Neues aus Wissenschaft und Naturschutz

04.02.2024, Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung (IZW) im Forschungsverbund Berlin e.V.
Das infektiöse Gibbon-Affen-Leukämie-Viren kolonisiert das Genom eines Nagetiers in Neuguinea
Ein Forschungsteam beobachtet einen seltenen, aktuellen Fall von Retrovirus-Integration. Retroviren sind Viren, die sich vermehren, indem sie ihr genetisches Material in das Erbgut einer Wirtszelle einbauen. Ist die infizierte Zelle eine Keimzelle, kann das Retrovirus anschließend als „endogenes“ Retrovirus (ERV) an Nachkommen weitergegeben werden und sich als Teil des Wirtsgenoms in einer Art verbreiten. In Wirbeltieren sind ERVs allgegenwärtig und machen bis zu 10% des Wirtserbgutes aus. Die meisten Retrovirus-Integrationen sind sehr alt, teilweise abgebaut und inaktiv – ihre anfänglichen Auswirkungen auf die Gesundheit des Wirts sind durch Millionen von Jahren der Evolution nivelliert.
Ein Forschungsteam unter Leitung des Leibniz-Instituts für Zoo- und Wildtierforschung (Leibniz-IZW) entdeckte nun einen aktuell ablaufenden Fall der Retrovirus-Kolonisation in einem Nagetier aus Neuguinea, der Weißbauch-Mosaikschwanzratte. In der Fachzeitschrift „Proceedings of the National Academy of Sciences“ beschreiben sie diesen Fall als ein neues Modell für die Virus-Integration in Wirts-Erbgüter. Mit den dabei gemachten Beobachtungen können wir in Zukunft besser verstehen, wie Retroviren die Wirtsgenome umprogrammieren.
Retroviren, wie der Erreger von AIDS (HIV-1), integrieren sich während ihres Lebenszyklus in das Genom derjenigen Wirtszellen, die sie infizieren. Geschieht dies in der Keimbahn (Eizellen oder Zellen, die Spermien produzieren), kann das Retrovirus auf diesem Wege tatsächlich selbst ein Gen des Wirts werden. Dieser Prozess kommt offensichtlich häufig vor, da bis zu 10 Prozent der Genome der meisten Wirbeltiere aus den Überresten solcher uralten Infektionen bestehen. Eines der am besten untersuchten Modelle dieses Prozesses ist das Koala-Retrovirus (KoRV), das derzeit das Genom des Koalas kolonisiert. „Was mit dem Virus und dem Wirt während dieses Prozesses der Genomkolonisierung geschieht, wissen wir nicht genau, da die meisten derartigen Ereignisse vor Millionen von Jahren stattfanden und wir nur die übriggebliebenen ‚Fossilien‘ der alten Retroviren sehen“, erklärt Prof. Alex Greenwood, Leiter der Abteilung für Wildtierkrankheiten am Leibniz-IZW. „Auch wissen wir nicht, was der Wirt während des Übergangsprozesses gesundheitlich erlitten hat. Das Koala-Retrovirus (KoRV) ist ein Modell für diesen Prozess, der in Echtzeit abläuft und bei dem wir beobachten können, welche Auswirkungen die Genomkolonisierung für das Wirtstier hat.“
Es gibt nun einige Hinweise darauf, dass mit KoRV verwandte Viren in Nagetieren und Fledermäusen in Papua-Neuguinea und Indonesien zirkulieren. Eine Gruppe unter Leitung von Greenwood und Dr. Saba Mottaghinia, ehemalige Doktorandin in der Abteilung von Greenwood am Leibniz-IZW, untersuchte 278 Proben von sieben Fledermaus- und einer Nagetierfamilie, die nur in Australien und Neuguinea vorkommen, also dort endemisch sind. Die Forschenden haben ein Retrovirus entdeckt, das aktuell das Genom eines endemischen Nagetiers aus Neuguinea besiedelt, die Weißbauch-Mosaikschwanzratte (Melomys leucogaster). Dies ist nach KoRV erst das zweite Beispiel aus dieser Region für ein Retrovirus, das ein Genom kolonisiert und dabei weiterhin einen funktionellen viralen Lebenszyklus beibehält.
Die Gibbon-Affen-Leukämie-Viren (GALV), eine Gruppe von Viren, die in den 1960er Jahren in Gibbons und Wollaffen in einer Forschungseinrichtung in Thailand entdeckt wurden, sind sehr eng mit KoRV verwandt. Dies ist eine überraschende Verwandtschaft, da eine geografische Barriere, die so genannte Wallace-Linie, die Tierwelt Südostasiens von der Tierwelt Indonesiens, Papua-Neuguineas und Australiens trennt. Es gab jedoch Hinweise darauf, dass die Gibbons und Wollaffen in der Forschungseinrichtung mit Viren aus Papua-Neuguinea infiziert wurden. „Die Entdeckung von GALV-ähnlichen Viren bei Nagetieren und Fledermäusen in indonesischen und australischen Nagetieren und Fledermäusen aus Neuguinea deutet darauf hin, dass diese Viren und möglicherweise auch KoRV ihren Ursprung in Neuguinea haben“, sagt Greenwood, der das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanzierte Forschungsprojekt initiierte.
Das Leibniz-IZW-Team untersuchte gemeinsam mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern der Charité, des Robert-Koch-Instituts, des Max Delbrück Center, der Universität Nikosia, der California State University Fullerton, des South Australian Museum und des Museums Victoria 278 Fledermaus- und Nagetierproben aus Australien und Neuguinea auf KoRV und GALV-ähnliche Viren. Sie entdeckten ein GALV, das Woolly Monkey Virus (WMV) in einer Population der in Neuguinea heimischen Weißbauch-Mosaikschwanzratte (Melomys leucogaster). Bei fünf der Ratten aus zwei Sammelstellen Neuguineas war das WMV an der gleichen Stelle in das Genom integriert, was darauf hindeutet, dass es sich als Gen und nicht durch Infektion verbreitet hat. Es ist also bereits Teil des Genoms der Art geworden. In anderen Weißbauch-Mosaikschwanzratten-Populationen fehlte das Virus jedoch, ähnlich wie bei KoRV bei Koalas, wo alle im nördlichen Australien lebenden Koalas KoRV in ihrem Genom haben, während es im Süden Australiens Koalas gibt, die kein intaktes KoRV aufweisen. Das Virus, das nun als „complete Melomys Woolly Monkey Virus“ (cMWMV) bezeichnet wird, konnte in Labor-Experimenten Zelllinien infizieren, neue virale Nachkommen produzieren und war elektronenmikroskopisch als Viruspartikel sichtbar, die sich von der Zellmembran lösten. Das Virus war sogar empfindlich gegenüber dem antiretroviralen Medikament AZT.
„Das Virus weist alle Merkmale eines exogenen infektiösen Retrovirus auf, ist aber endogen. Es handelt sich wahrscheinlich um ein sehr junges Kolonisierungsereignis, viel jünger noch als KoRV“, sagt Mottaghinia, die Hauptautorin des Aufsatzes in den „Proceedings of the National Academy of Sciences“. Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass cMWMV ein neues Modell für die retrovirale Besiedlung des Wirtsgenoms ist, die wie bei KoRV gegenwärtig in Echtzeit erfolgt. Die Forschungsergebnisse legen außerdem nahe, dass GALVs wie WMV ihren Ursprung in der vielfältigen Fauna Neuguineas haben. Die Entdeckungen in Neuguinea sind mit Sicherheit noch nicht erschöpft. „Es gibt Hunderte von Arten aus dieser Region, die noch nicht untersucht wurden, was darauf hindeutet, dass noch viel mehr Viren und mögliche Modelle der Virenintegration in dieser Region existieren“, so Greenwood.
Das Autorenteam widmet die Studie Ken P. Aplin vom South Australian Museum, der leider im Laufe des Projekts verstorben ist.
Originalpublikation:
Mottaghinia S, Stenzel S, Tsangaras K, Nikolaidis N, Laue M, Müller K, Hölscher H, Löber U, McEwen GK, Donnellan SC, Rowe KC, Aplin KP, Goffinet C, Greenwood AD (2024): A Recent Gibbon Ape Leukemia Virus Germline Integration in a Rodent from New Guinea. Proceedings of the National Academy of Sciences 121 (6) e2220392121. DOI: 10.1073/pnas.222039212

07.02.2024, Julius-Maximilians-Universität Würzburg
Wie Luftverschmutzung der Bestäubung schadet
Bestäubung durch Insekten ist für viele Pflanzen lebensnotwendig. Vom Menschen verursachte Luftverschmutzung kann diesen sensiblen Prozess nachhaltig stören. Das zeigt ein Übersichtsartikel, der an der Uni Würzburg entstanden ist.
Die Bestäubung, also die Übertragung der Pollenkörner von den männlichen auf die weiblichen Organe, ist für einen Großteil von Pflanzen ein essenzieller Bestandteil der Reproduktion. Bei vielen dieser Pflanzen erfolgt diese Übertragung durch Insekten, die auf der Suche nach Nahrung sind – man spricht hier von Insektenbestäubung.
Der Einfluss des Menschen auf die Umwelt macht auch vor Bestäubung und Bestäuber nicht halt und kann nachhaltige Auswirkungen auf diese sensiblen Beziehungen haben.
Am Lehrstuhl für Tierökologie und Tropenbiologie der Julius-Maximilians-Universität Würzburg (JMU) werden genau solche Auswirkungen auf unsere Ökosysteme untersucht. Hier haben Dr. Laura Duque und Professor Ingolf Steffan-Dewenter nun in einem Übersichtsartikel die jüngsten Forschungsergebnisse aus dazu zusammengefasst, wie Luftschadstoffe – insbesondere Ozon, Dieselabgase und Feinstaub – die Bestäubung von Insekten gefährden könnten.
Veröffentlich wurde der Artikel im Fachjournal Frontiers in Ecology and the Environment.
Viele potenzielle Probleme
„Unser Artikel zeigt auf, dass Luftverschmutzung Bestäuber und Pflanzen vor viele Probleme stellen kann“, so Laura Duque. „Pflanzen könnten den Zeitpunkt ihrer Blüte verändern oder die Insekten etwa nicht mehr von den Blüten angezogen werden.“
Verschmutzte Luft kann außerdem zu einer erschwerten Orientierung bei den Bestäubern führen, die Qualität der Pollen mindern oder grundlegende Veränderung in der Zusammensetzung von Pflanzen- und Insektengemeinschaften hervorrufen.
„Weitere Forschungen zu den Auswirkungen von Luftschadstoffen auf die Insektenbestäubung sind wichtig, um die Wechselwirkungen zwischen Pflanzen und Bestäubern zu ermitteln, die am stärksten durch Luftverschmutzung gefährdet sind“, erklärt Laura Duque.
Insektenbestäubung und der Mensch
Zu den von Insekten bestäubten Pflanzen gehören auch die meisten Kulturpflanzen. Bei einigen von ihnen – zum Beispiel Kaffee, Erdbeeren oder Raps – würde eine ausbleibende Bestäubung durch Insekten zu enormen Ernteeinbrüchen führen.
„Mit dem Artikel wollen wir Aufmerksamkeit auf die Risiken, die Luftverschmutzung für Insektenbestäubung bedeuten kann, und auf die Wichtigkeit entsprechenden Schutzmaßnahmen lenken“, so die Biologin.
Neben ihrem Einfluss auf die Beziehungen zwischen Pflanzen und Bestäubern wirkt sich Luftverschmutzung auch auf die Interaktionen von Pflanzen mit anderen Organismen aus. In einem geplanten Projekt möchte Laura Duque untersuchen, wie sich die Ozonverschmutzung auf die Bestäubung und den Beutefang einer bestimmten Insektengruppe auswirkt: räuberische Schwebfliegen.
„Diese Schwebfliegen sind sehr interessant, da sie als erwachsene Tiere Pflanzen bestäuben, sich aber im Larvenstadium von Blattläusen ernähren und so die Blattlauspopulationen reduzieren können.“ Blattläuse wiederum sind bekannte Pflanzenschädlinge.
Originalpublikation:
Duque, Laura and Steffan-Dewenter, Ingolf: Air pollution: a threat to insect pollination. Frontiers in Ecology and the Environment. January 9th 2024, doi: doi:10.1002/fee.2701

08.02.2024, Universität Ulm
Varroamilben schaden Honigbienen doppelt – Parasitische Milben begünstigen die Verbreitung opportunistischer Viren
Die Varroamilbe schädigt Honigbienen nicht nur durch ihr Parasitentum, sondern auch, weil Varroa-infizierte Bienenvölker eine höhere Belastung mit schädlichen Viren aufweisen als nicht-infizierte Völker. In einer neuen Studie hat ein Forscher der Universität Ulm zusammen mit Kolleginnen und Kollegen aus Europa und den USA die Auswirkung der globalen Verbreitung der Varroamilbe auf die Honigbiene untersucht. Die Vermutung der Forschenden: die Varroamilbe verändert die Übertragbarkeit und Virulenz verschiedener Viren. Erschienen ist die Studie in der Fachzeitschrift Royal Society Open Science.
Die Varroamilbe schädigt Honigbienen doppelt: Nicht nur durch die negativen Auswirkungen der Milbe selbst, sondern weil Varroa-infizierte Bienenvölker eine höhere Belastung mit schädlichen Viren aufweisen als nicht-infizierte Völker. In einer neuen Studie hat ein Forscher der Universität Ulm zusammen mit Kolleginnen und Kollegen aus Europa und den USA die Auswirkung der globalen Verbreitung der Varroamilbe auf die virale Gemeinschaft der Honigbiene untersucht. Die Forschenden vermuten, dass die Varroamilbe die Übertragbarkeit und Virulenz verschiedener Viren verändert hat. Erschienen ist die Studie in der Januar-Ausgabe der Fachzeitschrift Royal Society Open Science.
Die Varroamilbe (Varroa destructor) gilt als eine Hauptursache des seit einigen Jahren immer wieder auftretenden seuchenartigen Bienensterbens, bei dem ganze Völker verenden und der für Imker einen schweren wirtschaftlichen Schaden darstellen kann. Der Milbenbefall schwächt die Honigbienen (Apis mellifera) auf verschiedenen Wegen: Durch das Aussaugen von Körperflüssigkeit verlieren bereits befallene Larven an Gewicht, die ausgeschlüpften Bienen sind kleiner als gesunde Tiere. Auch die erwachsenen Bienen werden durch die Parasiten geschädigt. Die befallenen Tiere besitzen eine deutlich verkürzte Lebensspanne, haben schlechtere Lernleistungen und kehren häufiger nicht in den Stock zurück. In Europa nahm die Zahl der Honigbienenvölker von über 21 Millionen (1970) auf 15,5 Millionen im Jahr 2007 ab. Erst ab den 1990er-Jahre ist der Rückgang deutlich angestiegen.
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler unter anderem aus Ulm, Halle-Wittenberg, Schweden, Norwegen, Frankreich, der Schweiz, Belgien und den USA untersuchten in ihrer globalen Studie die Verbreitung und die Häufigkeit von insgesamt 14 Viren in Bienenvölkern aus Skandinavien, den Britischen Inseln, Kanada und Neuseeland und das vor und nach der Ausbreitung der Varroamilbe. Die Daten stammen aus den Jahren 2010 bis 2013 und aus insgesamt 654 Kolonien, davon befand sich ein Drittel in einem Varro-freien Gebiet.
Die Forschenden haben festgestellt, dass das Vorhandensein der Varroamilbe in den untersuchten Bienenstöcken mit dem Auftreten von anderen Viren korreliert. Darunter sind beispielsweise das Flügeldeformationsvirus, dessen Verbreitung im Zusammenhang mit der Varroamilbe gut belegt ist. Aber auch das Schwarze Königinnenzellvirus, das Bienenköniginnenpuppen sterben lässt, sowie das Sackbrut-Virus, das Honigbienenlarven infiziert, konnten nachgewiesen werden. „Ein weiterer interessanter Aspekt unserer Studie ist, dass unsere große Probengröße und die verschiedenen Orte, an denen die Proben gesammelt wurden, uns dabei halfen, neue Assoziationen zwischen Viren und Varroamilben zu identifizieren, die zuvor nicht gefunden wurden“, so Dr. Vincent Doublet vom Institut für Evolutionsökologie und Naturschutzgenomik der Uni Ulm, der zusammen mit Dr. Melissa Oddie, damals an der Abteilung für Ökologie der Schwedischen Universität für Agrarwissenschaften in Uppsala, Erstautor der Studie ist.
Die Forschenden stellen die Hypothese auf, dass die Varroamilbe die verschiedenen Bienenviren beeinflusst haben muss. Diese Viren vermehren sich besonders gut in den befallenen Völkern und werden deshalb als opportunistische Viren bezeichnet. „Die Forschung hat sich in der Vergangenheit sehr stark auf das Flügeldeformationsvirus (engl. Deformed Wing Virus, DWV) konzentriert, vielleicht zu sehr, während andere Viren in den Schatten gestellt wurden. Der wichtigste Zweck unserer Studie war, ein gewisses Gleichgewicht herzustellen, damit auch andere Viren die nötige Aufmerksamkeit erhalten“, so Associate Professor Joachim De Miranda von der Schwedischen Universität für Agrarwissenschaften, der die Studie koordiniert hat.
Die Forschenden sind besorgt über diese Ergebnisse, zumal da es praktisch keine Varroamilben-freien Gebiete mehr auf der Welt gibt. 2022 erreichte die Varroamilbe Australien als letzten Kontinent mit Bienenhaltung. Außerdem geben die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zu bedenken, dass die Infektionen der Honigbienen auch auf die 20 000 Wildbienenarten und andere Bestäuber übergreifen könnten, die in der Landwirtschaft und in einheimischen Ökosystemen eine wichtige Rolle spielen.
Unterstützt wurden die Forschenden unter anderen durch das EU-Projekt BeeDoc – Bees in Europe and the Decline of Honeybee Colonies und durch das Deutsche Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft im Verbundprojekt FIT-BEE sowie durch weitere nationale Förderungen.
Originalpublikation:
Shift in virus composition in honeybees (Apis mellifera) following worldwide invasion by the parasitic mite and virus vector Varroa destructor. Vincent Doublet, Melissa A. Y. Oddie, Fanny Mondet, Eva Forsgren, Bjørn Dahle, Elisabeth Furuseth-Hansen, Geoffrey R. Williams, Lina De Smet, Myrsini E. Natsopoulou, Tomás E. Murray, Emilia Semberg, Orlando Yañez, Dirk C. de Graaf, Yves Le Conte, Peter Neumann, Espen Rimstad, Robert J. Paxton and Joachim R. de Miranda. Royal Society Open Science. Volume 11, Issue 1. Published:10 January 2024 https://doi.org/10.1098/rsos.231529

08.02.2024, Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung
Beständig seit Millionen von Jahren: Erste vollständige Genomsequenzierung einer Kamelhalsfliege
Sie haben eine auffällige Gestalt, sind tagaktive, räuberische Insekten und kommen auch in unseren Breitengraden vor. Zu weiterer Bekanntheit hat den Kamelhalsfliegen (Raphidioptera) die Kür der Schwarzhalsigen Kamelhalsfliege zum „Insekt des Jahres 2022“ verholfen. Dennoch werden diese zierlichen Vertreter der Netzflüglerartigen häufig übersehen. Wissenschaftler*innen aus Frankfurt, Müncheberg und Wien haben nun erstmals das Erbgut einer Kamelhalsfliege vollständig analysiert. Die Daten geben Einblick in die evolutionäre Entwicklung dieser Insektenordnung und ermöglichen genomische Vergleiche.
Sie haben eine auffällige Gestalt, sind tagaktive, räuberische Insekten und kommen auch in unseren Breitengraden vor. Zu weiterer Bekanntheit hat den Kamelhalsfliegen (Raphidioptera) die Kür der Schwarzhalsigen Kamelhalsfliege zum „Insekt des Jahres 2022“ verholfen. Dennoch werden diese zierlichen Vertreter der Netzflüglerartigen häufig übersehen. Wissenschaftler*innen aus Frankfurt, Müncheberg und Wien haben nun erstmals das Erbgut einer Kamelhalsfliege vollständig analysiert. Die Daten geben Einblick in die evolutionäre Entwicklung dieser Insektenordnung und ermöglichen genomische Vergleiche.
Ihren Namen verdanken die meist weniger als zwei Zentimeter großen Kamelhalsfliegen ihrem besonderen Aussehen: Das erste Brustsegment ist stark verlängert, der Kopf ebenfalls lang, beide sind auffallend beweglich und in die Höhe gerichtet. Sehr ähnlich sahen auch schon die Vertreter dieser Insektengruppe aus, die zu Zeiten der Dinosaurier lebten. „Das können wir aus Fossilien schließen, und entsprechend lassen sich die Kamelhalsfliegen auch als ‚lebende Fossilien‘ bezeichnen“, berichtet Prof. Dr. Thomas Schmitt, Direktor des Senckenberg Deutschen Entomologischen Instituts in Müncheberg. „Damals – also vor rund 66 Millionen Jahren – waren diese Insekten viel weiter verbreitet als heute, und es gab auch deutlich mehr Arten. Nach dem folgenreichen Einschlag des riesigen Asteroiden zum Ende der Kreidezeit und den anschließenden klimatischen Veränderungen überlebten jedoch nur diejenigen Arten, die sich an die dann kälteren Temperaturen anpassen konnten“, so Schmitt weiter. Alle der etwa 250 heute bekannten Arten kommen ausschließlich auf der Nordhalbkugel vor, davon zehn in Deutschland.
Für die aktuelle Studie, die in der Fachzeitschrift „Journal of Heredity“ erschien, untersuchten die Wissenschaftler*innen die Schwarzhalsige Kamelhalsfliege (Venustoraphidia nigricollis), die in Europa weit verbreitet ist. „Die Analyse ihres Genoms ist die erste vollständige Sequenzierung des Erbguts einer Kamelhalsfliege. Damit steht nun eines der wenigen Referenzgenome für die Gruppe der Netzflüglerartigen zur Verfügung“, betont Dr. Magnus Wolf, Erstautor der Studie und seit seiner Promotion am Senckenberg Biodiversität und Klima Forschungszentrum nun wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Evolution und Biodiversität der Universität Münster. „Mit den 669 Millionen Basenpaaren haben wir einen riesigen Datensatz, an dem wir versuchen werden zu verstehen, welche genetischen Anpassungen es diesen ‚lebenden Fossilien‘ ermöglichten, den Einschlag des Asteroiden zu überleben.“ Die Daten des filigranen Insekts wurden im Laborzentrum des hessischen LOEWE-Zentrums für Translationale Biodiversitätsgenomik erhoben, das bei der Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung in Frankfurt am Main angesiedelt ist.
„Die Ergebnisse erlauben nun, die stammesgeschichtliche Analyse der Kamelhalsfliegen unter deutlich verbesserten Rahmenbedingungen weiter zu erforschen“, berichtet Prof. Dr. Ulrike Aspöck, Entomologin an der Universität Wien sowie am Naturhistorischen Museum Wien und Expertin unter anderem für Kamelhalsfliegen. „Sie zeigen auch, dass es zwischen unterschiedlichen Kamelhalsfliegenarten nach dem Asteroiden-Einschlag vermutlich noch zu genetischem Austausch gekommen ist, denn die Genome der einzelnen Arten sind nicht komplett nach ihrer eigentlichen Verwandtschaft ‚sortiert‘. Unsere Ergebnisse sind ein großer Fortschritt für die Erforschung der Kamelhalsfliegen, sie zeigen aber auch, dass wir noch viel Forschungsarbeit vor uns haben, bis wir die Abstammung in dieser uralten Insektengruppe wirklich verstanden haben werden“, erläutert Aspöck.
Den größten Teil ihres Lebens, meist zwei oder mehr Jahre, verbringen Kamelhalsfliegen als Larven. Sie ernähren sich in dieser Zeit vor allem von Eiern und Larven anderer Insekten, darunter auch Schadinsekten wie zum Beispiel Apfelwickler und Borkenkäfer. Wenn sie schließlich im Frühsommer schlüpfen, stehen ebenfalls andere kleine, weichhäutige Insekten, besonders Blattläuse und Schildläuse, auf ihrem Speiseplan. Sie selbst werden von Vögeln, zum Beispiel dem Specht, Spinnen und weiteren Insektenfressern erbeutet. Während Kamelhalsfliegen ihre Eier in Borken von Bäumen und in Totholz ablegen, halten sich die ausgewachsenen tagaktiven Tiere überwiegend in den Kronen von Bäumen auf, besonders in lichten Mischwäldern und auch in Obstgärten. Da sie trotz ihrer gut entwickelten Flügel eher schwirren und flattern, bleiben sie ihrem Standort meist treu.
Die Schwarzhalsige Kamelhalsfliege wurde zum „Insekt des Jahres 2022“ gewählt und erhielt damit die Rolle der Botschafterin für die Insektenwelt in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Die Schirmherrschaft übernahm Österreichs Umweltministerin Leonore Gewessler. Das „Insekt des Jahres“ wird seit 1999 gekürt. Die Idee hierzu stammt von Prof. Dr. Holger Dathe, damaliger Leiter des Senckenberg Deutschen Entomologischen Instituts in Müncheberg. Ein Kuratorium, dem namhafte Insektenkundler*innen und Vertreter*innen wissenschaftlicher Gesellschaften und Einrichtungen angehören, wählt jedes Jahr aus verschiedenen Vorschlägen aus. Das aktuelle „Insekt des Jahres 2024“ ist der unter Naturschutz stehende Stierkäfer (Typhaeus typhoeus).
Originalpublikation:
Publikation in Journal of Heredity:
Magnus Wolf, Carola Greve, Tilman Schell, Axel Janke, Thomas Schmitt, Steffen U. Pauls, Horst Aspöck, Ulrike Aspöck
“The de novo genome of the Black-necked Snakefly (Venustoraphidia nigricollis Albarda, 1891): A resource to study the evolution of living fossils”
https://doi.org/10.1093/jhered/esad074

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