Neues aus Wissenschaft und Naturschutz

02.01.2024, Julius-Maximilians-Universität Würzburg
Ameisen erkennen infizierte Wunden und behandeln sie mit Antibiotika
Die afrikanischen Matabele-Ameisen werden beim Kampf mit Termiten oft verletzt. Ihre Artgenossinnen erkennen, wenn sich die Wunden infizieren und leiten gezielt eine antibiotische Therapie ein.
Die südlich der Sahara weit verbreiteten Matabele-Ameisen (Megaponera analis) haben einen schmalen Speiseplan: Sie fressen ausschließlich Termiten. Ihre Jagdzüge sind gefährlich, denn die Termitensoldaten verteidigen ihr Volk – und setzen dabei ihre kräftigen Beißzangen ein. Es kommt daher häufig vor, dass die Ameisen auf der Jagd verletzt werden.
Wenn sich die Wunden infizieren, droht Lebensgefahr. Doch die afrikanischen Ameisen haben ein ausgeklügeltes Gesundheitssystem entwickelt: Sie können nicht-infizierte von infizierten Wunden unterscheiden und behandeln letztere hoch effizient mit selbst produzierten Antibiotika. Das berichtet ein Team um Dr. Erik Frank von der Julius-Maximilians-Universität (JMU) Würzburg und Professor Laurent Keller von der Universität Lausanne im Journal Nature Communications.
Behandlung verringert die Sterblichkeit drastisch
„Chemische Analysen in Kooperation mit JMU-Professor Thomas Schmitt haben ergeben, dass sich als Folge einer Wundinfektion das Kohlenwasserstoffprofil des Ameisenpanzers spezifisch verändert“, so Erik Frank. Genau diese Veränderung können die Ameisen erkennen und so den Infektionszustand verletzter Kampfgefährtinnen diagnostizieren.
Zur Behandlung tragen sie dann antimikrobiell wirksame Verbindungen und Proteine auf die infizierten Wunden auf. Diese Antibiotika entnehmen sie aus der Metapleuraldrüse, die sich seitlich an ihrer Brust befindet. Deren Sekret enthält 112 Komponenten, die Hälfte davon wirkt antimikrobiell oder wundheilend. Und die Therapie ist hoch wirksam: Die Sterblichkeit infizierter Individuen wird um 90 Prozent verringert, wie die Forschungsgruppe herausgefunden hat.
Analyse der Ameisen-Antibiotika ist geplant
„Mit Ausnahme des Menschen ist mir kein anderes Lebewesen bekannt, das eine derart ausgefeilte medizinische Wundbehandlung vornehmen kann“, sagt Erik Frank. Laurent Keller fügt hinzu, dass diese Ergebnisse „medizinische Bedeutung haben, da der primäre Erreger in Ameisenwunden, Pseudomonas aeruginosa, auch eine der Hauptursachen für Infektionen beim Menschen ist, wobei mehrere Bakterienstämme gegen Antibiotika resistent sind“.
Ob die Matabele-Ameisen in dieser Hinsicht wirklich einzigartig sind? Das will der Würzburger Forscher nun bei anderen Ameisenarten und anderen sozial lebenden Tieren überprüfen. Außerdem möchte er die von den Matabele-Ameisen verwendeten Antibiotika in Kooperation mit Arbeitsgruppen der Chemie identifizieren und analysieren. Womöglich kommen dabei neue Antibiotika ans Licht, die vielleicht auch beim Menschen anwendbar sind.
Matabele-Ameisen in einer Netflix-Doku
Erik Franks Forschung über die afrikanischen Ameisen, die ihre Verletzten versorgen, hat schon vor einigen Jahren das Interesse einer Filmproduktionsfirma geweckt. Diese war im Auftrag von Netflix auf der Suche nach spannenden Geschichten für die achtteilige Naturdokumentation „Life on Our Planet“, in der es um die Evolution des Lebens in den vergangenen 500 Millionen Jahren geht.
Nach sechs Jahren Arbeit ist die Serie nun auf Netflix zu sehen. Regie führte Steven Spielberg, Sprecher der englischen Version ist der Schauspieler Morgan Freeman. Die Serie wurde ins Deutsche und zahlreiche andere Sprachen übersetzt. Die Matabele-Ameisen kommen in der fünften Folge vor, die „Im Schatten von Giganten“ heißt und 51 Minuten dauert.
Der Teil über Erik Franks Ameisen wurde im April 2021 in der Comoé-Forschungsstation der Uni Würzburg in der Elfenbeinküste gedreht. „Das hat drei Wochen gedauert, der Aufwand war enorm“, erzählt der JMU-Forscher. Aufgenommen wurde im natürlichen Lebensraum der Ameisen, aber auch in künstlichen Nestern im Labor der Forschungsstation. Und Erik Franks Fachwissen war in dieser Zeit laufend gefragt.
„Life on Our Planet“ bei Netflix: https://www.netflix.com/de/title/80213846
Autobiografisches Buch von Erik Frank
Neu auf dem Markt ist seit Oktober 2023 die Taschenbuchausgabe von Erik Franks „Une Histoire de Fourmis“ (Eine Geschichte über Ameisen), bislang nur in französischer Sprache. In der autobiografischen Geschichte beschreibt der Autor seine Forschung, seine Erfahrungen an der Comoé-Forschungsstation und seine Zeit als Doktorand an der Uni Würzburg. In Frankreich gehörte das Buch zu den sechs Werken, die 2022 als beste Bücher für Wissenschaftskommunikation nominiert waren.
Webseite des Verlags: https://www.cnrseditions.fr/catalogue/societe/une-histoire-de-fourmis/
Amazon
Originalpublikation:
“Targeted treatment of injured nestmates with antimicrobial compounds in an ant society”. Erik. T. Frank, Lucie Kesner, Joanito Liberti, Quentin Helleu, Adria C. LeBoeuf, Andrei Dascalu, Douglas B. Sponsler, Fumika Azuma, Evan P. Economo, Patrice Waridel, Philipp Engel, Thomas Schmitt, Laurent Keller. Nature Communications, 29. Dezember 2023, DOI: 10.1038/s41467-023-43885-w, https://www.nature.com/articles/s41467-023-43885-w
03.01.2024, Universität Zürich
Schon die ersten Primaten lebten wahrscheinlich in Paaren
Primaten weisen flexiblere Formen des Zusammenlebens auf, als bisher angenommen. Die ersten Primaten lebten wohl in Paaren – nur etwa 15 Prozent waren einzelgängerisch, wie eine Studie unter Leitung der UZH zeigt.
Primaten, zu denen wir Menschen gehören, gelten als höchst soziale Tiere. Affen und Menschenaffen leben oft in Gruppen. Bei Lemuren und anderen sogenannten Feuchtnasen-Primaten ging man hingegen davon aus, dass sie eher einzelgängerisch sind und dies auch die ursprüngliche Lebensweise aller Primaten darstellte. Frühere Studien versuchten deshalb zu erklären, wie und wann in der Evolution der Primaten das Paarleben entstanden ist.
Neuere Untersuchungen zeigen jedoch, dass viele der nachtaktiven und daher schwer zu untersuchenden Feuchtnasen-Primaten gar nicht einzeln leben, sondern in Paaren von Weibchen und Männchen. Doch was bedeutet das für die Lebensweise der Vorfahren aller Primaten? Und warum leben manche Affenarten in Gruppen, andere in Paaren und wieder andere allein?
Unterschiedliche Formen der sozialen Organisation
Diesen Fragen gingen Forschende der Universitäten Zürich und Strasbourg nach. Für die Studie sammelte Charlotte Olivier vom Institut Pluridisciplinaire Hubert Curien detaillierte Informationen zur Zusammensetzung wilder Primatengruppen, die alle aus Feldstudien stammten. Daraus entstand über mehrere Jahre eine Datenbank von fast 500 Populationen aus über 200 Primatenarten.
Über die Hälfte der so erfassten Primatenarten wiesen mehr als eine Form der sozialen Organisation auf. «Am häufigsten waren Gruppen, in denen mehrere Weibchen und mehreren Männchen zusammenlebten, wie etwa bei den Schimpansen oder Makaken. Am zweithäufigsten kamen Gruppen mit nur einem Männchen und mehreren Weibchen vor – wie bei Gorillas oder Languren», erklärt Letztautor Adrian Jäggi von der Universität Zürich. «Ein Viertel aller Arten organisierte sich aber auch in Paaren.»
Kleinere Vorfahren lebten in Paaren
Unter Berücksichtigung sozioökologischer und lebensgeschichtlicher Variablen wie Körpergrösse, Ernährung oder Lebensraum berechneten die Forschenden mit komplexen statistischen Modellen, die von Jordan Martin vom Institut für evolutionäre Medizin der UZH erstellt wurden, die Wahrscheinlichkeit einzelner sozialer Organisationsformen – auch für unsere Vorfahren vor fast 70 Millionen Jahren.
Um deren Lebensweise zu rekonstruieren, stützten sich die Wissenschaftler auf Fossilfunde, die zeigten, dass diese kleiner als viele heute lebenden Arten waren und in Bäumen lebten. Diese Faktoren korrelieren stark mit Paarleben. «Unser Modell zeigt, dass die Primaten auch früher variabel zusammenlebten und Paare die mit Abstand wahrscheinlichste Form der sozialen Organisation unserer letzten gemeinsamen Vorfahren war», erklärt Martin. Nur etwa 15 Prozent unserer Vorfahren sei einzelgängerisch unterwegs gewesen. «Das Leben in grösseren Gruppen entstand also erst später in der Geschichte der Primaten.»
Paarleben bringt Vorteile
Damit war die Sozialstruktur der ersten Primaten jener der heutigen Menschen wohl ähnlicher als bisher angenommen. «Auch wir leben oft, aber längst nicht immer, als Paare, sind zugleich eingebettet in Grossfamilien und grössere Gruppen und Gesellschaften», so Jäggi. Allerdings bedeute Paarleben bei unseren Vorgängern nicht, dass sie sexuell monogam waren oder gemeinsame Jungenaufzucht hatten. «Es war wohl eher so, dass ein bestimmtes Weibchen und ein bestimmtes Männchen die meiste Zeit gemeinsam anzutreffen waren und ihr Streifgebiet und den Schlafplatz teilten, was ihnen Vorteile im Vergleich zu einer solitären Lebensweise brachte», erklärt Letztautor Carsten Schradin aus Strasbourg. So konnten sie zum Beispiel Konkurrenten fernhalten oder sich gegenseitig wärmen.
Originalpublikation:
Charlotte-Anaïs Olivier, Jordan Martin, et al. Primate Social Organization Evolved from a Flexible Pair-Living Ancestor, Proceedings of the National Academy of Sciences, 28 December 2023. Doi: 10.1073/pnas.2215401120

04.01.2024, Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung (IZW) im Forschungsverbund Berlin e.V.
Konflikt auf Hochtouren: Waldfledermäuse meiden schnell drehende Windenergieanlagen weiträumig
An Windenergieanlagen kommen nicht nur viele Fledermäuse zu Tode, die Anlagen verdrängen auch einige Arten weiträumig aus ihren Lebensräumen. Wenn die Turbinen bei relativ hohen Windgeschwindigkeiten in Betrieb sind, sinkt die Aktivität von Fledermausarten, die in strukturdichten Habitaten wie Wäldern jagen, im Umkreis von 80 bis 450 Meter um die Anlage um fast 80 Prozent. Das ist das Ergebnis einer wissenschaftlichen Untersuchung unter Leitung von Forschenden des Leibniz-Instituts für Zoo- und Wildtierforschung (Leibniz-IZW) und der Philipps-Universität Marburg, die in der Fachzeitschrift „Global Ecology and Conservation“ erschienen ist.
An Windenergieanlagen kommen nicht nur viele Fledermäuse zu Tode, die Anlagen verdrängen auch einige Arten weiträumig aus ihren Lebensräumen. Wenn die Turbinen bei relativ hohen Windgeschwindigkeiten in Betrieb sind, sinkt die Aktivität von Fledermausarten, die in strukturdichten Habitaten wie Wäldern jagen, im Umkreis von 80 bis 450 Meter um die Anlage um fast 80 Prozent. Das Team vermutet, dass die Ursache dieses Vermeidungsverhaltens unter anderem der Lärm der Rotoren der Anlagen ist, welcher mit zunehmender Windgeschwindigkeit steigt.
Um Klimaschutzziele zu erreichen, boomt in Deutschland der Ausbau erneuerbarer Energien – insbesondere der Windenergie. Knapp 30.000 Anlagen wurden bislang auf dem Festland installiert, jetzt beginnt ein Ringen um weitere geeignete und rarer werdende Standorte. So rücken als Standorte auch Wälder in den Fokus – und damit artenreiche und sensible Lebensräume. Viele heimische Fledermausarten, etwa das Große Mausohr (Myotis myotis), leben und jagen in Wäldern und sind daher vom Windenergieausbau in oder nahe Wäldern potenziell betroffen. Das betrifft nicht nur das unmittelbare Risiko der Kollision mit den Rotoren, sondern hat auch indirekte negative Auswirkungen auf diese Arten, wie eine neue Untersuchung eines Teams um Christian Voigt vom Leibniz-IZW und Nina Farwig von der Universität Marburg zeigt. Die Forschenden fanden heraus, dass die waldspezialisierten Fledermäuse Windenergieanlagen über eine Entfernung von mehreren hundert Metern meiden – wenn die Anlagen in Betrieb und die Windgeschwindigkeiten relativ hoch sind.
„Wir untersuchten die Aktivität verschiedener Fledermausarten bei unterschiedlichen Windverhältnissen und während des Betriebs der Windenergieanlagen in hessischen Wäldern“, sagt Julia Ellerbrok, ehemalige Doktorandin im Projekt und jetzt Postdoktorandin im Fachbereich Biologie der Philipps-Universität Marburg. „Dabei stellten wir fest, dass die Aktivität von Fledermäusen, die üblicherweise in der Vegetation von Wäldern nach Nahrung suchen, im Umkreis von 80 bis 450 Metern um die Windenergieanlagen mit zunehmender Windgeschwindigkeit um durchschnittlich 77 % abnimmt, wenn die Anlagen in Betrieb sind. Die Fledermausaktivität blieb dagegen von der Windgeschwindigkeit unbeeinflusst, wenn die Anlagen abgeschaltet waren.“ Das Team schlussfolgerte daher, dass für das Vermeidungsverhalten Faktoren verantwortlich sein müssen, die direkt mit dem Betrieb der Anlagen bei relativ hohen Windgeschwindigkeiten zusammenhängen.
„Die Rotorbewegungen der Windenergieanlagen erzeugen nicht nur sogenannte Wirbelschleppen, sondern auch Lärm. Beide Faktoren können sich über mehrere hundert Meter auf Fledermäuse auswirken“, sagt Christian Voigt, Leiter der Abteilung für Evolutionäre Ökologie am Leibniz-IZW. „Waldfledermäuse, die unter dem Kronendach jagen, kommen vermutlich nicht mit den Wirbelschleppen in Kontakt. Vielmehr könnten sie von den Geräuschemissionen der Anlagen betroffen sein; auch wenn der Frequenzbereich der Geräusche weit unterhalb der Frequenz der Echoortungsrufe liegt. Vermeiden Waldfledermäuse Geräuschemissionen an den Windenergieanlagen, verlieren sie weiträumig wertvollen Lebensraum.“
Insgesamt stellen Windenergieanlagen in Wäldern Fledermäuse vor mehrere Probleme, fassen die Forschenden zusammen: Einerseits verlieren Waldfledermäuse Lebensraum – sowohl durch die Rodung beim Bau der Windenergieanlagen als auch durch die Meidung der laufenden Windenergieanlagen. Andererseits können Fledermäuse, die oberhalb der Baumkronen jagen, potenziell an den sich drehenden Rotorblättern verunglücken. Um mögliche ökologische Langzeitfolgen für Fledermausbestände durch Windenergieanlagen in Waldgebieten minimal zu halten, sollten Windenergieanlagen nur in strukturarmen und somit fledermausarmen Wirtschaftswäldern aufgestellt werden. Zukünftige Forschung sollte sich darauf konzentrieren, die Auswirkungen von Lärmemissionen an den Windenergieanlagen auf Fledermäuse genauer zu untersuchen, schließt das Team in der Veröffentlichung.
Originalpublikation:
Ellerbrok JS, Farwig N, Peter, F, Voigt CC (2023): Activity of forest bats declines with increasing wind speed when wind turbines are operating. Global Ecology and Conservation. DOI: 10.1016/j.gecco.2023.e02782

04.01.2024, Institute of Science and Technology Austria
Vom Eierlegen zur Geburt – Neue Studie von ISTA-Forscher:innen über Meeresschnecken
Tiere pflanzen sich auf zwei verschiedene Arten fort: entweder legen sie Eier oder gebären lebendige Nachkommen. Ein Forschungsteam vom Institute of Science and Technology Austria (ISTA), der Universität Sheffield und der Universität Göteborg untersuchte nun Meeresschnecken und deren evolutionär gesehen noch jungen Übergang vom Eierlegen zur Lebendgeburt und wirft neues Licht auf die genetischen Veränderungen, die Organismen solche Wechsel ermöglichen. Die Ergebnisse wurden in Science veröffentlicht.
Die Schnecke oder das Ei?
Eins vorweg: Das Ei war zuerst da – Eierlegen ist evolutionär tief verankert und entstand lange bevor die ersten Tiere den Schritt aufs Land wagten. Der Lauf der Evolution zeigt uns jedoch, dass es im gesamten Tierreich zu zahlreichen unabhängigen Übergängen kam. Aus vielen Insekten, Fischen, Reptilien oder Säugetieren wurden mit der Zeit lebendgebärende Tiere. Wie viele genetische Veränderungen aber notwendig sind, um diesen speziellen evolutionäre Prozesse anzutreiben, war bis jetzt noch nicht geklärt.
Am Beispiel einer Meeresschnecke hat ein internationales Forschungsteam unter der Leitung von ISTA-Postdoc Sean Stankowski nun genetische Veränderungen aufgedeckt, die den Übergang zur Lebendgeburt (Viviparie) unterstützen. Warum dieses Phänomen genau in Meeresschnecken analysiert wurde, liegt darin, dass sich die Entwicklung der Salzwassertiere zu Lebendgebärenden über einen Zeitraum von nur 100.000 Jahren erstreckt hat – evolutionär gesehen eine sehr kurze Periode. Das Weichtier könnte daher eine einzigartige Gelegenheit bieten, die genetischen Grundlagen der Lebendgeburt aufzudecken.
„Fast alle Säugetiere bringen Lebendgeburten zur Welt – eine Funktion, die ihre Evolution seit etwa 140 Millionen Jahren begleitet hat. Unsere neue Studie zeigt nun aber, dass sich die Lebendgeburt bei Meeresschnecken völlig unabhängig und erst vor kurzer Zeit entwickelt hat“, erklärt Stankowski. Das Hauptaugenmerk legt das Team hier auf rund 50 genetische Veränderungen, die sich über das gesamte Schneckengenom verstreuen und die Umstellung auf die Viviparie als Fortpflanzungsweise verursacht haben.
Eine Art mit hunderten Namen
Laut einem Bericht im The Guardian aus dem Jahr 2015 ist die Meeresschnecke Littorina saxatilis das am häufigsten falsch identifizierte Lebewesen der Welt. Obwohl sie an den Küsten des Nordatlantiks weit verbreitet ist, haben Wissenschafter:innen sie im Laufe der Jahrhunderte mehr als hundertmal als neue Art oder Unterart bezeichnet. Diese ganze Verwirrung ist wohl auf die vielen Muschelvarianten und Lebensräume dieser Art zurückzuführen. Hinzu kommt, dass L. saxatilis eine einzigartige Fortpflanzungsweise aufweist, die sich mit der Zeit entwickelt hat. Anders als ihre verwandten Meeresschnecken, mit denen sie sich den Lebensraum teilen, legen sie keine Eier, sondern praktizieren die Lebendgeburt. „Forscher:innen haben vor allem die verschiedenen Schalenvariationen von L. saxatilis untersucht und nicht, was die Art von ihren eierlegenden Verwandten unterscheidet. Tatsächlich ist diese Schneckenart ein Ausnahmefall, wenn es um ihre Fortpflanzungsstrategie geht“, so Stankowski.
Schritt für Schritt das Ei verlieren
Spannend wurde es, als Stankowski anhand von Erbgut Sequenzen den evolutionären Stammbaum von L. saxatilis und anderen verwandten, eierlegenden Littorina-Arten ableitete. Seine Analyse zeigte, dass L. saxatilis, obwohl die Lebendgeburt das einzige Merkmal ist, das sie von ihren eierlegenden Verwandten unterscheidet, offenbar keine eigenständige evolutionäre Gruppe bildet. Diese Diskrepanz zwischen Fortpflanzungsstrategie und Abstammung ermöglichte es Stankowski und seinen Kolleg:innen schließlich, die genetische Grundlage der Lebendgeburt von anderen genetischen Veränderungen im gesamten Schneckengenom zu trennen. „Wir konnten 50 Erbgutregionen identifizieren, welche vermutlich gemeinsam dazu beitragen, ob Individuen Eier legen oder lebende Junge zur Welt bringen“, erklärt der Postdoc. „Was die einzelnen Regionen bewirken, wissen wir nicht genau. Durch den Vergleich der Genexpressionsmuster bei eierlegenden und lebendgebärenden Schnecken, konnten wir jedoch viele von ihnen mit Fortpflanzungsunterschieden in Verbindung bringen.“ Die Ergebnisse deuten insgesamt darauf hin, dass sich die Viviparie allmählich durch die Anhäufung vieler Mutationen entwickelt hat, die in den letzten 100.000 Jahren entstanden sind.
Lebendgeburt: Vor- und Nachteile
Die aktuelle Studie zeigt, dass die Entwicklung zur Lebendgeburt es den Schnecken ermöglichte, sich in neue Gebiete und Lebensräume auszubreiten, in denen Eierleger weder überleben noch sich fortpflanzen können. Die exakten Vorteile bleiben jedoch weiterhin ein Rätsel. „Wir vermuten, dass die natürliche Selektion die treibende Kraft für diesen Übergang war. Eine längere Verweildauer der Eier wurde begünstigt, was dazu führte, dass die Eier schließlich schon im Muttertier schlüpften. Wahrscheinlich waren die Eier anfälliger auf Austrocknung, physische Schäden und Raubtiere“, begründet Stankowski. Bei Lebendgebärenden sind die Nachkommen vor den Einflüssen der Natur geschützt, bis sie sich selbst versorgen können, fügt er hinzu. Zwar wurde so ein Problem beseitigt, was aber nicht heißt, dass dadurch andere auftraten. „Die zusätzliche Investition in den Nachwuchs führte sicher zu neuen Anforderungen an die Anatomie, die Physiologie und das Immunsystem der Schnecken. Wahrscheinlich sind viele der von uns identifizierten Erbgutregionen an der Reaktion auf diese Art von Herausforderungen beteiligt.“
Funktion der einzelnen Gene erfassen
Obwohl die Arbeit uns neue Einblicke auf den Übergang von Eiern zu lebenden Nachkommen gibt, sind noch viele Fragen offen. „Der Großteil der genetischen Innovationen ist sehr alt und auf einer evolutionären Skala verstrickt. Das macht es schwierig, ihren Ursprung zu untersuchen“, so der Biologe. „Zwar haben diese Schnecken uns genau das ermöglicht, jedoch ist es erst der Anfang, von dem, was sie uns über die Ursprünge von Neuheit lehren können.“ In einem nächsten Schritt wollen die Forscher:innen die Funktion jeder Mutation kartieren. „Unser Ziel ist es zu verstehen, wie jede genetische Veränderung die Form und Funktion der Schnecken auf ihrem Weg zu lebendgebärenden Tieren, schrittweise, geprägt hat“, so Stankowski abschließend.
Originalpublikation:
Stankowski, S., et al., 2024. Die genetische Grundlage des jüngsten Übergangs zur Lebendgebärenden bei Meeresschnecken. Wissenschaft. DOI: https://doi.org/10.1126/science.adi2982

Dieser Beitrag wurde unter Wissenschaft/Naturschutz veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert