Neues aus Wissenschaft und Naturschutz

17.11.2023, Bayerische Landesanstalt für Wald und Forstwirtschaft
Wächter über Südbayerns Waldbäche: Der Grubenlaufkäfer
Alle sechs Jahre führt die Bayerische Landesanstalt für Wald und Forstwirtschaft (LWF) turnusmäßige Erhebungen zu den EU-weit geschützten Waldarten und Lebensräumen durch. Ein ganz besonderer Schatz unter diesen Arten ist der Grubenlaufkäfer (Carabus variolosus nodulosus). Dieser mit etwa 3 Zentimetern Größe sehr stattliche Käfer ist in Deutschland außerhalb Bayerns bis auf ein Vorkommen vollständig ausgestorben. In Südbayern kommt der Grubenlaufkäfer jedoch noch an ca. 100 Standorten vor. Daher hat Bayern eine ganz besondere Verantwortung für diese Art. Folgerichtig liegen von den bundesweit 63 Monitoringpunkten nicht weniger als 62 in Bayern.
Der Grubenlaufkäfer ist ein reiner Waldbewohner und kommt weltweit nur in Europa vor. Nur wenn Wasserläufe intakt und gut vernetzt sind, sowie naturnahe Laubwälder an ihrem Rand wachsen, findet der seltene Käfer einen geeigneten Lebensraum. „Dieser Käfer ist daher ein Indikator für den Zustand der Waldbäche und Waldquellen“, so Dr. Peter Pröbstle, Präsident der Bayerischen Landesanstalt für Wald und Forstwirtschaft (LWF). Ungestörte Waldbäche haben in unseren Wäldern aber auch wichtige Funktionen für den Verbund von Lebensräumen anderer Tiere und Pflanzen sowie die Regulation des Wasserhaushaltes.
In den immer trockener werdenden Landschaften versiegen diese Adern jedoch zunehmen. Gleichzeitig spülen zunehmende Starkniederschläge die Bachläufe zeitweise stark aus. Daher ist die Einbettung der Waldbäche in stabile Laub- und Mischwälder besonders wichtig. Allerdings sind diese bachbegleitenden Wälder durch das Eschentriebsterben und andere eingeschleppte Baumkrankheiten zusätzlich gefährdet. Dies sind künftig zusätzliche Herausforderungen für diese schützenswerten Lebensräume und damit den Grubenlaufkäfer.
Die gute Nachricht: Die bayerischen Nachweiszahlen für den Grubenlaufkäfer zeigen, dass die Bestände dieser gefährdeten Art derzeit stabil sind. Knapp 2 Prozent der Vorkommen sind dabei in einem „hervorragenden Zustand“ (Stufe „A“), 56% im Zustand „gut“ oder „B“. Immerhin bei 42% der Vorkommen ist jedoch der Lebensraum gestört: Sei es durch geringe Größe, durch fehlende Puffer, durch einen schlechten Zustand des Bachlaufs oder auch fehlendes Totholz als Winterquartier. In diesem Zusammenhang und insbesondere angesichts der erheblichen Klimaveränderungen sehen die Experten an der LWF erhebliche Verbesserungspotenziale.
Für die bayerischen Privat- und Kommunalwaldbesitzer stellt die Forstverwaltung daher ein umfassendes Paket an Fördermaßnahmen bereit. An erster Stelle steht dabei der Waldumbau an den Wasserläufen zu stabilen und naturnahen Laub- und Mischwäldern.
Das Monitoring für den Grubenlaufkäfer führte die LWF bayernweit mit 20 speziell geschulten Mitwirkenden aus den örtlichen Forstverwaltungen und Ehrenamtlichen durch. Auf diesem Wege wurden auch gleich Multiplikatoren für den Schutz der Art vor Ort gewonnen, freuen sich die LWF-Spezialisten Dr. Stefan Müller-Kroehling und Andreas Geisler, die die Erhebungen koordinierten.
Mit ihrem Beratungs- und Förderangebot unterstützt die Bayerische Forstverwaltung die Waldbesitzer und informiert sie über diese bedeutsamen, naturnahen Waldstandorte. Die staatlichen Beratungsförster weisen auf deren Schutz und die Notwendigkeit der behutsamen Pflege und Bewirtschaftung hin. Der dafür erstellte Flyer informiert die Waldbesitzer über die wichtigsten förderlichen Maßnahmen. Er zeigt aber auch die Maßnahmen auf, die in diesen Lebensräumen besser nur nach sorgfältiger Planung durchgeführt werden oder evtl. ganz unterlassen werden sollten. Siehe: https://s.bayern.de/faltblatt_holzernte_feuchtwald
Weitere Hintergrundinformationen: In Bayerns Wäldern liegt die Verantwortung für die Natura2000 Schutzgüter und damit das FFH-Monitoring bei der Bayerischen Landesanstalt für Wald und Forstwirtschaft (LWF). Siehe auch: https://s.bayern.de/ffh-artenmonitoring.
Die Ergebnisse werden derzeit ausgewertet und anschließend nach Bonn an das Bundesamt für Naturschutz übermittelt, von wo aus sie an die EU-Kommission in Brüssel übermittelt werden. Gemeinsam mit den Daten der anderen EU-Mitgliedsstaaten werden dann die bayerischen Erhebungen durch das European Topic Centre for Nature Conservation in Paris ausgewertet. Auf diese Weise kann die EU abschätzen, ob sich das Europäische Naturerbe, in diesem Fall der Grubenlaufkäfer, in einem günstigen Zustand befindet. Die diesen Erhebungen zugrunde liegende Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie stammt aus dem Jahr 1992 und gilt in allen 27 Mitgliedsstaaten einheitlich. Gemeinsam bilden sie das „Europäische Netzwerk Natura 2000“.

16.11.2023, Deutsches Primatenzentrum GmbH – Leibniz-Institut für Primatenforschung
Liebe deinen Nächsten
Wildlebende Bonobos kooperieren auch mit Mitgliedern fremder Gruppen
Menschen gehen strategische Kooperationen mit Fremden ein und teilen ihre Ressourcen auch mit Personen außerhalb der eigenen sozialen Gruppe. Bislang galt prosoziales Verhalten gegenüber Nicht-Verwandten als rein menschliche Fähigkeit. Diese Annahme beruhte unter anderem auf Beobachtungen an Schimpansen, die Artgenossen anderer Gruppen teils sehr gewalttätig bekämpfen. Forschende des Deutschen Primatenzentrums – Leibniz-Institut für Primatenforschung (DPZ) und der Harvard University beobachteten jetzt das Sozialverhalten von freilebenden Bonobos (Pan paniscus), einer sehr nah mit Schimpansen und Menschen verwandten Art. Dabei fanden sie heraus, dass die Kooperation von Bonobos über den eigenen Sozialverband hinausgeht und sich auf die gesellschaftliche Zusammenarbeit mit anderen Gruppen erstreckt (Science).
Schimpansen und Bonobos sind unsere nächsten Verwandten. Es liegt daher nahe, vom Sozialverhalten der Tiere auf die Evolution menschlichen Verhaltens zu schließen. Allerdings hat man in vergangenen Studien fast ausschließlich Schimpansen untersucht, die äußerst feindselig und aggressiv reagieren, wenn sie auf eine andere Gruppe von Artgenossen treffen. Daraus wurde gefolgert, dass Gruppenfeindschaft und Gewalt zur menschlichen Natur gehören. Bei Bonobos, die wie Schimpansen in Gruppenstrukturen mit mehreren erwachsenen Tieren beider Geschlechter und ihrem Nachwuchs leben, sieht die Sache jedoch ganz anders aus: Sie reagieren in der Regel friedlich auf andere Artgenossen.
Tolerante Bonobos
Wenn verschiedene Bonobo-Gruppen aufeinandertreffen, wandern sie oft zusammen und fressen gemeinsam. Anders als bei Schimpansen beobachteten die Forschenden bei Bonobos keine Auseinandersetzungen, die tödlich endeten. „Beim Beobachten mehrerer Bonobo-Gruppen ist uns das bemerkenswerte Maß an Toleranz zwischen den Mitgliedern der verschiedenen Gruppen aufgefallen. Diese Toleranz ebnet den Weg für prosoziale kooperative Verhaltensweisen wie das Bilden von Allianzen und das Teilen von Nahrung über Gruppen hinweg. Das ist ein starker Gegensatz zu dem, was wir bei Schimpansen beobachten“, sagt Liran Samuni, Nachwuchsgruppenleiterin am DPZ und Erstautorin der Studie.
Erschwerte Freilandforschung
Bonobos lassen sich in ihrem natürlichen Lebensraum nur schwer beobachten, da sie ausschließlich in abgelegenen, weitgehend unzugänglichen Teilen der Demokratischen Republik Kongo vorkommen. Harvard-Professor Martin Surbeck, der die Studie initiierte und die Forschungsstation im Kokolopori-Bonobo-Reservat mit aufbaute, erklärt: „Erst durch die enge Zusammenarbeit mit der lokalen Mongandu-Bevölkerung in Kokolopori, in deren angestammten Wäldern die Bonobos leben, wurden Studien über diese faszinierende Art möglich.“ Surbeck ergänzt: „Forschungsstätten wie Kokolopori tragen wesentlich dazu bei, unser Verständnis von Bonobos und unserer eigenen evolutionären Geschichte zu vertiefen und spielen auch eine wichtige Rolle bei deren Erhaltung.“
Gezielte Freundlichkeit
Die Forschenden konnten zeigen, dass Bonobos nicht wahllos zwischen den Gruppen interagieren. Stattdessen kooperieren sie mit einzelnen, bestimmten Mitgliedern anderer Gruppen, bei denen die Wahrscheinlichkeit größer ist, dass sie freundliche Gesten erwidern. So formen sich starke Bindungen zwischen prosozialen Individuen, auch über Gruppengrenzen hinweg. Ähnliche Bindungen sind auch ein Schlüsselaspekt für die Zusammenarbeit in menschlichen Gesellschaften. Es sei beeindruckend, an den Bonobos zu sehen, dass ständige Auseinandersetzungen zwischen benachbarten Gesellschaften nicht die einzige evolutionäre Erbschaft der Menschen sind, so die Autoren. Bonobos zeigen, dass der Mensch nicht einzigartig in seiner Fähigkeit ist, friedliche Beziehungen zwischen Gesellschaften aufzubauen.
Originalpublikation:
Samuni L & Surbeck M (2023): Cooperation across social borders in bonobos. Science, DOI: 10.1126/science.adg0844

21.11.2023, GEOMAR Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung Kiel
Tiefseebergbau und Erwärmung bedeuten Stress für Tiefseequallen: GEOMAR-Studie zu Auswirkungen von Sediment-Wolken
Die offene Tiefsee beherbergt nicht nur eine der größten Tiergemeinschaften der Erde, sie ist auch einer wachsenden Zahl von Umweltbelastungen ausgesetzt. Unser Wissen über ihre Bewohner und deren Reaktion auf vom Menschen verursachte Stressfaktoren ist jedoch nach wie vor begrenzt. Eine neue Studie unter der Leitung von Forschenden des GEOMAR Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung Kiel gibt jetzt erste Einblicke in die Stressreaktion einer pelagischen Tiefseequalle auf die Erwärmung des Ozeans und durch den Tiefseebergbau verursachte Sedimentwolken. Ihre Ergebnisse veröffentlichen die Wissenschaftler:innen heute im Fachmagazin Nature Communications.
Die Tiefsee beherbergt eine der größten Tiergemeinschaften der Erde, über die wir noch sehr wenig wissen. Dennoch ist sie bereits einer wachsenden Zahl von durch den Menschen verursachten Umweltbelastungen ausgesetzt. Wie reagieren ihre Bewohner auf diese Stressfaktoren? Eine neue Studie unter der Leitung von Forschenden des GEOMAR Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung Kiel, die heute im Fachmagazin Nature Communications erscheint, gibt erste Einblicke in die Stressreaktion einer pelagischen Tiefseequalle auf die Erwärmung des Ozeans und durch den Tiefseebergbau verursachte Sedimentwolken.
Ein besonderer und potenziell großer Umweltstressfaktor für Organismen in der Tiefsee ist die Störung der Umwelt durch den kommerziellen Abbau von Bodenschätzen. Obwohl der Abbau auf am Meeresboden lagernde Mineralien abzielt, die beispielsweise in Manganknollen vorkommen, werden dabei auch feine Sedimente aufgewirbelt, so dass sich Schwebstoff-„Wolken“ – sogenannte Plumes – bilden. Hochgepumptes Sediment muss nach der Ankunft auf dem Schiff wieder in die Wassersäule zurückgeführt werden. Da es derzeit keine Vorschriften dafür gibt, in welcher Wassertiefe das Sediment freigesetzt werden darf, können sich die so entstehenden Sedimentwolken über Dutzende bis Hunderte von Kilometern ausbreiten. Der Tiefseebergbau würde sich daher nicht nur lokal auf die Tiergemeinschaften am Meeresboden auswirken, sondern auch in einem erheblich größeren Gebiet auf die in der darüber liegenden Wassersäule, dem Freiwasser oder Pelagial. Da sich in dieser Zone zwischen 200 und circa 4000 Metern Wassertiefe üblicherweise nur wenig Sediment befindet, ist davon auszugehen, dass die Tiere in diesem Bereich sehr empfindlich auf die durch den Bergbau verursachten Sedimentwolken reagieren.
Dies sei besorgniserregend, wie Dr. Helena Hauss, Co-Erstautorin der Studie und Forschungsdirektorin für Meeresökologie beim Norwegian Research Centre (NORCE), erklärt: „Das Pelagial ist von entscheidender Bedeutung für die Fähigkeit des Ozeans, Kohlenstoff zu speichern, aber seine Bewohner sind auch die Hauptnahrungsquelle für viele Fische, Tintenfische und Meeressäuger und stellen daher ein wichtiges Glied im marinen Nahrungsnetz dar. Sie haben sich unter weitaus stabileren Bedingungen entwickelt als die an der Oberfläche lebenden Tiere und sind daher potenziell anfälliger für sich ändernde Umweltbedingungen.“ Dr. Henk-Jan Hoving, Seniorautor und Gruppenleiter der Gruppe Tiefseeökologie am GEOMAR, fügt hinzu: „Pelagische Tiefseearten sind oft zerbrechliche, gallertartige und manchmal riesige Organismen mit niedrigen Stoffwechselraten, die in ihrer natürlichen Umgebung nur schwer zu beobachten und in Experimenten zu untersuchen sind. Ihre physische Verletzlichkeit macht sie möglicherweise besonders anfällig für Umweltstörungen. Gleichzeitig haben wir bei der Erforschung der Tiefsee bisher nur an der Oberfläche gekratzt, und der größte Teil der biologischen Vielfalt ist noch unbekannt, ebenso wie ihre Funktion im Ökosystem und ihre Toleranz gegenüber Veränderungen.“
Trotz der globalen Bedeutung von pelagischen Ökosystemen ist die Datenlage zu den artspezifischen Reaktionen von Tiefseearten auf Umweltstressoren dünn, und insbesondere pelagische Arten sind schwierig im Labor zu halten und experimentell zu untersuchen. Diese Lücke wollten die Forschenden mit der jetzt veröffentlichten Studie schließen. Zum ersten Mal untersuchten die Autor:innen die Stressreaktion einer Tiefseequalle, die wegen ihrer hutartigen Form auch als Helmqualle bekannt ist, auf simulierte Sedimentwolken. „Da die Bestimmung von ,Stress‘ bei einer Qualle nicht einfach ist, haben wir ihre Reaktion aus verschiedenen Blickwinkeln untersucht und die Erkenntnisse aus ihrer Physiologie, der Änderung in der Genaktivität und den mikrobiellen Symbionten auf der Außenseite der Qualle kombiniert“, erklärt Vanessa Stenvers, Co-Erstautorin der Studie und Doktorandin am GEOMAR und der Smithsonian Institution. Der auffälligste visuelle Effekt des Schwebstoffs sei die Haftung von Sedimentpartikeln auf den Quallen gewesen, woraufhin die Quallen begonnen hätten, überschüssigen Schleim zu produzieren. „Obwohl der Schleim den Quallen dabei hilft, ihr Mikrobiom stabil zu halten, benötigt die kontinuierliche Schleimproduktion sehr viel Energie und kann einen erheblichen Teil des gesamten Energiehaushalts eines Tieres ausmachen“, fügt Stenvers hinzu.
Darüber hinaus zeigten die Quallen bei den höchsten Sedimentbehandlungen deutlich, dass sie unter Stress stehen, da sie die Aktivität von Genen, die mit Atmung, Immunsystem und Wundheilung zusammenhängen, sehr stark erhöhten. Das Team betont außerdem, dass Schwebstoffe bei Helmquallen eine schwerwiegendere Reaktion auslösten als ein Anstieg der Meerwassertemperatur um vier Grad Celsius. Aktuelle Klimaprojektionen gehen von einem Anstieg der Meerestemperaturen in der Tiefsee um ein Grad in den nächsten 84 Jahren aus, ein Anstieg um vier Grad wird nur in den extremsten Szenarien der Klimaerwärmung an der Oberfläche vorhergesagt. Die Autor:innen befürchten, dass Stressfaktoren, die zu einem erhöhten Energieverbrauch führen, wie sie es bei der Helmqualle beobachtet haben, mit einer erhöhten Nahrungsaufnahme kompensiert werden müssen. Da die Nahrung in der Tiefsee im Allgemeinen knapp ist, könnte dies letztlich zum Verhungern führen.
Auch wenn weitere Daten von verschiedenen Tiefseearten benötigt werden, um die Umweltauswirkungen des Tiefseebergbaus besser zu verstehen, könnte die Stressreaktion der Helmqualle repräsentativ für andere Gallerttiere sein. Gallertartige Tiere, die sich durch einen hohen Wassergehalt und gallertartiges Gewebe auszeichnen, sind ein häufiger Bestandteil von Tiefsee-Ökosystemen. Auf Basis ihrer Gesamtergebnisse mahnen die Forschenden zur Vorsicht in Bezug auf den Tiefseebergbau, da dieser zahlreiche der wichtigen Ökosystemleistungen der Tiefsee beeinträchtigen könnte.
Professor Andrew K. Sweetman, Mitautor von der Scottish Association for Marine Science, kommt zu dem Schluss: „Da der Tiefseebergbau in den nächsten zehn Jahren beginnen und die angrenzenden Lebensräume in der Wassersäule und am Meeresboden stören könnte, ist es wichtig, die kombinierten Auswirkungen von Bergbau und Meereserwärmung zu verstehen.“ Das Team hofft, dass seine Studie, die einen ersten Einblick in einige der möglichen Auswirkungen im Pelagial gibt, von Bergbauunternehmen und der Internationalen Meeresbodenbehörde (International Seabed Authority, ISA) berücksichtigt wird, wenn es darum geht, Bergbaustrategien zu entwickeln, die die Umweltschäden so gering wie möglich halten.
Hintergrund:
Die Studie wurde im Rahmen des iAtlantic-Projekts (Integrated Assessment of Atlantic Marine Ecosystems in Space and Time) durchgeführt. iAtlantic ist ein multidisziplinäres Forschungsprogramm zur Bewertung des Zustands von Tiefsee- und Hochseeökosystemen im gesamten Atlantik. Es soll Erkenntnisse liefern, die für eine verantwortungsvolle und nachhaltige Bewirtschaftung der Ressourcen des Atlantischen Ozeans in einer Zeit beispielloser globaler Veränderungen von entscheidender Bedeutung sind. iAtlantic verfolgt einen ozeanweiten Ansatz, um die Faktoren zu verstehen, die die Verteilung, Stabilität und Anfälligkeit von Tiefsee-Ökosystemen steuern – einschließlich der Auswirkungen menschlicher Aktivitäten. Die Arbeiten erstrecken sich über das gesamte atlantische Becken, von der Spitze Argentiniens im Süden bis Island im Norden und von den Ostküsten der USA und Brasiliens bis zu den westlichen Rändern Europas und Afrikas. Entscheidend für den Erfolg von iAtlantic ist die internationale Zusammenarbeit zwischen Forschern in der gesamten atlantischen Region. Das Projektkonsortium umfasst 33 Forschungseinrichtungen aus Europa, Argentinien, Brasilien, Südafrika, Kanada und den USA und wird durch ein breiteres Netz von assoziierten Partnern ergänzt.
Original-Publikation:
Stenvers, V.I. et al (2023): Experimental mining plumes and warming trigger stress in a deep pelagic jellyfish. Nature Communications. doi: https://doi.org/10.1038/s41467-023-43023-6

21.11.2023, Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung (IZW) im Forschungsverbund Berlin e.V.
Die Geheimnisse der Fledermaus: neuer Paarungsmechanismus bei Säugetieren entdeckt
Das Fortpflanzungsverhalten in der Tierwelt ist äußerst vielfältig. Bei Säugetieren galt bisher, dass beim Paarungsverhalten immer ein Eindringen des Penis in den weiblichen Genitaltrakt stattfindet. Eine kürzlich in der Fachzeitschrift „Current Biology“ veröffentlichte wissenschaftliche Untersuchung unter der Leitung der Universität Lausanne und des Leibniz-Instituts für Zoo- und Wildtierforschung (Leibniz-IZW) dokumentiert eine völlig andere Vorgehensweise bei Fledermäusen, einer Gruppe von Säugetieren, über deren Sexualverhalten immer noch wenig bekannt ist: Breitflügelfledermäuse paaren sich ohne ein Eindringen des Penis in den Genitaltrakt der Weibchen.
Die Breitflügelfledermaus (Eptesicus serotinus) ist eine große insektenfressende Fledermaus, die in Europa, dem Nahen Osten und Asien vorkommt. Der erigierte Penis dieser Art ist im Vergleich zur Größe der Vagina des Weibchens viel zu groß. Um zu verstehen, wie sich diese Fledermäuse paaren, beobachteten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ihr natürliches Paarungsverhalten auf dem Dachboden einer Kirche und während eines vorübergehenden Aufenthaltes in menschlicher Obhut in einem Fledermaus-Rehabilitationszentrum. Echtzeit-Beobachtungen von fast einhundert Paaren bei der Paarung zeigten, dass die Männchen ihren Penis nicht als intromittierendes Organ benutzten. Vielmehr „bestieg“ das Männchen das Weibchen auf dem Rücken, wie es viele andere Säugetiere tun, und nutzt seinen langen Penis wie einen Arm, um die Flughaut zu umgehen, die eine normale Paarung verhindert. Das Männchen drückt dann seinen Penis fest gegen die Vulva des Weibchens; das Paar kann mehrere Stunden lang in dieser Position bleiben.
„Die vorliegende Untersuchung dokumentiert etwas Besonderes unter den Säugetieren“, sagen Dr. Susanne Holtze vom Leibniz-IZW und Marcus Fritze von der Universität Greifswald. „Unsere Beobachtungen und die besondere Morphologie des Penis der Breitflügelfledermaus-Männchen sind der erste Beweis für eine Paarung ohne Intromission bei einem Säugetier.“ Es ist schwierig, das Verhalten von nachtaktiven Tieren zu beobachten, erst recht von fliegenden Tieren wie Fledermäusen, schreibt das Autorenteam in ihrem Beitrag in der Fachzeitschrift „Current Biology“. Bei Fledermäusen gebe es noch immer viele Geheimnisse über ihre Biologie. Insbesondere sei wenig über ihre Fortpflanzungsweise bekannt, die bei den 1400 bisher bekannten Fledermausarten mit Sicherheit sehr unterschiedlich ist.
Originalpublikation:
Fasel NJ, Jeucken J, Kravchenko K, Fritze M, Ruczyński I, Komar E, Moiseienko M, Shulenko A, Vlaschenko A, Christe P, Glaizot O, Holtze S (2023): Mating without intromission in a bat. Current Biology 33, R1163–R1185. DOI: 10.1016/j.cub.2023.09.054

22.11.2023, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel
Bakterien tragen zur Modulation tierischen Verhaltens bei
Forschungsteam des Kieler SFB 1182 zeigt am Beispiel des Süßwasserpolypen Hydra, wie Nervenzellen und Mikroorganismen zusammenarbeiten, um das Fressverhalten der Tiere zu steuern
Ein immer wichtigeres Arbeitsgebiet in den modernen Lebenswissenschaften ist die Erforschung des symbiotischen Zusammenlebens von Tier, Pflanze und Mensch mit ihren spezifischen mikrobiellen Besiedlungen. Forschende haben in den vergangenen Jahren immer mehr Belege zusammengetragen, die für eine entscheidende Rolle der Zusammensetzung und Balance des Mikrobioms für die Funktion und die Gesundheit des Gesamtorganismus sprechen. Einen fundamental bedeutenden Aspekt in diesen funktionalen Beziehungen haben sie in der Kommunikation zwischen Nervenzellen des Wirts und seinem Mikrobiom identifiziert, die sich bereits sehr früh in der Evolution erstmals etabliert hat. Welche Bedeutung diese Zusammenarbeit hat und wie sich diese Interaktionen auf das Verhalten auswirken, ist noch weitgehend unbekannt.
Ein Forschungsteam des Sonderforschungsbereichs (SFB) 1182 „Entstehen und Funktionieren von Metaorganismen“ an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU) hat in einer aktuellen Studie neue Erkenntnisse über die Zusammenarbeit von Nervensystem und Mikrobiom gesammelt. Am Beispiel des Süßwasserpolypen Hydra untersuchten die Kieler Forschenden die neuronalen Grundlagen des Fressverhalten und ob und in welcher Weise das Mikrobiom in dieses Verhalten eingreift. Dabei konnten sie erstmals mechanistisch belegen, dass ein in seiner Vielfalt reduziertes Mikrobiom die Aktivität bestimmter Nervenzellen beeinflusst und dadurch das Fressverhalten beeinträchtigt wird. Ihre Forschungsergebnisse veröffentlichten sie heute in der renommierten Fachzeitschrift Current Biology.
Komplexe Zusammenarbeit von Nervenzellen steuert das Fressverhalten von Hydra
Der Süßwasserpolyp Hydra ist ein etwa einen Zentimeter großes Nesseltier, das im Flachwasserbereich von Seen an Wasserpflanzen angeheftet lebt und sich unter anderem von mikroskopisch kleinen Krebstieren ernährt. Um seine Beute zu fangen, ruft Hydra ein koordiniertes und relativ schnell ablaufendes Verhaltensprogramm ab. „Dieses Verhalten lässt sich experimentell gut untersuchen, da es nicht nur durch die lebende Beute, sondern auch durch das Peptid Glutathion ausgelöst werden kann, das man den Tieren in den Kulturschalen zuführen kann“, erklärt Christoph Giez, SFB 1182-Mitglied und Doktorand in der Arbeitsgruppe Zell- und Entwicklungsbiologie am Zoologischen Institut. „Dem Fressverhalten liegt eine neuronale Steuerung zugrunde, die deutlich komplexer ist, als man es bisher vom einfachen Nervennetz der Hydra angenommen hatte“, so Giez weiter. Mit einer kalzium-basierten Visualisierungsmethode konnte das Kieler Team die am Fressverhalten beteiligten Nervenpopulationen in Echtzeit im lebenden Tier beobachten und so den beteiligten neuronalen Schaltkreis identifizieren.
Zusammensetzung des Mikrobioms beeinflusst natürliches Fressverhalten
Um einen Zusammenhang von Mikrobiom und Fressverhalten zu überprüfen, untersuchten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zunächst künstlich keimfrei gemachte Tiere: Hydren ohne Mikrobiom zeigten ein deutlich verändertes Verhaltensmuster, dass sich vor allem in einer kürzeren Dauer der Mundöffnung äußerte. „Durch das erneute Hinzufügen des Mikrobioms stellte sich das normale Fressverhalten bei diesen Tieren wieder ein. Damit konnten wir den direkten Einfluss des Mikrobioms nachweisen“, betont Giez.
Um herauszufinden, welche Bakterien einen besonders deutlichen Einfluss haben, besiedelten die Kieler Forscher im nächsten Schritt keimfreie Tiere zunächst mit je einer definierten Bakterienart. „Ein besonders interessanter Effekt zeigte sich bei der Besiedlung mit dem Bakterium Curvibacter. Das Fressverhalten ist bei Tieren, die nur mit Curvibacter besiedelt sind, sehr stark beeinträchtigt: Diese Tiere können den Mund nur noch sehr eingeschränkt öffnen“, so Giez weiter.
In weiteren Studien stellte sich heraus, dass Curvibacter die Aminosäure Glutamat produziert, die eine wichtige Rolle auch im menschlichen Stoffwechsel spielt. Wenn das Mikrobiom in seiner Zusammensetzung stark reduziert ist und nur noch Curvibacter vorhanden ist, sammelt sich Glutamat an, bindet an Neuronen und führt zu einer Blockade der Mundöffnung. Der hemmende Effekt der Curvibacter-Bakterien wird aufgehoben, sobald man dem Gewebe auch die restlichen Mitglieder des Mikrobioms wieder zuführt.
„Insgesamt konnten wir so nachweisen, dass bereits in stammesgeschichtlich uralten Tieren ein vielfältiges Mikrobiom für ein normales Fressverhalten notwendig ist. Ist dieses Mikrobiom in seiner Zusammensetzung stark gestört, kommt es zu deutlichen Verhaltensänderungen“, fasst Professor Thomas Bosch, Leiter der Arbeitsgruppe Zell- und Entwicklungsbiologie, zusammen. Die Forschenden haben Hinweise gesammelt, dass dies auf Wechselwirkungen zwischen den verschiedenen Mitgliedern des Mikrobioms beruht. Liegt ein artenreiches, „normales“ Mikrobiom vor, wird das produzierte Glutamat von anderen Bakterienarten aufgenommen und verwertet und der für das Fressverhalten verantwortliche neuronale Schaltkreis nicht gestört.
Hydra eröffnet Spektrum neuartiger Forschungsperspektiven
Die neuen Forschungsergebnisse des SFB 1182-Teams liefern mit ihrem mechanistischen Nachweis der Zusammenarbeit von Mikrobiom und Nervensystem wichtige neue Ansätze für vertiefende Forschungsarbeiten. „Unsere Studie öffnet die Tür für die weitere Erforschung der Auswirkungen des Zusammenspiels von Mikrobiom und Nervensystem auf die Funktionen des Gesamtlebewesens. Unter anderem wollen wir in Zukunft herausfinden, ob und wie Mikroorganismen bereits an der Ausbildung des Nervensystems während der Embryonalentwicklung beteiligt sind und welchen Anteil das Mikrobiom an der Herstellung von Neurotransmittern hat“, betont Bosch.
Langfristig ergeben sich aus der Aufklärung dieser Einzelbausteine verschiedene faszinierende Forschungsperspektiven, die auch auf eine Verbesserung der menschlichen Gesundheit abzielen. „Vielleicht gelingt uns mit einem besseren Verständnis der Wechselwirkungen zwischen Nervenzellen und Bakterien im Modelltier Hydra auch ein Blick in die Mechanismen, die zu neurologischen und neurodegenerativen Krankheiten des Menschen führen können. Obwohl das Vorkommen dieser Erkrankungen weltweit sehr hoch ist, sind die Mechanismen ihrer Pathogenese noch nicht verstanden“, so Bosch, Sprecher des SFB 1182.
Originalpublikation:
Christoph Giez, Denis Pinkle, Yan Giencke, Jörg Wittlieb, Eva Herbst, Tobias Spratte, Tim Lachnit, Alexander Klimovich, Christine Selhuber-Unkel, Thomas Bosch (2023): Multiple neuronal populations control the eating behavior in Hydra and are responsive to microbial signals. Current Biology First published: 22. November 2023
https://doi.org/10.1016/j.cub.2023.10.038

22.11.2023, Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung (IZW) im Forschungsverbund Berlin e.V.
Viele Wege führen ins Winterquartier: Muster saisonaler Zugbewegungen der Fledermäuse komplexer als bisher angenommen
Einige Fledermausarten ziehen im Spätsommer aus dem Norden Europas entlang der Küstenlinien in ihre Überwinterungsgebiete in Zentral- und Westeuropa. Bisher galt die Vermutung, dass alle Fledermäuse dabei dieselbe Richtung einschlagen. Die Realität ist jedoch komplexer. An der lettischen Ostseeküste rekonstruierte ein Forschungsteam unter der Leitung des Leibniz-Instituts für Zoo- und Wildtierforschung (Leibniz-IZW) mit Hilfe von Ultraschallmikrofonen die Flugbahnen von Rauhautfledermäusen. Die Tiere flogen im Spätsommer mehrheitlich nach Süden, an manchen Tagen war jedoch ein Fünftel der Tiere – vermutlich wetterbedingt – in entgegengesetzter Richtung gen Norden unterwegs.
An den Küsten und auf hoher See von Nord- und Ostsee wächst die Anzahl der Windkraftanlagen beständig. Weil sich Fledermäuse also länger als bisher bekannt entlang der Küstenlinien aufhalten und zum Teil auch auf hohe See ausweichen und „Umwege“ fliegen, stellen diese Windkraftanlagen eine größere (tödliche) Gefahrenquelle dar, als bisher angenommen wurde, schließt das Team in einem Aufsatz in der Fachzeitschrift „Global Ecology and Conservation“.
Die europäische Rauhautfledermaus hält unter den Fledermäusen den Langstreckenweltrekord im saisonalen Zug. Tiere, die im Baltikum und Russland beringt wurden, wurden zum Beispiel in mehr als 2.000 km Entfernung in Nordspanien wiedergefunden. Für die 8 Gramm schweren Tiere ist das eine beträchtliche Leistung. Während des Zugs sollten die Tiere also ohne Umwege ihr Überwinterungsgebiet anstreben. Rauhautfledermäuse ziehen besonders entlang der Küstenlinien der Nord- und Ostsee. Derartige Migrationskorridore sind für ziehende Tiere wie Autobahnen. Bislang herrschte die Vorstellung, dass es für die Fledermäuse auf diesen „Autobahnen“ im Spätsommer nur in eine Richtung ging, nach Süden und Südwesten in Richtung der Überwinterungsgebiete in Zentral- und Westeuropa. Ein Hin und Her würde Energie kosten, die eigentlich für den Winterschlaf im Überwinterungsgebiet benötigt wird.
„Rauhautfledermäuse aus dem Baltikum könnten jedoch neben der Hauptzugrichtung Süden zunächst auch nach Norden fliegen, um eventuell die Ostsee von Finnland aus nach Schweden zu queren“ berichtet Christian Voigt, Leiter der Abteilung für Evolutionäre Ökologie am Leibniz-IZW. „Da Fledermäuse allerdings aufgrund ihrer geringen Größe und nächtlichen Lebensweise nur schwer zu beobachten sind, mussten wir uns einer besonderen Technik bedienen, um die Flugrouten zu rekonstruieren und diese Annahme zu bestätigen oder zu entkräften.“
Fledermäuse stoßen zur Orientierung in der Nacht und bei der Insektenjagd hochfrequente, für den Menschen nicht hörbare Rufe aus. Derartige Echoortungsrufe lassen sich über Ultraschalldetektoren erfassen. Werden mehrere Ultraschalldetektoren synchron betrieben, lässt sich aus Laufzeitdifferenzen, die sich aus unterschiedlichen Wegstrecken zwischen der echoortenden Fledermaus und den Mikrofonen ergeben, die Raumposition der Fledermaus ermitteln. „Wir setzten ein System aus acht Ultraschallmikrofonen ein, die in definiertem Abstand zueinander auf einem Metallgestänge befestigt sind, und konnten so für individuelle Fledermäuse ihre exakte Raumposition ermitteln“, erläutert Jens Koblitz vom Max-Planck-Institut für Verhaltensbiologie in Konstanz. „Aus aufeinanderfolgenden Raumpositionen lässt sich die Flugbahn jeder erfassten Fledermaus rekonstruieren“.
Das Team erfasste auf diese Weise in drei Sommernächten die Flugbahnen von mehr als 400 ziehenden Rauhautfledermäusen an der lettischen Ostseeküste. Die Mehrzahl der Fledermäuse zog der Küstenlinie folgend gen Süden. Allerdings beobachteten die Forschenden an einem Tag, dass ein Fünftel der Tiere gen Norden flog, während die Mehrheit die naheliegende Route Richtung Süden einschlug. Die Ursachen hierfür sind noch unklar. Möglicherweise können ungünstige Wetterverhältnisse auf der Zugstrecke dazu führen, dass Rauhautfledermäuse Richtung Norden ausweichen und eine alternative Route wählen. Oder sie fliegen eine kurze Strecke im Migrationskorridor zurück, um auf günstigere Bedingungen für den Weiterflug zu warten.
„Wir entdecken jedes Jahr neue interessante Details über den Fledermauszug“ fasst Gunārs Pētersons, Professor an der University of Life Sciences and Technologies im lettischen Jelgava, die Ergebnisse der Untersuchung zusammen. „Mir bereitet das Hin und Her der Fledermäuse allerdings Sorge, da es an den Küstenlinien immer mehr Windkraftanlagen gibt und die Tiere länger in diesen Gefahrenzonen unterwegs sind, wenn sie nicht den direktesten Weg wählen.“
Aktuell werden von den Anrainerstaaten der Ostsee und Nordsee Tausende von Windenergieanlagen betrieben oder in naher Zukunft aufgestellt, da Küstenstandorte starken und steten Wind und somit eine hohe Energieproduktion versprechen. Da insbesondere ziehende Fledermäuse an Windenergieanlagen versterben, steht die Windenergieproduktion an den Küsten potenziell mit Naturschutzzielen in Konflikt. „Ziehende Tierarten sind besonders anfällig gegenüber Lebensraumveränderungen, da sie davon abhängig sind, dass eine Vielzahl von Lebensräumen zu genauen Zeitpunkten die passenden Lebensbedingungen aufweisen. Für die Rauhautfledermaus ist beispielsweise jeder ökologische Trittstein zwischen den Fortpflanzungsstätten im Norden und den Überwinterungsgebieten lebenswichtig“, sagt Christian Voigt. „Deshalb stehen Zugvögel wie auch ziehende Fledermäuse unter dem besonderen Schutz des Umweltprogramms der Vereinten Nationen. Deutschland und viele Anrainersatten der Ost- und Nordsee haben sich vertraglich dem Schutz von ziehenden Tierarten verpflichtet. Die UN-Konvention zum Schutz migrierender Tiere gebietet, neben dem Naturschutzrecht der EU und dem nationalen Naturschutzrecht, den Anrainerstaaten von Ost- und Nordsee dafür Sorge zu tragen, dass Zugfledermäuse wohlbehalten zwischen ihren Sommer- und Winterlebensräumen wandern können.“ In ihrem Aufsatz fordert das Forschungsteam daher, dass der Windenergieausbau an den Küstenstandorten mit großer Sorgfalt und Umsicht erfolgen muss. Es sollte ausreichend Platz für die ziehenden Fledermäuse verbleiben. Dann erreichen auch in Zukunft Langstreckenflieger wie die Rauhautfledermaus ihr Ziel.
Originalpublikation:
Voigt CC, Kionka J, Koblitz JC, Stilz P, Pētersons G, Lindecke O (2023): Bidirectional movements of Nathusius’ pipistrelle bats (Pipistrellus nathusii) during autumn at a major migration corridor. Global Ecology and Conservation. DOI: 10.1016/j.gecco.2023.e02695

24.11.2023, Staatliches Museum für Naturkunde Stuttgart
Flügelmerkmale bei ursprünglichen Insekten entschlüsselt
Eintagsfliegen sind ursprüngliche Insekten, die eine Eigenschaft besitzen, die sie von allen anderen Fluginsekten unterscheidet: Aus deren Larven schlüpft ein geflügeltes Zwischenstadium des Tieres, die so genannte Subimago, das noch nicht fortpflanzungsfähig ist und das sich nach kurzer Zeit samt seiner Flügel erneut zum erwachsenen Insekt häutet. Einem internationalen Team um Dr. Arnold Staniczek, Insektenspezialist am Naturkundemuseum Stuttgart, ist es nun mit modernen Technologien gelungen, einen wesentlichen Mechanismus bei dieser so genannten „Subimaginalhäutung“ zu entschlüsseln.
Flügel von Eintagsfliegen sind durch Flügeladern verstärkt, die in manchen Bereichen blasenförmige Schwachstellen aufweisen, so genannte „Bullae“. Die nun durchgeführten Untersuchungen wiesen nach, dass diese Schwachstellen in den Flügeln von Eintagsfliegen nicht wie bisher angenommen eine Rolle beim Flug spielen, sondern entscheidend für die Häutung zum erwachsenen Fluginsekt sind. Die Ergebnisse lieferten dadurch auch Hinweise im Hinblick auf die Evolution der Fluginsekten. Die Forschungsarbeit wurde in der Fachzeitschrift „BMC Biology“ veröffentlicht.
Moderne Technologien helfen bei der Untersuchung der Flügelstrukturen
Seit 70 Jahren war die vorherrschende Lehrmeinung, dass den Schwachstellen in den Flügeladern der Eintagsfliegen eine wesentliche Funktion beim Flug der altertümlichen Insekten zukommt. Die Annahme war bisher, dass der äußere Teil des Flügels beim Aufschlag passiv nach unten abknickt, um weniger Luftwiderstand zu bieten und so ein leichteres Anheben des Flügels ermöglicht. Diese Theorie wurde nun mit neuen Untersuchungsmethoden kritisch überprüft.
„Als wir mit einer Hochgeschwindigkeitskamera Ultrazeitlupen vom Flug der Eintagsfliegen machten, stellten wir bald fest, dass die bisherige Theorie nicht stimmen konnte: Statt die Flügel beim Aufschlag abzuknicken, werden diese einfach senkrecht nach oben geführt, der Flügel selbst bleibt aber stabil“, so der Insektenexperte Dr. Arnold Staniczek. Eine Lösung des Rätsels um die Flügelblasen ergab deren anschließende Untersuchung mit modernen Technologien. Die Feinstruktur wurde mittels Rasterelektronenmikroskop, Mikro-CT und Fluoreszenzmikroskopie aufgeklärt und bestätigte, dass es sich bei diesen Strukturen um membranöse Stellen in den ansonsten versteiften Flügeladern beider geflügelter Stadien bei Eintagsfliegen handelt.
Als das Team dann die Häutung der Tiere von der Subimago zur Imago, also vom geflügelten Zwischenstadium zum erwachsenen Insekt, filmte, war klar, was es mit den Bullae auf sich hat: „Um die neuen Flügel aus dem „Häutungshemd“ der alten Flügel zu befreien, heben die Eintagsfliegen die Flügel an. Diese knicken dann an den definierten Schwachstellen ab und ermöglichen dadurch das unbeschädigte Herausziehen aus dem alten Flügel. Ähnlich geht es uns beim Ausziehen eines Pullovers, was auch nur mit abgeknicktem Arm möglich ist“, sagt Dr. Arnold Staniczek. Das Forscherteam konnte ebenfalls belegen, dass bei den wenigen Eintagsfliegen mit abgewandelter oder verlorengegangener Subimaginalhäutung die Bullae im Flügel fehlen.
Wichtige Hinweise zur Evolution des Insektenflugs
Mit den Bullae wurde nun ein zuverlässiger Marker gefunden, mit dem eine Subimaginalhäutung nachgewiesen werden kann. Als Dr. Staniczek anschließend fossile Eintagsfliegen untersuchte, konnte er überraschenderweise Bullae selbst in 272 Millionen Jahre alten Fossilien aus dem Perm nachweisen. Dies zeigt, dass auch urzeitliche Vorfahren der heutigen Eintagsfliegen bereits ihre Flügel auf die gleiche Weise gehäutet haben. Dies gilt als wichtiger Beleg dafür, dass es sich bei der Subimaginalhäutung tatsächlich um ein ursprüngliches Merkmal handelt, das sich bei Eintagsfliegen bis heute erhalten hat. Bullae und das Stadium der Subimago sind heute bei anderen Fluginsekten nicht mehr zu finden. Bei den Eintagsfliegen hingegen könnte dieses Zwischenstadium aufgrund von Selektionsvorteilen im Zusammenhang mit dem Übergang von einem Leben im Wasser zu einem Leben an Land evolutionär erhalten geblieben sein. „Die Arbeit liefert neue Erkenntnisse und Grundlagen für weitere Forschungen zur Evolution der Fluginsekten. Eine gründliche Suche nach Bullae in fossilen Insekten könnte zeigen, ob auch andere Fluginsekten solche geflügelten Zwischenstadien hatten und an welchem Punkt der Evolution dieses Lebensstadium verloren ging“, so Dr. Arnold Staniczek.
Originalpublikation:
Eduardo Domínguez, Thomas van de Kamp, István Mikó, M. Gabriela Cuezzo and Arnold H. Staniczek: The function of wing bullae in mayflies (Insecta: Ephemeroptera) reveals new insights into the early evolution of Pterygota. BMC Biology.
DOI: https://doi.org/10.1186/s12915-023-01750-8

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