung war, dass einige dieser Organe vor Fledermäusen existierten, warnte Yack davor, zu dem Schluss zu gelangen, dass es keinen Zusammenhang zwischen der Fähigkeit von Fledermäusen und ihrer Fähigkeit zu hören gibt. Sie wies darauf hin, dass viele Arten mit Ohren kurz vor dem in der Studie passend angenommenen Zeitpunkt auftreten, zu dem Fledermäuse eine Ultraschall Erkennung entwickelten. „Die überwiegende Mehrheit der Ohren der heutigen Schmetterlinge reagiert empfindlich auf Ultraschall, und zumindest bei einigen Arten wurde nachgewiesen, dass sie Fledermäusen ausweichen“, sagte sie. „Bei einigen Arten traten Hörorgane erst auf, nachdem Fledermäuse die Echolokalisierung zum ersten Mal verwendeten. Die Beweise erfordern, dass wir die derzeitige Annahme überdenken, dass sich alle Ohren bei nachtaktiven Faltern als Reaktion auf die Echolokalisierung von Fledermäusen entwickelt haben.“
Der Nektarrüssel als entscheidende Entwicklung
Die frühesten Nachtfalter ernährten sich wahrscheinlich innerhalb von niederen Pflanzen wie Moose als Larven und hatten als Erwachsene Kauwerkzeuge. Die Entwicklung des Saugrüssels, eines aufgerollten strohhalmähnlichen Mundstücks, das Nektar, Pflanzensaft und andere Flüssigkeiten aufsaugen kann, half der Gruppe der Nachtfalter, sich in radiativer Adaptation schlagartig zu verbreiten, sagte Kawahara. Mehr als 99% der heutigen Tag- und Nachtfalter haben einen Rüssel.
Der auf Basis der Fossilienfunde datierte Stammbaum legt den Ursprung der Entstehung der Schmetterlingsrüssel vor etwa 241 Millionen Jahren fest und fällt damit mit der Zeit zusammen, als sich blühende Pflanzen schnell diversifizierten. Die Rüssel halfen frühen Nachtfaltern, Zugang zum Nektar zu erhalten, was ihnen vielleicht ermöglichte, weiter zu fliegen, neue Lebensräume zu besiedeln und neue Wirtspflanzen zu nutzen. Tagfalter, eine viel jüngere und weniger vielfältige Gruppe als diejenige der Nachtfalter, entstanden erst vor etwa 100 Millionen Jahren und sind nur tagfliegende Nachtfalter, sagte Kawahara. „Diese Studie unterstreicht frühere Studien, die zeigen, dass Tagfalter zu der viel größeren Gruppe von Nachtfaltern gehören“, sagte er. „Wir schätzen Tagfalter, weil sie oft auffällig und charismatisch sind, aber wir sollten nicht die Nachtfalter vergessen, die genauso auffällig sein können. Nachtfalter und Pflanzen interagierten in einer Zeit, die ungefähr 50 Millionen Jahre vor der zeitgeschichtlichen Phase lag, in der erste Dinosaurier begannen, die Erde zu durchstreifen. Die Wechselwirkungen zwischen Pflanzen und Faltern trugen dazu bei, dass die Vielfalt, die wir heute auf unserem Planeten sehen, noch größer wurde.“
Die Forscher veröffentlichten ihre Ergebnisse in den Proceedings der National Academy of Sciences.
Phylogenomics reveals the evolutionary timing and pattern of butterflies and moths
Akito Y. Kawahara, David Plotkin, Marianne Espeland, Karen Meusemann, Emmanuel F. A. Toussaint, Alexander Donath, France Gimnich, Paul B. Frandsen, Andreas Zwick, Mario dos Reis, Jesse R. Barber, Ralph S. Peters, Shanlin Liu, Xin Zhou, Christoph Mayer, Lars Podsiadlowski, Caroline Storer, Jayne E. Yack, Bernhard Misof, Jesse W. Breinholt
https://www.pnas.org/content/early/2019/10/15/1907847116 DOI: 10.1073/pnas.1907847116

22.10.2019, Senckenberg Forschungsinstitut und Naturmuseen
Sinkende Sterne: Tiefseebergbau bedroht Seesternverwandte
Senckenberg-Wissenschaftler*innen haben mit australischen Kollegen eine hohe Artenvielfalt von Schlangensternen in der „Clarion Clipperton Zone“ im östlichen Pazifik entdeckt – ein Tiefsee-Gebiet, das bereits von Bergbauunternehmen für kommerzielle Explorationszwecke aufgeteilt wurde. In der kürzlich im Fachjournal „Current Biology“ erschienenen Studie berichten die Forschenden von mehreren neuen Arten der Seestern-Verwandten und warnen vor einem Verlust der bislang unbekannten Biodiversität am Meeresboden.
Zwischen Hawaii und Mexiko liegt ein etwa 7.000 Kilometer langes Gebiet, dessen Meeresboden reich an Manganknollen und damit wertvollem Rohstoffe wie Nickel, Cobalt und Mangan ist. Mehrere Staaten – darunter auch die Bundesrepublik Deutschland – haben bereits Explorationslizenzen für das als „Clarion Clipperton Zone“ bekannte Areal erworben.
„Obwohl es hier bereits konkrete Abbaupläne für Manganknollen gibt, ist die Zone hinsichtlich ihrer Artenvielfalt noch längst nicht vollständig erforscht“, erklärt Dr. Magdalini Christodoulou vom Deutschen Zentrum für Marine Biodiversitätsforschung bei Senckenberg am Meer und fährt fort: „Sinnvolle Schutzkonzepte können aber erst mit diesem grundlegenden Wissen entwickelt werden!“
Die Wilhelmshavener Wissenschaftlerin hat gemeinsam mit Senckenberger Prof. Dr. Pedro Martinez Arbizu und ihren australischen Kollegen Dr. Timothy O’ Hara und Dr. Andrew Hugall vom Museums Victoria in Melbourne die Vielfalt von Schlangensternen (Ophiuroidea) in der Clarion Clipperton Zone untersucht. „Anhand von Probenmaterial aus sieben Expeditionen konnten wir mehrere bislang in der Tiefsee unbekannte Arten dieser engen Verwandten der Seesterne beschreiben“, so Christodolou. Dabei setzte das Team genetische Methoden ein, um auch schon juvenile Schlangensterne und Larven der fünfstrahligen Tiere zu identifizieren.
Insgesamt fand das Team 42 Schlangenstern-Arten, von denen die meisten wissenschaftlich unbeschrieben sind. Einige der Tiere gehören zu neuen Abstammungslinien, welche sich laut der Studie seit mehr als 70 Millionen Jahren in der Tiefsee entwickelt haben.
„Es ist bemerkenswert, dass selbst die Diversität großer Meerestiere, wie der Schlangensterne, bisher in der Tiefsee nahezu unbekannt ist“, resümiert Martinez Arbizu und warnt: „Der Mangel an solch grundsätzlichen Informationen zu Beginn des kommerziellen Abbaus von Mangangknollen, kann zum Verlust von Arten führen, bevor sie beschrieben oder gar entdeckt wurden. Bis sich das Ökosystem vom Bergbau erholt hat können zudem hunderte Jahre vergehen!“
Originalpublikation:
Magdalini Christodoulou, Timothy D. O’Hara, Andrew F. Hugall, Pedro Martinez Arbizu (2019): Dark Ophiuroid Biodiversity in a Prospective Abyssal Mine Field,
Current Biology, 2019,
https://doi.org/10.1016/j.cub.2019.09.012

24.10.2019, MARUM – Zentrum für Marine Umweltwissenschaften an der Universität Bremen
Kaltwasserkorallen auf namibischem Schelf durch niedrigen Sauerstoffgehalt ausgestorben – Neue Studie in Geology
Erst seit 2016 weiß man von der Existenz fossiler Kaltwasserkorallen vor der Küste Namibias. Unklar war allerdings, wann und warum die Kaltwasserkorallen in dieser Region ausgestorben sind. Leonardo Tamborrino vom MARUM und seine Co-Autorinnen und -Autoren haben das lokale Aussterbeereignis mittels der Datierung fossiler Korallenfragmente auf circa 4.500 Jahren vor heute bestimmen können. Zudem konnten sie das Ereignis mit dem Verschieben des Benguela-Auftriebssystems und einer damit einhergehenden Intensivierung der Sauerstoffminimumzone in dieser Region in Verbindung bringen. Die Ergebnisse ihrer Studie hat das Team jetzt in der Zeitschrift Geology veröffentlicht.
Erst seit 2016 weiß man von der Existenz fossiler Kaltwasserkorallen vor der Küste Namibias. Unklar war allerdings, wann und warum die Kaltwasserkorallen in dieser Region ausgestorben sind. Leonardo Tamborrino vom MARUM – Zentrum für Marine Umweltwissenschaften der Universität Bremen und seine Co-Autorinnen und -Autoren haben das lokale Aussterbeereignis mittels der Datierung fossiler Korallenfragmente auf circa 4.500 Jahren vor heute bestimmen können. Zudem konnten sie das Ereignis mit dem Verschieben des Benguela-Auftriebssystems und einer damit einhergehenden Intensivierung der Sauerstoffminimumzone in dieser Region in Verbindung bringen. Die Ergebnisse ihrer Studie hat das Team jetzt in der Zeitschrift Geology veröffentlicht.
Kaltwasserkorallen spielen als so genannte Ökosystem-Ingenieure eine wichtige Rolle für die Artenvielfalt in der Tiefsee. Maßgeblich an der Riffbildung ist die Korallenart Lophelia pertusa beteiligt. Ihr verzweigtes, hartes Kalkskelett bietet Schutz-, Brut- und Lebensräume für zahlreiche andere Tierarten. Über Tausende von Jahren bilden diese Korallen hügelartige Riffstrukturen am Meeresboden, die über Hundert Meter hoch und mehrere Tausend Meter lang werden können.
2016 wurden bei einer Expedition mit dem Forschungsschiff METEOR vor Namibia über 2.000 Kaltwasserkorallenhügel in Wassertiefen zwischen 160 und 270 Metern entdeckt. Die Hügel erstrecken sich über achtzig Kilometer entlang des Schelfs und stellen somit die größte bislang entdeckte Korallenhügel-Provinz im Südost-Atlantik dar. Allerdings zeigten Unterwasseraufnahmen: Die Kaltwasserkorallen sind bereits seit langer Zeit tot. Um genauer zu untersuchen, wann die Korallen hier ausgestorben sind und welche Umweltfaktoren ihr Aussterben verursachten, hat ein Forscherteam während der METEOR-Expedition M122 Sedimentproben von diversen Korallenhügeln gewonnen, aus denen wiederum fossile Skelett-Bruchstücke der Korallenart Lophelia pertusa entnommen wurden. Die Datierung der Proben hat gezeigt, dass die Kaltwasserkorallen zwischen 9.500 und 4.500 Jahren vor heute, also vom frühen bis mittleren Holozän, vor Namibia lebten und in diesem Zeitraum bis zu zwanzig Meter hohe Hügel aufbauten.
Da Kaltwasserkorallen mit ihrem Skelett am Meeresboden festwachsen, sind sie auf Strömungen angewiesen, die Nahrungspartikel zu ihnen herantransportieren. Zudem reagieren sie sehr sensibel auf sich verändernde Umweltfaktoren. Dazu gehören neben der Futterzufuhr etwa Temperatur und pH-Wert des Wassers, aber auch der Sauerstoffgehalt. Verändern sich einer oder mehrere Faktoren, geraten die Korallen unter Stress, was schließlich zu ihrem lokalen Aussterben führen kann. Die Tatsache, dass sich vor Namibia in den vergangenen 4.500 Jahren keine neuen Korallen auf dem Schutt der alten angesiedelt haben, weist auf ein ökologisches Umfeld hin, dass das Korallenwachstum seitdem verhindert hat. Das Autorenteam ist überzeugt davon, dass der niedrige Sauerstoffgehalt von unter einem halben Milliliter Sauerstoff pro Liter Wasser das Korallenwachstum vor der namibischen Küste bis heute verhindert. „Diese Werte sind sehr viel niedriger als alle bislang bekannten Sauerstoffgehalte, die im Bereich von lebenden Lophelia-Riffen im Atlantik gemessen worden sind“, sagt Leonardo Tamborrino.
Der Schelf vor der Küste Namibias wird heute durch das Benguela-Auftriebssystem kontrolliert, das kaltes, nährstoffreiches Wasser aus der Tiefe nach oben strömen lässt. Dies macht die Küste Namibias zu einem der produktivsten Gebiete der Weltmeere, was sich auf den ersten Blick positiv auf das Korallen-Wachstum auswirken sollte. Allerdings wird bei der anschließenden Zersetzung des organischen Materials gleichzeitig auch viel Sauerstoff verbraucht. Das führt dazu, dass die küstennahen Gewässer wenig Sauerstoff enthalten. Im mittleren Holozän hat sich das Benguela-Auftriebssystem verstärkt, gleichzeitig verlagerte sich ein damit assoziiertes Frontensystem, die Angola-Benguela-Front, in Richtung Äquator. Beide Prozesse, so folgern Leonardo Tamborrino und seine Kolleginnen und Kollegen, haben zu einer Intensivierung der Sauerstoffminimumzone vor Namibia geführt und das Aussterben der dortigen Korallen ausgelöst.
Originalpublikation:
Leonardo Tamborrino, Claudia Wienberg, Jürgen Titschack, Paul Wintersteller, Furu Mienis, Andrea Schröder-Ritzrau, André Freiwald, Covadonga Orejas, Wolf-Christian Dullo, Julia Haberkern und Dierk Hebbeln: Mid-Holocene extinction of cold-water corals on the Namibian shelf steered by the Benguela oxygen minimum zone. Geology 2019.
DOI:10.1130/G46672.1

24.10.2019, Goethe-Universität Frankfurt am Main
Klimawandel in Naturschutzgebieten gefährdet Biodiversität
Forscher von Goethe-Universität und Universität Bayreuth untersuchen erstmals Auswirkungen auf die Artenvielfalt.
Welche Veränderungen verursacht der Klimawandel in den Naturschutzgebieten der Erde? Das haben die Forscher Severin Irl (Goethe-Universität Frankfurt), Samuel Hoffmann und Carl Beierkuhnlein (beide Universität Bayreuth) gemeinsam untersucht. Die Ergebnisse sind diese Woche im renommierten Fachjournal „Nature Communications“ erschienen. Die Autoren geben darin Denkanstöße für die Umweltpolitik und das Management von Schutzgebieten.
Für fast 140.000 terrestrische Schutzgebiete – das sind 99% der Schutzgebiete an Land – wurden detaillierte Klimaprognosen berechnet. Besonders signifikante Klimaänderungen sind demnach in gemäßigten Zonen oder in polaren Zonen auf der Nordhalbkugel zu erwarten. Sie sind relativ klein, bieten räumlich wenig abwechslungsreiche Umweltbedingungen und liegen nicht sehr hoch. Sie sind durch Eingriffe durch den Menschen bedroht und haben hinsichtlich ihrer Pflanzen- und Tierwelt viel mit anderen Schutzgebieten gemeinsam. Um möglichst belastbare Prognosen zu erzielen, haben die Autoren der neuen Studie mit zehn verschiedenen Klimamodellen gearbeitet. Zugleich wurde in allen Berechnungen zwischen lokalen, regionalen und globalen Klimaänderungen unterschieden.
Die modelgestützten Klimaprognosen helfen zu untersuchen, welche Schutzgebiete in welchem Maße zum Schutz und Erhalt der globalen Biodiversität beitragen. Wenn der Klimawandel aber dafür sorgt, dass sich die Lebensräume und deren Bedingungen für die Tiere und Pflanzen ändert, dann sind die Schutzgebiete möglicherweise nicht mehr in der Lage, ihr Aufgabe in vollem Umfang zu erfüllen. Es ist sehr wahrscheinlich, dass viele Arten auf andere Gebiete, möglicherweise sogar außerhalb der Schutzgebiete, ausweichen werden. Dort stehen sie aber nicht mehr unter dem rechtlichen Schutz, der innerhalb von Schutzgebieten gegeben sind, sondern sind viel stärker dem Einfluss des Menschen ausgesetzt.
„Mit unseren Berechnungen wollen wir einen Anstoß dafür geben, die Folgen des Klimawandels künftig systematisch in das Management von Schutzgebieten einzubeziehen. Wenn sich die klimatischen Verhältnisse ändern, bedeutet dies nicht zwangsläufig, dass bestehende Schutzgebiete aufgegeben und andere Regionen neu als Schutzgebiete ausgewiesen werden müssen. Aber intensiver als bisher sollte gerade auch in Europa darüber nachgedacht werden, was die vorhandenen Schutzgebiete künftig zur Bewahrung der Artenvielfalt leisten können und sollen. Unsere neuen Berechnungen bieten hierfür wissenschaftliche Anhaltspunkte. Sie sind damit eine Grundlage für ein proaktives Biodiversitäts-Management. Die neue Studie zeigt, dass Big-Data-Technologien mittlerweile auch in der Umweltforschung unverzichtbar sind“, sagt der Erstautor der Studie Samuel Hoffmann M.Sc., Doktorand an der Universität Bayreuth.
Prof. Dr. Severin Irl vom Institut für Physische Geographie der Goethe Universität weist ausdrücklich darauf hin, dass „Schutzgebiete nicht als losgelöste Einzeleinheiten zu sehen sind, sondern sie sollten noch mehr als bisher in ihrem wechselseitigen Zusammenhang betrachtet werden.“ Dabei gelte die Faustregel, dass sowohl weiträumig angelegte Schutzgebiete als auch Gebiete mit sehr unterschiedlichen Lebensbedingungen für den Erhalt der Biodiversität besonders vorteilhaft sind. Dies biete Arten in einer sich verändernden Welt die Möglichkeit, in günstigere Gebiete innerhalb eines Schutzgebiets zu wandern. Daher sei es unter Umständen von Vorteil, dass mehrere, kleinere Schutzgebiete zu größeren Verbünden zusammengeschlossen werden.
Originalpublikation:
Publikation: S. Hoffmann; S.D.H. Irl, C. Beierkuhnlein: Predicted climate shifts within terrestrial protected areas worldwide. Nature Communications (2019), DOI: 10.1038/s41467-019-12603-w

24.10.2019, Senckenberg Forschungsinstitut und Naturmuseen
Ausgestorbene Krim-Eidechse war Italiener // 120-jähriges Sammlungsstück anhand mitochondrialer DNA entlarvt
Senckenberg-Forscher haben gemeinsam mit einem ukrainischen Kollegen das 120 Jahre alte Sammlungsstück einer „Krim-Eidechse“ untersucht. Die Tiere galten bislang als eine nur auf der Halbinsel vorkommende Smaragdeidechse. Mittels Erbgut-Untersuchungen konnte das Team zeigen, dass es sich bei den Reptilien stattdessen um eine aus Italien eingeführte Art handelt. Die Ergebnisse unterstreichen die Bedeutung von historischen Sammlungen. Die Studie erscheint heute im Fachjournal „Journal of Zoological Systematics and Evolutionary Research“.
„Lacerta viridis magnifica Sobolevssky, 1930“ – so lautet die Etikettbeschriftung einer in Formalin und Alkohol konservierten Eidechse in der Sammlung des Zoologischen Museums an der Universität Moskau. „Insgesamt gibt es nur fünf Exemplare dieser Art, alle wurden vor über 100 Jahren auf der Halbinsel Krim gefangen und von dem russischen Biologen Sobolevssky wissenschaftlich beschrieben“, erklärt Professor Dr. Uwe Fritz vom Museum für Tierkunde an den Senckenberg Naturhistorischen Sammlungen in Dresden. Die Eidechsen galten als eine auf der Krim vorkommende, heute ausgestorbene Art oder Unterart der Smaragdeidechse. „Das klang auch erst einmal plausibel – es gibt noch eine weitere Eidechsenart, die ausschließlich in diesem Gebiet lebt. Die geringe Anzahl der bekannten Sammlungsstücke hat uns aber stutzig gemacht“, ergänzt Fritz.
Der Dresdner Wissenschaftler hat nun gemeinsam mit dem Senckenberger Dr. Christian Kehlmaier und Dr. Oleksandr Zinenko von der Nationalen Ukrainischen Universität in Kharkiv eines der alten Museumsexemplare mit hochmodernen Methoden untersucht. Sie kommen anhand von DNA-Analysen zu dem Schluss, dass es sich bei den Krim-Eidechsen nicht um eine eigene Art, sondern um Vertreter der Westlichen Smaragdeidechse (Lacerta bilineata) handelt. „Das war wirklich ein überraschendes Ergebnis. Das Verbreitungsgebiet dieser Reptilien ist nämlich sehr weit von der Krim entfernt – die nächsten Vorkommen gibt es 1500 Kilometer entfernt auf der kroatischen Insel Cres!“, erläutert Fritz.
Doch wie gelangten die grünen Eidechsen dann auf die ukrainische Halbinsel? Fritz hierzu: „Im Mittelalter existierte auf der Krim eine Genueser Kolonie, genau in dem Gebiet, in dem die Eidechsen vor über 100 Jahren gefangen wurden. Bis zum frühen 20. Jahrhundert bestanden dort zudem enge Beziehungen zu Italien: Familien genuesischer Abstammung schickten ihre Kinder zur Schule nach Italien, wo es wiederum große Vorkommen von Lacerta bilineata gibt.“
Das Wissenschaftlerteam schlussfolgert, dass die ausgestorbenen „Krimeidechsen“ daher entweder versehentlich oder absichtlich aus Italien eingeschleppt wurden.
„Unsere Studie unterstreicht die Bedeutung von historischen Sammlungen – durch neue genetische Methoden können wir selbst aus uralten Präparaten Erbgut zur Untersuchung gewinnen und vielleicht erweisen sich noch mehr vermeintlich ausgestorbene Arten als solche wissenschaftlichen Irrtümer!“, betont Erstautor Kehlmaier.
Die Natur mit ihrer unendlichen Vielfalt an Lebensformen zu erforschen und zu verstehen, um sie als Lebensgrundlage für zukünftige Generationen erhalten und nachhaltig nutzen zu können – dafür arbeitet die Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung seit nunmehr 200 Jahren. Diese integrative „Geobiodiversitätsforschung“ sowie die Vermittlung von Forschung und Wissenschaft sind die Aufgaben Senckenbergs. Drei Naturmuseen in Frankfurt, Görlitz und Dresden zeigen die Vielfalt des Lebens und die Entwicklung der Erde über Jahrmillionen. Die Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung ist ein Mitglied der Leibniz-Gemeinschaft. Das Senckenberg Naturmuseum in Frankfurt am Main wird von der Stadt Frankfurt am Main sowie vielen weiteren Partnern gefördert. Mehr Informationen unter www.senckenberg.de.
Originalpublikation:
Kehlmaier, Christian, Zinenko, Oleksandr; V. N. & Fritz, Uwe (2019): The enigmatic Crimean green lizard (Lacerta viridis
magnifica) is extinct but not valid: Mitogenomics of a 120-
year-old museum specimen reveals historical introduction. Journal of Zoological Systematics and Evolutionary Research.
https://onlinelibrary.wiley.com/journal/14390469#pane-01cbe741-499a-4611-874e-10…

23.10.2019, Universität Zürich
Weissbüschelaffen passen ihren Dialekt an
Affen und andere Tiere kommunizieren mit Lauten, die sich je nach Region unterscheiden können. Auch Weissbüschelaffen verständigen sich in solchen regionalen Dialekten. Wie Forscherinnen der Universität Zürich zeigen, passen sie ihren Dialekt sogar an, wenn sie in ein anderes Gebiet umziehen.
Nicht nur Menschen sprechen Dialekt, auch verschiedenen Tierarten rufen und singen regional unterschiedlich. Bekanntestes Beispiel dafür sind Singvögel, die regional zwitschern und ihren Dialekt oft von den Eltern übernehmen. Auch die Rufe von Weissbüschelaffen tönen je nach Lebensraum anders, wie Forscherinnen der Universität Zürich in einer früheren Studie herausge-funden hatten. Unklar war allerdings, ob genetische Unterschiede zwischen den Populationen oder andere Umweltbedingungen die verschiedenartigen Laute bedingen oder ob diese sozial erlernt werden.
Dialekte sind sozial erlernt
Um diese Frage zu beantworten, haben die Forscherinnen die Rufe von Weissbüschelaffen vor und nach ihrem Umzug in eine neue Kolonie mit einem anderen Dialekt analysiert. Nach kurzer Zeit hatten die Neuankömmlinge ihre Rufe dem neuen Dialekt angepasst. «Wir konnten klar zei-gen, dass die Dialekte bei den Weissbüschelaffen sozial erlernt sind. Denn wären sie genetisch bedingt, würden bei einem Ortswechsel keine Lautveränderungen stattfinden. Auch Unterschiede in der Umgebung erklären die sprachliche Anpassungsleistung nicht», sagt Yvonne Zürcher, Erstautorin der Studie vom Institut für Anthropologie der UZH.
Lautliche Anpassung aus Interesse
Welchen Vorteil die Tiere davon haben, einen neuen Dialekt zu lernen, ist noch nicht geklärt. Es könnte sein, dass sie mit der lautlichen Anpassung an die neue Kolonie ihr Interesse an der neuen Gruppe signalisieren und sich als potenzielle Partner interessanter machen. «Auf jeden Fall ist es keine Überraschung, dass der Nachweis von sozial gelernten Dialekten gerade bei Weissbüschelaffen gelang», meint Judith Burkart, Letztautorin der Studie. Obwohl nicht ganz so nah verwandt mit uns wie die Menschenaffen, sind sie uns in gewisser Hinsicht dennoch ähnli-cher. So ziehen sie wie wir Menschen ihren Nachwuchs mithilfe der ganzen Gruppe gross, was durchaus mit ihrem «Sprachtalent» zusammenhängen könnte. Diese und andere Studien zeigen, dass Weissbüschelaffen ein wichtiges Modellsystem sind, um den Ursprüngen der Sprache auf die Spur zu kommen.
Originalpublikation:
Zürcher, Y., Willems, E. & Burkart, J. M. Translocation experiments show dialects are socially learned in marmoset monkeys. Plos One, 23 October 2019. DOI: 10.1371/journal.pone.0222486
Zürcher, Y., & Burkart, J. M. Evidence for dialects in three captive populations of common marmo-sets (Callithrix jacchus). International Journal of Primatology, August 2017. DOI: 10.1007/s10764-017-9979-4

25.10.2019, Johann Heinrich von Thünen-Institut, Bundesforschungsinstitut für Ländliche Räume, Wald und Fischerei
Heimatverbundener Kabeljau
Bei der Abwägung zwischen gutem Futterangebot und sicherem Umfeld entscheidet sich der Grönland-Kabeljau eher für Sicherheit
Der Grönland-Kabeljau (Gadus morhua) hält sich meist nicht dort auf, wo es das beste Futter gibt, sondern wo es ihn beim Übergang von der Larve zum erwachsenen Fisch einmal hin verschlagen hat. Das haben Forscher des Thünen-Instituts für Seefischerei in Bremerhaven herausgefunden und jetzt in einer Studie veröffentlicht. Sie analysierten dafür über einen Zeitraum von elf Jahren mehr als 4.000 Kabeljaumägen von Individuen, die sie an der Küste Grönlands gefangen hatten.
Der Schelfbereich um die Insel Grönland gehört zum Lebensraum des Kabeljaus, der in verschiedenen Beständen im gesamten Nord-Atlantik, der Nordsee und der Ostsee – dort Dorsch genannt – vorkommt. Der Grönland-Kabeljau hat einen komplexen Lebensyzklus: Die erwachsenen Fische laichen in Ostgrönland, von wo die Eier und Larven mit Meeresströmungen nach Süd- und Westgrönland transportiert werden (siehe Graphik). Hier wachsen die Jungfische auf und „hangeln“ sich dann im Laufe des Erwachsenwerdens zurück nach Ostgrönland, wo sie sich auf Unterwasserbänken sammeln, fressen und laichen. Deshalb findet man in Westgrönland hauptsächlich kleine, in Südgrönland mittelgroße und in Ostgrönland fast ausschließlich sehr große Kabeljaue.
Untersuchungen der Fischereiforscher ergaben, dass die Zusammensetzung der Beute des Kabeljaus einen großen Einfluss auf seine Energiereserven hat. Dennoch halten sich die Fische nicht immer dort auf, wo das Futter am besten ist. Die Wissenschaftler erklären dieses Phänomen damit, dass ein einzelner Fisch oft nicht in der Lage ist, räumliche Unterschiede in der Futterqualität wahrzunehmen. Wenn der Kabeljau als Jungfisch langsam nach Ostgrönland wandert, bleibt er in bestimmten Arealen hängen, auch wenn die vorherrschenden Nahrungsbedingungen dort nicht gut sind. Selbst wenn sich dadurch Nachteile für die Reproduktion ergeben, scheut er offenbar das Risiko, nach einem besseren Standort zu suchen.
Die Forscher vermuten, dass diese Strategie vor allem damit zusammenhängt, dass Futterexpeditionen Gefahren mit sich bringen. Weil der Kabeljau in Grönland hauptsächlich auf relativ flachen Unterwasserbänken verbreitet ist, könnte er bei der Suche nach einer neuen Heimat in einem tiefen „Futtertal“ verhungern oder gar gefressen werden.
„Wir haben bei unseren Forschungsreisen immer wieder beobachtet, dass sich Kabeljaue häufig in Gebieten aufhalten, in denen sie eher unterernährt scheinen. Dies konnten wir mithilfe der Magenanalysen im Labor dann beweisen“, sagt Karl-Michael Werner, Biologe am Thünen-Institut und Erstautor der Studie. Einer der spannendsten Aspekte hierbei war, dass sich diese Beobachtungen Jahr für Jahr wiederholten. Das ließ den Rückschluss zu, dass der Kabeljau relativ risikoscheu ist und Schwierigkeiten hat, sich an Unterschiede in der Umweltqualität anzupassen. Dies ist vor allem für Ökosystemveränderungen im Zuge der Klimaerwärmung relevant: Wahrscheinlich dauert es länger als erwartet, bis sich Kabeljaubestände an veränderte Bedingungen anpassen. Außerdem zeigen die neuen Erkenntnisse, dass bestimmte Habitate über einen langen Zeitraum von erhöhter Bedeutung für die Populationsstabilität des Grönland-Kabeljaus sind. Dies ist wichtig für ein langfristiges Fischereimanagement des beliebten Speisefisches und gibt Hinweise darauf, welche Gebiete als besonders schützenswert ausgewiesen werden könnten.
Die Studie „Evidence for limited adaptive responsiveness to large-scale spatial variation of habitat quality“ wurde vom Thünen-Institut in Kooperation mit den Universitäten Hamburg, Tromsø und Girona angefertigt und ist im Fachmagazin Marine Ecology Progress Series erschienen.
Originalpublikation:
Werner et al. (2019): Evidence for limited adaptive responsiveness to large-scale spatial variation of habitat quality.
Marine Ecology Progress Series (https://www.int-res.com/abstracts/meps/v629/p179-191/)

25.10.2019, Brandenburgische Technische Universität Cottbus-Senftenberg
Lokale Regenwurm-Vielfalt in Europa größer als in den Tropen
Klimawandel könnte Vorkommen von Regenwürmern weltweit verändern. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie, an der die BTU Cottbus-Senftenberg mit dem Fachgebiet Ökologie (Prof. Klaus Birkhofer) beteiligt ist.
An einem Ort der gemäßigten Breiten gibt es meist mehr Regenwürmer und mehr Regenwurmarten als an einem Ort gleicher Größe in den Tropen. Der Klimawandel könnte das Vorkommen von Regenwürmern und ihre Funktionen für Ökosysteme weltweit verändern. Dies sind die zentralen Ergebnisse einer Studie, die in der aktuellen Ausgabe der Fachzeitschrift Science veröffentlicht wurde. Für die Studie hat ein Wissenschaftlerteam unter Führung des Deutschen Zentrums für integrative Biodiversitätsforschung (iDiv) und der Universität Leipzig zusammen mit 140 internationalen Wissenschaftlern unter Beteiligung des Fachgebietes Ökologie der BTU Cottbus-Senftenberg (Prof. Dr. Klaus Birkhofer) den weltweit größten Regenwurmdatensatz zusammengestellt – mit Informationen von 6928 Standorten aus 57 Ländern.
Regenwürmer gibt es in vielen Ökosystemen. Wo der Boden nicht dauerhaft gefroren, zu sauer, zu nass oder vollkommen trocken ist, fressen Regenwürmer organisches Material, graben Löcher und mischen Humus und Erde. Auf diese Weise fördern sie eine Vielfalt von Ökosystemleistungen wie das Verfügbarmachen von Nährstoffen, das Speichern klimawirksamen Kohlenstoffs oder die Ausbreitung von Samen. Regenwürmer gelten deshalb als „Ökosystem-Ingenieure“. Ihre Bedeutung spiegelt sich auch in ihrer großen Gesamt-Biomasse wider: Diese ist oft größer als die Gesamt-Biomasse aller am selben Ort lebenden Säugetiere.
Trotz der Bedeutung von Regenwürmern für Ökosysteme und Ökosystemleistungen für den Menschen, war bislang wenig bekannt über die weltweite Verbreitung von Regenwürmern. „Wissenschaftler haben bereits vor Jahrzehnten herausgefunden, dass an einem beliebigen Ort in den Tropen meist mehr Arten leben als an einem gleichgroßen Ort der gemäßigten Breiten“, sagt Erstautorin Dr. Helen Phillips, die am Deutschen Zentrum für integrative Biodiversitätsforschung (iDiv) und der Universität Leipzig arbeitet. „Doch für Regenwürmer konnten wir solche Untersuchungen bisher nicht durchführen, da es keine entsprechenden, globalen Datensätze gab.“
Phillips wollte eine Weltkarte erstellen, die so viele Daten wie möglich zur Vielfalt von Regenwürmern enthält: zur Anzahl der Arten, zur Anzahl der Individuen (Dichte) und zur Biomasse. Zusammen mit Kollegen einer Arbeitsgruppe des Synthesezentrums sDiv kontaktierte Phillips Regenwurmforscher aus der ganzen Welt und bat sie, ihre Daten für einen neuen, globalen Datensatz zur Verfügung zu stellen, der für jeden zugänglich sein sollte. Die Ergebnisse zeigen, dass Biodiversität unterirdisch anders verteilt ist als oberirdisch: Bei Pflanzen, Insekten und Vögeln zum Beispiel nimmt die Anzahl der Arten in einem bestimmten Gebiet zu, je mehr man sich dem Äquator nähert. Entsprechend finden sich oberirdisch die meisten Arten in den Tropen. Doch bei Regenwürmern ist es genau umgekehrt: Die meisten Regenwurmarten (kleinräumig betrachtet) fanden die Forscher an Orten in Europa, dem Nordosten der USA und Neuseeland. Ähnlich verhielt es sich mit der Dichte und der Biomasse. Auch hier waren die Werte in den gemäßigten Breiten am höchsten.
Die Wissenschaftler untersuchten auch welche Umweltfaktoren Regenwürmer beeinflussen. Faktoren, die mit Niederschlag und Temperatur zusammenhängen, hatten den größten Einfluss. „Der Klimawandel könnte zu starken Veränderungen bei den Regenwurmgemeinschaften und den von ihnen beeinflussten Ökosystemleistungen führen“, sagt Nico Eisenhauer. Klaus Birkhofer weist auf die Bedeutung der Ergebnisse für die Lausitz hin: „Die sandigen, oft nährstoffarmen Böden, die zunehmenden Trockenperioden im Sommer und die Aufmerksamkeit der Bevölkerung für Umweltthemen stellen die landwirtschaftliche Produktion in Süd-Brandenburg vor besondere Herausforderungen. Die Hilfe von Ökosystem-Ingenieure ist in diesem Zusammenhang äußerst wichtig und sollte aktiv gefördert werden.“

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