Neues aus Wissenschaft und Naturschutz

13.02.2024, Julius-Maximilians-Universität Würzburg
Wüstenameisen: Das Magnetfeld kalibriert das Navi
Wüstenameisen finden während einer frühen Lernphase mithilfe des Magnetfelds der Erde ihren Weg. Der damit verbundene Lernprozess hinterlässt in ihrem Nervensystem deutliche Spuren. Das zeigt eine neue Studie eines Würzburger Forschungsteams.
Sie sind nur wenige Zentimeter groß, und ihr Gehirn ist mit weniger als einer Million Neuronen vergleichsweise einfach strukturiert. Dennoch besitzen Wüstenameisen vom Typ Cataglyphis Fähigkeiten, die sie von vielen anderen Lebewesen unterscheiden: Die Tiere sind dazu in der Lage, sich am Magnetfeld der Erde zu orientieren.
Sichtbare Veränderungen im Nervensystem
Das hat ein Forschungsteam der Julius-Maximilians-Universität Würzburg bereits vor einigen Jahren herausgefunden. Unbekannt war bislang allerdings, wo im Gehirn der Ameisen die Magnet-Informationen verarbeitet werden. Das hat sich nun geändert: In einer neuen Studie, die in der Fachzeitschrift PNAS – Proceedings of the National Academy of Sciences veröffentlicht wurde, zeigt das Team, dass Informationen über das Erdmagnetfeld in erster Linie im internen Kompass der Ameisen, dem sogenannten zentralen Komplex, und in den Pilzkörpern, den Lern- und Gedächtniszentren der Tiere, verarbeitet werden.
Verantwortlich für diese Studie waren Professor Wolfgang Rössler, Inhaber des Lehrstuhls für Verhaltensphysiologie und Soziobiologie der Julius-Maximilians-Universität Würzburg (JMU), Dr. Pauline Fleischmann, ehemalige Wissenschaftlerin am Lehrstuhl für Verhaltensphysiologie und Soziobiologie und jetzt Mitglied der Arbeitsgruppe Neurosensorik / Animal Navigation der Universität Oldenburg, sowie Dr. Robin Grob, der von Rösslers Lehrstuhl mittlerweile an die Norwegian University of Science and Technology in Trondheim gewechselt ist.
Erste Erkundungsgänge zum Kalibrieren
„Bevor eine Ameise zum ersten Mal ihr unterirdisches Nest verlässt und sich auf Futtersuche begibt, muss sie ihr Navigationssystem kalibrieren“, erklärt Pauline Fleischmann den Hintergrund der Arbeit. Bei sogenannten Lernläufen erkunden die Tiere dann die nähere Umgebung rund um den Nesteingang und drehen wiederholt Pirouetten um die eigene Körperachse mit kurzen Zwischenstopps. Während dieser Pausen blicken sie immer exakt in Richtung des Nesteingangs zurück, obwohl sie diesen – ein winziges Loch im Boden – nicht sehen können.
Dank ihrer Feldstudien in Südgriechenland, wo Cataglyphis-Ameisen heimisch sind, konnte Fleischmann zusammen mit ihren Kollegen damals nachweisen, dass sich Wüstenameisen in der Phase der Lernläufe am Magnetfeld der Erde orientieren. Auch jetzt waren Pauline Fleischmann und Robin Grob wieder vor Ort in Griechenland. Diesmal untersuchten sie allerdings nicht nur das Orientierungsverhalten der Ameisen, während das Magnetfeld manipuliert wurde, sondern suchten parallel nach Veränderungen im Nervensystem von Cataglyphis als Ausdruck des neu erlernten Wissens.
Ein fehlerhaftes Magnetfeld stört den Lernprozess
Dabei konzentrierten sich die Zoologen auf junge Arbeiterinnen, die noch keine Lernläufe unternommen hatten. Erst im Rahmen der präzise durchgeplanten Experimente durften sich die Tiere auf den Weg machen – mal unter natürlichen Bedingungen, mal in einem permanent manipulierten Magnetfeld, das zum Beispiel chaotische Richtungen anzeigte oder keine horizontale Orientierung ermöglichte. Mit diesen fehlerhaften Richtungsinformationen war es nicht als zuverlässiges Referenzsystem für das Verhalten der Ameisen geeignet, während der Lernläufe zum Nesteingang zurückzublicken.
Das Ergebnis: „Unsere neuroanatomischen Gehirnanalysen zeigen, dass Ameisen, die einem veränderten Magnetfeld ausgesetzt waren, ein geringeres Volumen und weniger synaptische Komplexe in einem Gehirnareal aufweisen, das für die Integration visueller Informationen und das Lernen zuständig ist, dem sogenannten Pilzkörper“, erklären Fleischmann und Grob. Im Zentralkomplex, der Region des Ameisenhirns, in der die räumliche Orientierung verankert ist, zeigte sich unter bestimmten Bedingungen derselbe Befund.
Die Zahl der synaptischen Verbindungen steigt
Wüstenameisen, die ihre ersten Ausflüge unter natürlichen Bedingungen machen durften, unterschieden sich davon deutlich. Ihre sensorischen Erfahrungen, eine Kombination aus Informationen über das Magnetfeld, den Verlauf des Sonnenstands und die visuelle Umgebung, stießen einen Lernprozess an, der mit strukturellen Veränderungen der Neuronen und einer Zunahme der synaptischen Verbindungen in den erwähnten Gehirnregionen einherging.
Dies lässt nach Ansicht der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler den Schluss zu, dass die magnetische Information nicht nur als Kompass für die Navigation dient, sondern auch als globales Referenzsystem, das für die Bildung des räumlichen Gedächtnisses entscheidend ist.
Auf der Suche nach dem Sinnesorgan
Die Ergebnisse ihrer Experimente beweisen, „dass Ameisen einen funktionsfähigen Magnetkompass während ihrer Lernläufe brauchen, um ihren visuellen Kompass zu kalibrieren und gleichzeitig Bilder der Nestumgebung im Langzeitgedächtnis abzuspeichern“, wie Pauline Fleischmann und Robin Grob sagen. Zugleich strahlen sie weit über das Gebiet der Kompass-Kalibrierung bei Ameisen hinaus. Wolfgang Rössler betont, „dass die Ergebnisse wertvolle Hinweise liefern, wie multisensorische Reize neuronale Plastizität von Gehirnschaltkreisen für Navigation in einer kritischen Phase der Gehirnreifung beeinflussen können.“
In einem nächsten Schritt will das Team nun untersuchen, in welchem Sinnesorgan die Wüstenameise die Magnetinformation empfängt und über welche Sinnesbahnen diese weitergeleitet und verarbeitet werden. Dies sei bis jetzt bei noch keiner Tierart gelungen, die sich am Magnetfeld der Erde orientiert. Aufgrund ihres überschaubaren und relativ kleinen Nervensystems bieten Insekten, zu denen Cataglyphis gehört, eine einzigartige Gelegenheit, die neuronalen Grundlagen der magnetischen Orientierung auf allen Ebenen zu erforschen.
Originalpublikation:
Importance of Magnetic Information for Neuronal Plasticity in Desert Ants. Robin Grob, Valentin L. Müller, Kornelia Grübel, Wolfgang Rössler, Pauline N. Fleischmann. PNAS Online-Publikation vom 12.02.2024, https://doi.org/10.1073/pnas.2320764121

14.02.2024, Justus-Liebig-Universität Gießen
Verschmutzung der Meere: Kunstfasern und Reifenabrieb beeinflussen Korallen besonders stark
Studien zu Auswirkungen von Mikropartikeln unterschiedlicher Materialien auf riffbildende Korallen und deren Ernährungsverhalten
Korallen ernähren sich von Plankton, das sie aus dem Meerwasser filtern. Durch die zunehmende Verschmutzung der Meere nehmen sie dabei auch winzige Plastikpartikel auf. Dieses Mikroplastik wieder auszuscheiden, gelingt den Korallen nicht immer. Sie lagern es in ihr Kalkskelett ein, was einigen Arten nicht gut bekommt: Sie wachsen schlechter und langsamer, entwickeln Korallenbleiche und Nekrosen. Dr. Jessica Reichert forscht an der Justus-Liebig-Universität Gießen (JLU) schon lange zu den Auswirkungen der plastikverschmutzten Meere auf Korallen. Nun hat sie gemeinsam mit weiteren Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern untersucht, welchen Einfluss die kleinsten Partikel unseres Mülls auf riffbildende Korallen haben. Besonders große Auswirkungen hatten Kunstfasern aus Kleidung und Reifenabrieb. Insgesamt sehen die Forschenden die untersuchten Korallen durch die derzeitigen Mikroplastik-Konzentrationen jedoch nicht als gefährdet an. In der Fachzeitschrift „Science of The Total Environment“ sind nun zwei Studien zur Korallenforschung erschienen.
Für eine Untersuchung setzte das Forschungsteam zwei Korallenarten acht Wochen lang vier verschiedenen Mikropartikeln aus, die aus den wichtigsten Verschmutzungsquellen stammen: Kunststoffabfällen aus der Umwelt, Kunstfasern aus Kleidung, Rückständen aus dem Automobilsektor – Reifenabrieb, Bremsenabrieb und Lacksplittern – sowie einem Polymer-Mikroplastik, das aus Polyethylen-Partikeln bestand, dem Material, das am häufigsten in der Umwelt zu finden ist. Diese Teilchen waren jeweils kleiner als ein Millimeter. In mit diesen Mikropartikeln verschmutztem Wasser wurden das Wachstum, die Photosynthese und die Gesundheit der beiden riffbildenden Korallenarten Pfötchenkoralle (Pocillopora verrucosa) und Griffelkoralle (Stylophora pistillata) untersucht. Von diesen beiden Korallenarten ist bekannt, dass sie häufig Mikroplastik aufnehmen.
Kunstfasern lösten die meisten Veränderungen in der Korallenphysiologie aus – möglicherweise deshalb, weil sie sich in den Korallenkolonien verfangen und Reinigungsmechanismen, die bei Mikropartikeln wirksam sein können, hier nicht funktionieren. Auch Reifenabrieb hatte deutliche Auswirkungen auf die Korallen. Insgesamt war die Pfötchenkoralle stärker betroffen als die Griffelkoralle, was an Unterschieden in der Wuchsform und der Ernährungsstrategie der Korallenarten liegen könnte. Die Mikropartikel hatten Auswirkungen auf das Wachstum: Beide Arten nahmen stärker an Volumen zu, begleitet von einer verringerten Kalkbildung bei der Pfötchenkoralle. „Wir vermuten, dass die Volumenzunahme durch den Einbau von Mikropartikeln in die Skelettstruktur zustande kommt“, so die Studienleiterin Dr. Reichert.
Insgesamt waren die Auswirkungen der Mikropartikel im achtwöchigen Versuchszeitraum auf die Korallen jedoch gering. Offensichtlich können die Korallen den durch die getestete Mikropartikel-Konzentration verursachten Stress über einige Zeit kompensieren. Dies könnte daran liegen, dass die Photosynthese der Algen, die mit den Korallen in Symbiose leben, bei beiden Korallenarten durch die Mikropartikel gesteigert wurde. Die Gründe dafür sind noch unklar. „Diese Hochregulierung könnte ein Mechanismus sein, um die durch Mikropartikel verminderte Nahrungsaufnahme und den damit verbundenen Energieverlust zu kompensieren“, sagt Dr. Reichert. Die erhöhte Photosynthese scheint die Auswirkungen von Mikropartikeln erfolgreich abzumildern, da die Exposition während des Versuchszeitraums keinen Einfluss auf das Oberflächenwachstum und die Gesundheit der Korallen hatte.
„Unsere Ergebnisse zeigen auch, dass unterschiedliche Mikropartikel unterschiedliche Auswirkungen auf die Korallenphysiologie haben“, sagt Dr. Reichert. „Daher sollten künftige Studien Partikelmischungen verwenden, um die in den Meeren vorkommenden Mikropartikel besser zu imitieren und ihre Auswirkungen auf Korallen genauer zu bewerten. Zum Schutz der in vielerlei Hinsicht gefährdeten, höchst bedeutsame Ökosysteme der Korallenriffe ist es besonders wichtig, Maßnahmen zur Reduzierung von Rückständen aus Kunstfaser-Kleidung und dem Automobilsektor zu ergreifen, die offensichtlich den größten Einfluss auf die untersuchten Korallen haben.“
An dieser Studie beteiligt waren neben Forschenden der JLU auch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Alfred-Wegener-Instituts – Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung auf Helgoland sowie des Wageningen Marine Research in den Niederlanden.
In einer weiteren Studie haben Forscherinnen und Forscher der JLU Einblicke in das Ernährungsverhalten einer breiten Palette von riffbildenden Korallenarten erhalten. Dabei konnten sie zeigen, dass diese Korallen genauso häufig auf Mikroplastik reagieren, wie auf Nahrungspartikel, natürlich vorkommende Nicht-Nahrungspartikel wie Sand aber deutlich ablehnen. Im Gegensatz zum natürlichen Futter wurde das meiste Mikroplastik jedoch von den Korallen beim Fressen wieder abgestoßen. Allerdings kann Mikroplastik durch biotische Faktoren wie einen Biofilm auf den Partikeln maskiert werden, so dass diese Teilchen eher einen Fressreiz auslösen.
Ein weiteres Ergebnis dieser Studie: Die konzentrationsabhängige Risikobewertung hat ergeben, dass die Korallen bei den derzeitigen durchschnittlichen Konzentrationen in der Umwelt wahrscheinlich nicht durch Mikroplastik gefährdet sind. Dr. Reichert, Erstautorin auch dieser Studie, erläutert: „Insbesondere ‚Vielfresser‘ wie die Ananaskoralle Blastomussa merleti und die auch durch andere Stressoren gefährdete Pfötchenkoralle könnten dennoch empfindlich auf die zunehmende Verschmutzung der Meere durch Mikroplastik reagieren. Bei der Pfötchenkoralle konnten wir bereits nachweisen, dass sie besonders stark durch Kunstfasern und Reifenabrieb beeinflusst wird.“
Originalpublikation:
Jessica Reichert, Vanessa Tirpitz, Katherine Plaza, Elisabeth Wörner, Luisa Bösser, Susanne Kühn, Sebastian Primpke, Patrick Schubert, Maren Ziegler, Thomas Wilke: Common types of microdebris affect the physiology of reef-building corals. Science of The Total Environment,
Volume 912, 2024, https://doi.org/10.1016/j.scitotenv.2023.169276
Jessica Reichert, Vanessa Tirpitz, Mareike Oponczewski, Chieh Lin, Niklas Franke, Maren Ziegler, Thomas Wilke: Feeding responses of reef-building corals provide species- and concentration-dependent risk assessment of microplastic. Science of The Total Environment,
Volume 913, 2024, https://doi.org/10.1016/j.scitotenv.2023.169485

14.02.2024, Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung
Die Rolle von Quallen als Nahrungsquelle im arktischen Winter
Die Arktis verändert sich unter dem Klimawandel rasend schnell. Nicht nur die steigende Lufttemperatur setzt ihr zu, auch warmes Wasser aus dem Atlantik, das mehr und mehr einfließt, verändert zunehmend die Strukturen und Funktionen der Ökosysteme. Denn mit diesem gelangen immer häufiger Arten aus wärmeren Gebieten in die Arktis, wie zum Beispiel Quallen. Forschende des AWI konnten nun erstmals mithilfe von DNA-Metabarcoding nachweisen, dass diese Quallen Flohkrebsen auf Spitzbergen als Nahrung während der Polarnacht dienen. Ihre Ergebnisse stellen sie in einem aktuellen Artikel im Fachmagazin Frontiers in Marine Science vor (doi: 10.3389/fmars.2024.1327650).
In den letzten Jahren hat salzhaltiges, warmes Wasser aus dem Atlantik immer häufiger seinen Weg in die europäische Arktis gefunden. Auch die norwegische Inselgruppe Spitzbergen steht unter dem Einfluss dieser „Atlantifizierung“: Der Kongsfjord an der Westküste ist in ein atlantisches Regime übergegangen; die Wassertemperatur in der Polarnacht (November bis Februar) hat sich um etwa 2 Grad Celsius pro Jahrzehnt erwärmt. Diese Veränderungen führen auch zu biotischen Verschiebungen, denn mit dem warmen Atlantikwasser strömen auch Arten aus wärmeren Gewässern in die Arktis. „Besonders einige Quallenarten neigen dazu, sich polwärts und in der Arktis auszubreiten“, sagt Charlotte Havermans, Leiterin der Nachwuchsgruppe ARJEL am Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI). „Als wir in der Polarnacht 2022 im Kongsfjord waren, wimmelte es zu unserer Überraschung im Fjord nur so vor Quallen verschiedener Arten und Lebensstadien. Sie schienen im Winter das dominierende Zooplankton zu sein.“
In der Vergangenheit galten Quallen als trophische Sackgasse in marinen Nahrungsnetzen, aber aktuelle Studien legen nahe, dass sie wichtige Beutetiere für wirbellose Meerestiere und Fische sind. „Daher fragten wir uns, ob die Quallen im Kongsfjord auch als Nahrung für andere Organismen dienen, insbesondere in der dunklen Jahreszeit der Polarnacht, in der andere Nahrungsquellen begrenzt sind“, sagt Havermans. Um diese Frage zu beantworten, untersuchte sie mit Annkathrin Dischereit aus ihrem Team den Mageninhalt verschiedener Flohkrebsarten (Amphipoden). Über einen Monat lang haben sie während der Polarnacht mit Köderfallen und Handnetzen regelmäßig Proben von vier verschiedenen Amphipoden-Arten gesammelt (Gammarus oceanicus, G. setosus, Orchomenella minuta and Anonyx sarsi).
Quallen sind fester Bestandteil der Ernährung von Flohkrebsen während der Polarnacht
Mit Hilfe von DNA-Metabarcoding haben die AWI-Forschenden das Nahrungsspektrum der kleinen Krebstiere bestimmt. Diese hochmoderne Methode kann kurze Genfragmente im Magen aufspüren, die dann mit genetischen Referenzdatenbanken verglichen werden, um die Beutetierarten zu identifizieren, zu denen die Fragmente gehören. „Wir fanden eine große Anzahl von Quallen-Sequenzen in den Mägen der Amphipoden, von den größten Quallen im Fjord bis hin zu winzigen Nesseltierchen“, erklärt Charlotte Havermans. Über das DNA-Metabarcoding konnte das AWI-Team auch bei schon stark verdautem Mageninhalt nachweisen, daß Quallen und andere Organismen als Nahrung dienen. „Wir konnten zum ersten Mal zeigen, dass sich Amphipoden-Aasfresser von den Überresten von Quallen ernähren. Das wurde bisher nur in experimentellen Umgebungen gezeigt.“ Alle untersuchten Arten ernährten sich sowohl pflanzlich als auch tierisch. Neben Quallen waren Krustentiere und Makroalgen weitere wichtige Bestandteile der Ernährung einiger Arten, während Fischarten wie der Polardorsch oder der Schneckenfisch eine wichtige Rolle bei anderen Arten spielt. Es bleibt zu klären, ob sich die Amphipoden von Eiern, Larven, Aas oder Kot der Fische ernähern. Auch muss weiter erforscht werden, ob Quallen nur im Winter als „Überlebensnahrung“ dienen oder in allen Jahreszeiten zur regulären Beute dieser Organismen gehören. „Wir sind immer davon ausgegangen, dass der Nährwert von Quallen gering ist, aber das ist bisher nur für weniger als eine Handvoll Arten erforscht und hängt auch von den untersuchten Geweben ab.“
Diese Ergebnisse bieten komplett neue Einblicke in das arktische Nahrungsnetz während der Polarnacht und sind der erste natürliche, nicht-experimentelle Nachweis für die Rolle von Quallen in diesen Netzen. „Die florierende, vielfältige Quallen-Gemeinschaft, die im Winter im Kongsfjord vorkommt, wird eindeutig als Nahrungsquelle genutzt“, fasst Charlotte Havermans die Ergebnisse zusammen. „Bisher wussten wir noch nichts über die Rolle von Quallen als Beutetiere in diesem Gebiet. Es war auch nicht bekannt, dass sich beispielsweise die Art Gammaridea überhaupt von Quallen ernährt, nicht in der Arktis, aber auch nicht anderswo.“ Nun stellt sich die Frage, ob dies nur für die Polarnacht gilt, wenn das Nahrungsangebot begrenzt ist. Hieran will die Nachwuchsgruppe ARJEL am AWI weiterforschen. Denn: „Quallen könnten zu den Gewinnern des Klimawandels gehören, die sich bei steigenden Temperaturen weiter ausbreiten werden. Auch für die Arktis gehen wir davon aus, dass Quallen bei weiterer Erwärmung häufiger vorkommen werden“, so Havermans. Dadurch könnte auch ihre Rolle im Nahrungsnetz immer wichtiger werden.
Bislang war das Verständnis hierzu allerdings begrenzt, insbesondere in den Polarregionen. „Mit dieser Studie decken wir entscheidende Verbindungen im arktischen Nahrungsnetz auf, die bisher nicht bekannt waren. Das ist elementar, denn wir müssen verstehen, wie sich Quallen in Nahrungsnetze einfügen und sich in einer Arktis verbreiten, die sich rasend schnell wandelt. Das gilt auch für die angrenzenden Schelfmeere, da in diesen Gebieten zehn Prozent des weltweiten Fischereiwesens stattfinden.“
Originalpublikation:
Dischereit A, Beermann J, Lebreton B, Wangensteen OS, Neuhaus S and Havermans C (2024) DNA metabarcoding reveals a diverse, omnivorous diet of Arctic amphipods during the polar night, with jellyfish and fish as major prey. Frontiers in Marine Science. doi: 10.3389/fmars.2024.1327650

14.02.2024, Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei (IGB)
Fische der oberen Donau zukünftig genauso gefährdet wie in der Vergangenheit, nur der Grund ist ein anderer
Forschende unter der Leitung des Leibniz-Instituts für Gewässerökologie und Binnenfischerei (IGB) und des Deutschen Zentrums für integrative Biodiversitätsforschung (iDiv) haben die Gefährdung von 48 heimischen Fischarten im oberen Donaueinzugsgebiet durch vergangene und mögliche zukünftige Umweltveränderungen untersucht. Sie zeigen, dass Fische in der Vergangenheit besonders empfindlich auf Veränderungen des Durchflusses reagiert haben, während in Zukunft höhere Temperaturen die größte Bedrohung darstellen. Die Gefährdung wird mindestens gleich hoch bleiben. Sie könnte aber wahrscheinlich durch die Wiederanbindung ehemaliger Auen und eine verbesserte Durchgängigkeit abgepuffert werden.
Süßwasser gehört zu den am stärksten gefährdeten Lebensräumen der Erde: Fast ein Drittel aller Süßwasserarten ist vom Aussterben bedroht, ein Viertel aller bekannten Süßwasserfischarten. Fische in Fließgewässern reagieren empfindlich auf Veränderungen der Wasserführung und der Temperatur. Der Durchfluss wurde in der Vergangenheit weltweit durch menschliche Eingriffe wie Begradigungen und Dämme verändert, was sich negativ auf das Vorkommen und die Vielfalt von Fischen ausgewirkt hat. Bei der Bewertung des Schutzbedarfs der Süßwasserbiodiversität unter zukünftigen Klimawandelszenarien ist es wichtig, die oft dramatischen historischen Umweltveränderungen und ihre Auswirkungen auf Arten oder Populationen als Vergleich heranzuziehen.
„Die Fischgemeinschaften im oberen Donaueinzugsgebiet sind in den letzten 200 Jahren durch massive Veränderungen des Wasserhaushalts bereits stark unter Druck geraten. Unsere Ergebnisse zeigen, dass die Anfälligkeit der Arten in der Vergangenheit vor allem auf anthropogene Eingriffe wie Flussbegradigungen zurückzuführen ist. Dies hat den Fluss stark beeinträchtigt. Die potenzielle Gefährdung der Fische in der Zukunft ist hauptsächlich auf die Temperatur zurückzuführen“, so Dr. Martin Friedrichs-Manthey, Hauptautor der Studie. Er ist Wissenschaftler an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, Gastwissenschaftler am Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ) und arbeitet am Deutschen Zentrum für integrative Biodiversitätsforschung (iDiv) in Halle-Jena-Leipzig.
Zukünftige Veränderungen für Fische in der Donau: Mindestens die gleiche Gefährdung wie in der Vergangenheit:
Das Forschungsteam untersuchte die Anfälligkeit von 48 einheimischen Fischarten für zukünftige Klimaszenarien. Beim wahrscheinlichsten Szenario stellten sie eine Zunahme der Anfälligkeit der Fische fest. Die Studie zeige auch, dass sich die zukünftigen Umweltbedingungen für Fischarten in Fließgewässern temperaturbedingt in ähnlichem Maße verändern werden wie die hydrologischen Veränderungen durch Flussregulierung in der Vergangenheit. „Dieses Ergebnis hat uns überrascht, denn wir gingen davon aus, dass die zukünftigen Klimaveränderungen nicht zu einer so hohen Gefährdungseinschätzung führen würden, wie die massiven Regulierungen der Donau in der Vergangenheit“, sagt der IGB-Forschungsgruppenleiter Dr. Sami Domisch, der die Studie geleitet hat.
Sünden der Vergangenheit an der oberen Donau: 15 Prozent der Länge verloren, 90 Prozent der Ufer eingedämmt:
Die Regulierung der Donau für den Hochwasserschutz und die Binnenschifffahrt begann bereits Ende des 16. Jahrhunderts. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts verlor der deutsche und österreichische Hauptstrom durch Begradigungen 15 Prozent seiner Länge, bis heute sind mehr als 90 Prozent der Ufer eingedeicht. Und mehr als 70 Wasserkraftwerke allein im Hauptstrom fragmentieren die obere Donau. Diese strukturellen Veränderungen haben die einheimischen Fischarten in Anzahl und Vielfalt dezimiert. So beispielsweise die Störe: Sechs verschiedene Arten waren früher in der Donau heimisch. Heute werden fünf davon als kritisch gefährdet eingestuft, eine ist bereits ausgestorben.
Schäden an den Fischgemeinschaften ließen sich durch Auenanbindung und bessere Durchgängigkeit abpuffern:
Die Forschenden weisen in der Studie jedoch auch auf Lösungswege hin: „Andere Studien an Wirbellosen oder Meeresfischen haben schon gezeigt, dass eine Verringerung der Umweltbelastungen – beispielsweise durch eine Verbesserung der Wasserqualität – die Widerstandsfähigkeit gegenüber den erwarteten klimatischen Belastungen fördern kann. Das wäre laut unserer Einschätzung auch an der Donau möglich“, sagt Dr. Sami Domisch.
Die Autor*innen identifizieren die Wiederherstellung von Auen als wirksame Maßnahme zur Erhaltung der Fischgemeinschaften. Andere Studien haben gezeigt, dass im oberen Donaueinzugsgebiet etwa ein Viertel der historisch verfügbaren und heute abgeschnittenen Auenfläche ein gutes Potenzial für Renaturierungsmaßnahmen haben. In Anbetracht ansteigender Temperaturen könnte das obere Donaueinzugsgebiet mit seinen vielen Quellgebieten zudem Temperaturrefugien für sensible Kaltwasserfische bieten. Dafür muss die Durchgängigkeit aber verbessert werden, damit Arten auch dorthin gelangen können
Wissenschaftliche Herangehensweise:
Die Forschenden nutzten eine 300-jährige Zeitreihe hydrologischer und klimatischer Daten, um die Anfälligkeit von 48 einheimischen Fischarten im oberen Donaueinzugsgebiet für vergangene und potenzielle zukünftige Umweltveränderungen zu untersuchen. Das Forschungsgebiet reichte von der Donauquelle bis nach Wien und umfasste eine Fläche von über 100.000 Quadratkilometern und etwa 1000 Kilometer des Donau-Hauptstroms. Sie berechneten auf Grundlage modellierter und beobachteter hydrologischer und klimatischer Daten für den Zeitraum von 1800 bis 2100 Schätzungen der artspezifischen Gefährdung. Sie verglichen die geschätzte Anfälligkeit der Arten zwischen zwei historischen Zeitintervallen (1800-1830 und 1900-1930) und einem zukünftigen Zeitintervall (2070-2100) für zwei verschiedene Klimaszenarien. Darüber hinaus ermittelten sie die wichtigsten Umweltfaktoren für die Gefährdung von Arten und ihre Veränderungen in den letzten 200 Jahren und in den prognostizierten 100 Jahren in der Zukunft. Die heutigen Umweltbedingungen und damit die modellierte Lebensraumeignung der Fischarten wurde als Basiswert gesetzt.
Originalpublikation:
Friedrichs-Manthey, M., Langhans, S. D., Borgwardt, F., Hein, T., Kling, H., Stanzel, P., Jähnig, S. C., & Domisch, S. (2024). Three hundred years of past and future changes for native fish species in the upper Danube River Basin—Historical flow alterations versus future climate change. Diversity and Distributions, 00, 1–14. https://doi.org/10.1111/ddi.13808

14.02.2024, Veterinärmedizinische Universität Wien
Quecksilber gefährdet Giftfrosch-Nachwuchs in Amazonien
Quecksilber ist ein Umweltschadstoff, der aufgrund seiner Toxizität und der Risiken für wild lebende Tiere und die menschliche Gesundheit weltweit Anlass zu Besorgnis gibt – das betont auch die Weltgesundheitsorganisation WHO. Das Umweltgift findet sich gerade auch an abgelegenen, naturbelassenen Orten wie dem Amazonas und gefährdet die dortige Tierwelt. Das zeigt eine aktuelle internationale Studie unter Leitung des Konrad-Lorenz-Instituts für Vergleichende Verhaltensforschung (KLIVV) der Veterinärmedizinischen Universität Wien anhand des Giftfrosches Dendrobates tinctorius.
Der handwerkliche Goldabbau (Artisanal and small-scale gold mining; ASGM) ist zu einer großen Bedrohung für die südamerikanischen Wälder geworden. Diese Technik der Goldgewinnung ist eine wesentliche Ursache für die Entwaldung in kleinem Maßstab und der größte Verursacher von Quecksilber-Emissionen in die Atmosphäre und in Süßwassersysteme weltweit. Frühere Studien haben bereits die Auswirkungen der Quecksilber-Akkumulation auf verschiedene aquatische Ökosysteme und Organismen aufgezeigt. Die Folgen für andere Systeme wie kleine wasserspeichernde Pflanzenstrukturen (Phytotelmata) und die darin lebenden Organismen blieben jedoch bisher unbemerkt.
Aquatische Kinderstuben von Dendrobates tinctorius im Fokus
Ein vom KLIVV der Vetmeduni geleitetes Forschungsteam (Studien-Erstautorin Lia Schlippe-Justicia; Studien-Letztautorin Bibiana Rojas) untersuchte diese Thematik nun in Französisch-Guyana am dort beheimateten Pfeilgiftfrosch Dendrobates tinctorius. Im Fokus standen dabei Phytotelmata. Dies sind kleine Tümpel, beispielsweise im Wurzelbereich von Pflanzen, sowie andere aquatische Mikroumgebungen, z. B. Wasser in Dosen, die von Menschen weggeworfen wurden.
Hohe Quecksilber-Belastungen von klein auf
In diesen typischen Aufzuchtstätten der Kaulquappen von Dendrobates tinctorius fanden die Forscher:innen hohe Quecksilber-Konzentrationen. „In 17 % der Fälle konnten wir sehr hohe Quecksilber-Konzentrationen vor allem in der Nähe zu bekannten ASGM-Standorten nachweisen. Allerdings konnten wir keinen Einfluss der Quecksilber-Konzentration auf die Anzahl der Kaulquappen in einem bestimmten Tümpel feststellen“, so Lia Schlippe-Justicia. Kaulquappen wurden zudem in Tümpeln mit extrem hohen Konzentrationen von bis zu 8,68 ppm gefunden, was laut Schlippe darauf schließen lässt, dass „D. tinctorius-Väter Tümpel mit hohen Quecksilber-Konzentrationen für die Kaulquappenablage nicht zu meiden scheinen.“
Negative Auswirkungen auf die körperliche Entwicklung
Eine deutlich negative Auswirkung auf die Amphibien konnte das Forschungsteam ebenfalls dokumentieren, wie Bibiana Rojas berichtet: „Kaulquappen wiesen in späteren Entwicklungsstadien eine schlechtere Körperkondition auf, wenn sie in Tümpeln mit höheren Quecksilber-Konzentrationen aufwuchsen. Dies unterstreicht die Notwendigkeit weiterer Feld- und experimenteller Studien, die die Auswirkungen der Quecksilber-Kontamination auf die Entwicklung und das Verhalten der Kaulquappen sowie die allgemeine Erhaltung der biologischen Vielfalt in Amazonien untersuchen.“
Originalpublikation:
Der Artikel „Poison in the nursery: Mercury contamination in the tadpole-rearing sites of an Amazonian frog“ von Lia Schlippe-Justicia, Jérémy Lemaire, Carolin Dittrich, Martin Mayer, Paco Bustamante und Bibiana Rojas wurde in „Science of the Total Environment“ veröffentlicht. https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S0048969723080804

15.02.2024, Staatliche Naturwissenschaftliche Sammlungen Bayerns
Den Artgrenzen auf der Spur: Hybridisierungsmuster von zwei Schlangenarten liefern neue Einsichten
Was ist eigentlich eine Art? Diese uralte Frage lässt sich bis heute nicht universell beantworten, aber die Erforschung konkreter Fallbeispiele trägt zu einem besseren Verständnis bei. Ein Forschungsteam der Zoologischen Staatssammlung München (SNSB-ZSM) und der Senckenberg Naturhistorischen Sammlungen Dresden hat die Hybridzone von zwei Ringelnatterarten im bayerischen Priental untersucht. Obwohl sich diese Arten fruchtbar kreuzen können, beschränkt sich die Hybridzone im Wesentlichen auf eine Breite von nur wenigen Kilometern. Die Studie ist heute in der Fachzeitschrift Salamandra – German Journal of Herpetology erschienen.
Wenn die Verbreitungsgebiete von zwei, nahe verwandten Tierarten aneinanderstoßen, bilden sie an diesen Grenzen oft Hybridzonen aus, in denen sich beide Arten miteinander kreuzen. In manchen Fällen können sich deren Nachkommen sogar weiter fortpflanzen. Diese Vermischung ist allerdings oft räumlich sehr begrenzt. Schmale Hybridzonen deuten darauf hin, dass die Vermischung der beiden Arten erheblich eingeschränkt ist und können als Beleg für das Vorhandensein von Artgrenzen dienen.
Das Forschungsteam aus München und Dresden hat in einer neuen Studie das Gebiet, in dem die Italienische Barrenringelnatter (Natrix helvetica sicula) und die Ringelnatter (Natrix natrix) aufeinandertreffen, genauer untersucht. Um die Hybridzone der beiden Schlangenarten genauer zu verstehen, untersuchte das Team zwei genetische Marker (DNA aus den Mitochondrien und Mikrosatelliten aus dem Zellkern) und die Zeichnungsmuster auf Kopf und Körper von 49 Nattern aus dem Priental. Dabei stellte sich heraus, dass im oberen Priental vor allem reine oder fast reine Barrenringelnattern vorkommen, im unteren Priental zum Chiemsee hin dagegen reine oder fast reine Ringelnattern.
„Die hauptsächliche Hybridisierungszone liegt in einem nur vier Kilometer breiten Abschnitt um den Ort Aschau im zentralen Priental und ist damit deutlich enger als wir erwartet hatten“ sagt Erstautor Adrian Neumann, der diesem Thema seine Bachelorarbeit an der Zoologischen Staatssammlung München (SNSB-ZSM) gewidmet hat.
„Unsere genetischen Datensätze und die Zeichnungsmuster der Nattern bestätigen unabhängig voneinander eine extrem enge Hybridzone. Das deutet auf eine starke negative Selektion der Hybriden und eine Stabilisierung der Hybridzone durch Umweltgradienten hin. Die Hybriden könnten zum Beispiel weniger lebensfähige Nachkommen haben“, ergänzt Prof. Uwe Fritz von den Senckenberg Naturhistorischen Sammlungen Dresden.
„Unsere Ergebnisse bestätigen sehr deutlich, dass sich Ringelnatter und Barrenringelnatter fruchtbar miteinander fortpflanzen können. Dennoch kommt es hier nicht zu einer großflächigen, diffusen Vermischung beider Formen. Das zeigt uns einmal mehr, dass es sich hier um zwei verschiedene Arten handelt“ sagt Dr. Frank Glaw, Kurator für Reptilien und Amphibien an der Zoologischen Staats-sammlung München (SNSB-ZSM). „Bis heute wird in der Schule oft noch das biologische Artkonzept gelehrt, wonach zwei Individuen zu einer Art gehören, wenn sie fruchtbare Nachkommen haben können. Doch dieses Konzept ist längst überholt. Eisbären und Grizzlybären, aber auch viele Katzenarten wären beispielsweise nach dem biologischen Artkonzept streng genommen keine unterschiedlichen Spezies, denn in der Natur kommt es immer wieder zu fruchtbaren Hybridisierungen zwischen diesen Arten.“
Aber wie sonst kann man Arten definieren? „Eine mögliche Antwort ist, dass sich Arten im Evolutionsverlauf weitgehend unabhängig voneinander entwickeln, wodurch sie sich durch eine Kombination von genetischen und morphologischen Unterschieden und oft auch über ein relativ scharf begrenztes Verbreitungsgebiet mit engen Hybridzonen definieren lassen“, resümiert Prof. Uwe Fritz.
Diese Kriterien erfüllt auch die Barrenringelnatter (Natrix helvetica), die bis zum Jahr 2017 noch als Unterart der weit verbreiteten Ringelnatter (Natrix natrix) betrachtet wurde. Frühere Untersuchungen hatten bereits gezeigt, dass die Italienische Barrenringelnatter nach der letzten Eiszeit die Alpen erfolgreich überquert hat, dann aber offenbar am nördlichen Alpenrand auf die Ringelnatter traf und von ihr gestoppt wurde.
Originalpublikation:
Neumann, A., M. Asztalos, U. Fritz & F. Glaw (2024): A spotlight on the hybrid zone of grass snakes (Natrix helvetica sicula and Natrix natrix) in southern Bavaria – the Prien Valley. – Salamandra, Ger-man Journal of Herpetology 60 (1): 17-28.
http://www.salamandra-journal.com/index.php/contents/2024-vol-60/2139-neumann,-a…

15.02.2024, Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung
Kriebelmücken: Zunahme der Blutsauger in Deutschland erwartet
Forschende der Goethe-Universität und des Senckenberg Biodiversität und Klima Forschungszentrums in Frankfurt haben erstmalig die räumlichen Verbreitungsmuster von Kriebelmücken in Hessen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz und Sachsen modelliert. In der im renommierten Fachjournal „Science of the Total Environment“ erschienenen Studie zeigt das Forschungsteam, dass in Deutschland Kriebelmücken in drei Gruppen eingeteilt werden können, die sich in ihren Verbreitungsmustern und ökologischen Ansprüchen unterscheiden. Die Forschenden warnen davor, dass insbesondere die medizinisch relevanten Arten durch den voranschreitenden globalen Klima- und Landnutzungswandel vermehrt auftreten könnten.
Sie sind nur zwei bis sechs Millimeter groß, ihr Aussehen ähnelt dem harmloser Stubenfliegen, doch ihre Stiche sind sehr unangenehm: Kriebelmücken (Simuliidae). Die flugfähigen und überwiegend schwarzen Insekten gehören zu den „Poolsaugern“: Weibliche Tiere raspeln mit scharfen „Zähnchen“ die Haut des Wirts auf und nehmen anschließend den sich dort bildenden Blutstropfen zu sich. „Durch die von den Mücken in die Wunde eingetragenen gerinnungshemmenden und betäubenden Substanzen können die Stiche schwerwiegende allergische Reaktionen auslösen, oder es kann zu bakteriellen Sekundärinfektionen kommen“, erklärt Prof. Dr. Sven Klimpel vom Senckenberg Biodiversität und Klima Forschungszentrum, der Goethe-Universität Frankfurt, dem LOEWE-Zentrum für Translationale Biodiversitätsgenomik (TBG) und dem Fraunhofer IME Gießen und fährt fort: „Kriebelmücken sind zudem vektorkompetent, also in der Lage, durch ihren Stich Infektionskrankheiten auslösende Erreger zu übertragen.“ Der bekannteste durch Kriebelmücken übertragene Erreger ist der auf dem afrikanischen Kontinent heimische Nematode Onchocerca volvulus, welcher die sogenannte Onchozerkose („Flussblindheit“) auslösen kann. Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation erlitten durch die Krankheit weltweit bereits über 1,15 Millionen Menschen einen Sehverlust.
Erstautorin Sarah Cunze von der Goethe-Universität Frankfurt erläutert: „Etwa 98 Prozent der insgesamt 2000 auf allen Kontinenten – mit Ausnahme der Antarktis – vorkommenden Kriebelmückenarten ernähren sich von Blut. Dies ist für die Entwicklung ihrer Eier unerlässlich. In Deutschland wurden bisher 57 Kriebelmückenarten beschrieben. Anhand von 1.526 Datensätzen aus Hessen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz und Sachsen haben wir die zwölf häufigsten dort heimischen Arten in drei biogeografische Gruppen unterteilt: Arten, die an Gewässeroberläufen leben, über verschiedene Landschaften weit verbreitete Arten und Tieflandarten.“
Für die drei Gruppen sagen die Forschenden in ihrer aktuellen Studie unterschiedliche Populationsentwicklungstrends unter dem voranschreitenden globalen Klima- und Landnutzungswandel voraus: Die Gruppe der Arten mit einem Verbreitungsschwerpunkt in den Gewässeroberläufen wird aufgrund steigender Temperaturen und zunehmender chemischer Belastung der Gewässer als potentiell gefährdet eingeschätzt. Arten der dritten Gruppe hingegen, zu denen insbesondere auch veterinär- und humanmedizinisch relevante Kriebelmückenarten zählen, zeichnen sich durch breitere Nischen und somit eine höhere Toleranz gegenüber anthropogenen Veränderungen aus. Diese Arten könnten durch den anthropogenen Wandel gefördert werden und ausgehend von ihrem bisherigen Verbreitungsschwerpunkt in größeren Flüssen des Tieflandes in Zukunft häufiger auftreten. Medizinisch relevante Arten zeichnen sich durch ein besonders aggressives Stechverhalten gegenüber Säugetieren und Menschen aus und treten häufig in sehr hoher Zahl auf. „Nachbarländer wie beispielsweise Polen reagieren auf dieses Massenauftreten, welches durch einen synchronisierten Schlupf der aquatisch lebenden Larven gefördert wird, damit, dass Vieh in Gebieten mit bekanntermaßen hohem Vorkommen während der betreffenden Zeiträume nur im Stall gehalten oder nur nachts auf die Weide gelassen wird. Zukünftige höhere Temperaturen könnten zu verkürzten Entwicklungszeiten, zu mehr Generationen pro Jahr und damit insgesamt zu einem häufigeren Auftreten von Kriebelmücken führen“, fügt Cunze hinzu.
In weiteren Arbeiten möchte das Team seine Ergebnisse mit empirischen Tests untermauern sowie durch Labortests klären, inwieweit Simuliiden-Arten in der Lage sind, bestimmte Infektionskrankheiten auslösende Erreger unter den derzeit in Europa herrschenden Bedingungen zu übertragen. „Die aus den Ergebnissen unserer Studie abgeleiteten Entwicklungstrends für die medizinisch relevanten Kriebelmückenarten sind ein Beispiel dafür, wie vektorübertragene Infektionskrankheiten durch den globalen Wandel gefördert werden können. Unsere Modellierungsansätze und -ergebnisse helfen uns dabei, Monitoring und Maßnahmenprogramme für vektorkompetente Arten effizient zu gestalten und Vorhersagen über zukünftige Entwicklungen abzuleiten“, fasst Klimpel zusammen.
Originalpublikation:
Sarah Cunze, Jonas Jourdan, Sven Klimpel (2024): Ecologically and medically important black flies of the genus Simulium: Identification of biogeographical groups according to similar larval niches, Science of The Total Environment, Volume 917, 2024,
170454, https://doi.org/10.1016/j.scitotenv.2024.170454

15.02.2024, Deutsche Wildtier Stiftung
Kröten, Frösche und Molche gehen jetzt in ganz Deutschland auf Partnersuche
Wer sich an Geschwindigkeitsbegrenzungen hält und bremsbereit fährt, kann sie schützen
Das Wetter treibt sie aus ihren Verstecken: Bei nasser Witterung und einer nächtlichen Bodentemperatur von mindestens fünf Grad erwachen Frösche, Kröte und Teichmolche aus der Winterstarre und beginnen die Wanderung zu ihren Laichgewässern. Die sind durch Dauerregen und Hochwasser derzeit gut gefüllt.
Meist sind die Amphibien in der Dämmerung unterwegs, und ihre Mission ist gefährlich: Berufsverkehr auf den Straßen, schweres land- und forstwirtschaftliches Gerät auf Feldwegen und sogar Motorräder können ihnen zum Verhängnis werden. „Fahrerinnen oder Fahrer können die gräulich-grün-braunen Lurche im Halbdunklen kaum erkennen, geschweige denn rechtzeitig abbremsen“, sagt Sophia Lansing, Biologin bei der Deutschen Wildtier Stiftung. Die meisten Tiere sterben allerdings nicht allein durch Überfahren – vielmehr bringt der Strömungsdruck der vorbeirauschenden Fahrzeuge die Lungen und andere Organe der Tiere zum Reißen oder Platzen. Die strikte Einhaltung von Tempo 30 entlang gekennzeichneter Krötenwanderwege schützt die Tiere davor.
Viele Ehrenamtliche beginnen jetzt mit dem Aufstellen mobiler Schutzzäune entlang von Straßen, die in der Nähe von Laichgebieten verlaufen. Entlang der Zäune graben sie Eimer in den Boden ein. Laufen die Amphibien auf der Suche nach einer Querungsmöglichkeit am Zaun entlang, fallen sie unbeschadet in den Eimer und können sicher über die Straße getragen werden. Auch Krötentunnel helfen den Tieren, die Straßen unbeschadet zu unterwandern. Sie sind allerdings teurer und aufwendig zu bauen.
Oft treffen Kröten- oder Froschmännchen bereits auf dem gefährlichen Weg auf ein Weibchen – und fackeln dann nicht lange: Sie springen auf den Rücken des Weibchens und lassen sich von ihm huckepack zum Laichgewässer tragen. Teichmolchmännchen legen sich ein Hochzeitskleid zu, sobald sie im Gewässer sind: die sogenannte Wassertracht, ein kleiner Kamm, der sie wie einen Minidrachen aussehen lässt.
Noch stehen Erdkröte (Bufo bufo), Teichfrosch (Pelophylax esculentus) und Teichmolch (Lissotriton vulgaris) als „ungefährdet“ auf der Roten Liste der Amphibien in Deutschland, doch die Bestände gehen aktuell zurück. „Zerschneidung der Landschaften, intensive Land- und Forstwirtschaft, Flächenversiegelung sowie eingeschleppte Krankheiten sind die größten Gefahren. Aber auch der Klimawandel mit den trockenen Sommern bedroht die kleinen Lurche“, sagt Lansing. Die Deutsche Wildtier Stiftung schützt Kröte, Frosch und Lurch und viele andere bedrohte Arten auf ihren Flächen durch Wiedervernässung von Flächen und Renaturierung von Gewässern. Sie leistet damit einen Beitrag zur Umsetzung des Zwei-Prozent-Wildnisziels der Bundesregierung und zum Pariser Klimaabkommen.

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