Neues aus Wissenschaft und Naturschutz

01.09.2023, Universität zu Köln
Insekten können Handlungen ähnlich wie Säugetiere steuern
Ein Kölner Forschungsteam identifiziert den Pilzkörper als Zentrum für Verhaltensentscheidungen im Insektengehirn / Studie im Fachblatt „Current Biology“ erschienen
Der Pilzkörper – eine Schaltstelle im Zentralgehirn von Gliederfüßern – ist dafür verantwortlich, dass Insekten abstrakte Verhaltensentscheidungen treffen können, die dann durch nachgeschaltete motorische Zentren ausgeführt werden. Zu diesem Ergebnis kamen Professor Dr. Martin Paul Nawrot und Dr. Cansu Arican von der Arbeitsgruppe „Computational Systems Neuroscience“ am Institut für Zoologie der Universität zu Köln. Die Studie ist unter dem Titel „The mushroom body output encodes behavioral decision during sensory-motor transformation“ in Current Biology erschienen.
In der Forschung galt lange, dass Insekten roboterartig nach einfachen Reiz-Reaktionsschemata agieren, doch diese Sicht hat sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten stark gewandelt: „Insekten besitzen einfache kognitiven Fähigkeiten wie die Bildung und der Abruf von Gedächtnissen und die erfahrungsbasierte Entscheidungsfindung. Trotz ihrer vergleichsweise kleinen Gehirne zeigen sie komplexe Verhaltensmuster“, sagt Professor Dr. Nawrot.
Die dafür notwendigen Leistungen des Nervensystems laufen bei wirbellosen Insekten und Säugetieren – und somit auch Menschen – in vielerlei Hinsicht nach ähnlichen Grundprinzipien ab. Dazu gehören eine schnelle sensorische Verarbeitung von Umwelteindrücken und deren Bewertung, ein Abgleich mit erlernter Erfahrung (und daraus abgeleitet eine zuverlässige Entscheidung zwischen möglichen Verhaltensoptionen) sowie letztlich die motorische Durchführung einer Verhaltenssequenz.
15 Jahre Forschung an Gehirn-Schaltkreis
Ein wichtiges Schaltzentrum im Zentralgehirn des Insekts, das aufgrund seiner anatomischen Form als Pilzkörper bezeichnet wird, ist ausschlaggebend für die Bildung von Gedächtnissen. In den letzten 15 Jahren haben unterschiedliche Forschungsvorhaben gezeigt, dass die Gedächtnisinformation über den Wert eines sensorischen Reizes am Ausgang des Pilzkörpers kodiert wird. Im Rahmen der seit 2018 durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft geförderten Forschungsgruppe 2705 „Entschlüsselung eines Gehirn-Schaltkreises: Struktur, Plastizität und Verhaltensfunktion des Pilzkörpers von Drosophila“ trägt auch das Kölner Team um Professor Nawrot zu dieser Forschung bei. So bestimmen Insekten, ob ein bestimmter Reiz zuvor als positiv abgespeichert wurde (etwa ein Duft, der Nahrung verspricht) oder als negativ (etwa ein Duft von krankmachenden Stoffen wie schädliche Bakterien im Futter). Jüngste Arbeiten haben zusätzlich gezeigt, dass die Ausgangsneurone des Pilzkörpers auch solche sensorischen Reize bewerten, die für angeborenes, das heißt nicht erfahrungsbasiertes Verhalten relevant sind.
Neue Funktion des Pilzkörpers beschrieben
Im nun vorliegenden Artikel hat Erstautorin Dr. Cansu Arican in ihren Experimenten die Aktivität der Ausgangsneurone im Pilzkörper in der Amerikanischen Schabe (Periplaneta americana) gemessen und gleichzeitig das Fressverhalten der Tiere gefilmt. Die Wahl fiel auf diese große Insektenart, da sie ein im Vergleich zur Fruchtfliege, die oft in der Grundlagenforschung als Modellorganismus dient, ein sehr viel größeres Gehirn besitzt. Das erlaubt die elektrische Messung neuronaler Signale, wodurch es möglich war, sowohl die Reizstimulation mit verschiedenen Düften als auch die neuronalen Antworten im Pilzkörper – und letztlich das Fressverhalten des Tieres – als mögliche Verhaltensreaktion auf den Reiz mit hoher zeitlicher Präzision simultan zu messen und zu interpretieren.
Das Forschungsteam beobachtete, dass die Neurone am Ausgang des Pilzkörpers nicht nur den Wert eines bestimmten Duftes kodieren, zum Beispiel einen Futterduft im Vergleich zu einem neutralen Duft, sondern sich auf der Grundlage dieser Information auch für oder gegen das jeweilige Fressverhalten entscheiden. Dabei treffen sie die Verhaltensentscheidung nicht nur auf der Grundlage der Information über den „Wert“ des Duftes, sondern es spielt auch der momentane Zustand des Tieres eine Rolle, zum Beispiel, ob es in dem Moment hungrig oder satt ist. Im jeweiligen Versuchsdurchgang und auf Basis des neuronalen Antwortmusters war es so möglich, präzise vorherzusagen, ob das Tier nur etwa ein Zehntel Millisekunden später das Fressverhalten zeigt oder nicht.
Ähnlich der motorischen Großhirnrinde im menschlichen Gehirn fällt der Pilzkörper somit eine erste Verhaltensentscheidung und sendet ein abstraktes motorisches Kommando an das nachgeschaltete motorische System – in der Analogie des Menschen ist dies das Rückenmark – welches das Verhalten dann durch die konkrete Ansteuerung von Muskeln ausführt. „Dieses Ergebnis ändert die Sichtweise auf den Pilzkörper, der nun als Zentrum für Gedächtnisbildung und Verhaltensentscheidung gesehen werden kann. Das ist wichtig, da die Erforschung von Insektengehirnen auch für das Verständnis der Funktion von komplexeren Gehirnen relevant ist“, resümiert Dr. Cansu Arican.
Die Studie wurde durch Fördermittel der Deutschen Forschungsgemeinschaft und des NRW Netzwerks „iBehave“ unterstützt.
Originalpublikation:
https://www.cell.com/current-biology/fulltext/S0960-9822(23)01059-X

04.09.2023, Deutsches Zentrum für integrative Biodiversitätsforschung (iDiv) Halle-Jena-Leipzig
Die meisten Arten sind selten. Aber nicht sehr selten
Über 100 Jahre Naturbeobachtungen haben ein potenziell universelles Muster der Artenhäufigkeit enthüllt: Die meisten Tier- und Pflanzenarten sind selten, aber nicht sehr selten, und nur wenige Arten sind sehr häufig. Diese sogenannte „globale Artenhäufigkeitsverteilung“ ist für intensiv untersuchte Artengruppen wie die Vögel mittlerweile lückenlos erfasst. Für andere Artengruppen wie die Insekten ist das Muster noch unvollständig. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie, die in der Fachzeitschrift Nature Ecology and Evolution veröffentlicht wurde. Sie zeigt, wie wichtig das Monitoring der Biodiversität ist, um die globale Artenhäufigkeit zu bestimmen und ihren Wandel zu verstehen.
„Wer kann erklären, warum eine Art weit verbreitet und sehr häufig ist und warum eine andere, verwandte Art nur eine geringe Verbreitung hat und selten ist?“ Diese Frage stellte Charles Darwin vor über 150 Jahren in seinem bahnbrechenden Buch „The Origin of Species“. Eng verknüpft ist die Frage, wie viele Arten häufig und wie viele selten sind – die sogenannte globale Artenhäufigkeitsverteilung (global species abundance distribution, gSAD).
Wissenschaftler haben im vergangenen Jahrhundert zwei bedeutende gSAD-Modelle vorgeschlagen: Laut dem Modell von R. A. Fisher, einem Statistiker und Biologen, sind sehr seltene Arten (solche mit wenigen Individuen) am häufigsten, und die Zahl der Arten nimmt ab, je mehr Individuen es von ihnen gibt (Log-Serien-Modell). F. W. Preston, ein Ingenieur und Ökologe, meinte dagegen, dass nur wenige Arten sehr selten sind und die meisten Arten eine mittlere Häufigkeit (an Individuen) aufweisen (Log-Normal-Modell). Trotz jahrzehntelanger Forschung wussten die Wissenschaftler bis heute nicht, welches Modell die globale Artenhäufigkeit am zutreffendsten beschreibt.
Klar war, dass sich dieses Problem nur mit sehr vielen Daten lösen lässt. Die Autoren der Studie nutzten die Global Biodiversity Information Facility (GBIF) mit über einer Milliarde Artenbeobachtungen zwischen 1900 und 2019.
„Die GBIF-Datenbank ist eine fantastische Ressource für verschiedenste Fragen der Biodiversitätsforschung, vor allem deshalb, weil sie Daten aus der professionellen Forschung mit Daten von Bürgerwissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern aus der ganzen Welt zusammenführt“, sagt Erstautor Dr. Corey Callaghan. Er begann die Studie bei iDiv und an der MLU und arbeitet jetzt an der UF.
Callaghan und seine Forscherkollegen unterteilten die Daten in 39 Artengruppen, z. B. Vögel, Insekten oder Säugetiere. Für jede dieser Gruppen erstellten sie die globale Artenhäufigkeitsverteilung.
Die Forscher fanden ein potenziell universelles Muster, das erkennbar wird, sobald die Artenhäufigkeitsverteilung vollständig enthüllt ist: Die meisten Tier- und Pflanzenarten sind selten, aber nicht sehr selten, und nur wenige Arten sind sehr häufig – so wie es Prestons Log-Normal-Modell vorhersagt. Die Forscher stellten auch fest, dass dieses Muster erst für wenige Artengruppen wie Vögel oder Palmfarne vollständig enthüllt worden ist. Für alle anderen Artengruppen sind die Daten noch zu unvollständig.
„Wenn man nicht genügend Daten hat, sieht es so aus, als ob die meisten Arten sehr selten sind“, sagt der Letztautor der Studie, Prof. Henrique Pereira, Forschungsgruppenleiter bei iDiv und an der MLU. „Aber wenn neue Beobachtungen hinzukommen, ändert sich das Bild. Dann sieht man, dass es tatsächlich mehr seltene als sehr seltene Arten gibt. Wir können diese Verschiebung sehr schön für Palmfarne und Vögel sehen, wenn wir die Artenbeobachtungen von 1900 bis heute vergleichen. Es ist faszinierend: Man sieht die sukzessive Enthüllung der wahren globalen Artenhäufigkeitsverteilung, so wie Preston sie vor vielen Jahrzehnten vorhergesagt hat. Wir sehen jetzt, dass er richtig lag.“
„Obwohl wir seit Jahrzehnten Arten beobachten und Daten sammeln, haben wir das typische Muster erst für wenige Artengruppen enthüllt“, ergänzt Callaghan. „Wir haben noch einen langen Weg vor uns. Aber GBIF und die gemeinsame Datennutzung sind für mich die Zukunft der Erforschung und des Monitorings von Biodiversität.“
Die neue Studie hilft den Wissenschaftlern, den Enthüllungsgrad der Artenhäufigkeitsverteilungen abzuschätzen. Dies wiederum könnte eine weitere, langjährige Forschungsfrage beantworten: Wie viele Arten gibt es insgesamt auf der Erde? Die Studie zeigt, dass für einige Gruppen (Vögel, Palmfarne) fast alle Arten entdeckt und beschrieben worden sind, für andere (Insekten, Kopffüßer …) dagegen nicht.
Die Forscher glauben, dass ihre Ergebnisse dazu beitragen könnten, Darwins Frage zu beantworten, warum manche Arten selten und andere häufig sind. Das von ihnen teilweise enthüllte, möglicherweise universelle Muster könnte auf grundlegende Mechanismen hinweisen, welche die unterschiedlichen Artenhäufigkeiten erklären. Während weiter geforscht wird, verändert unser Handeln die Häufigkeit von Arten. Dies erschwert die Aufgabe der Forscher: Sie müssen nicht nur verstehen, wie sich Artenhäufigkeiten natürlicherweise entwickeln, sondern auch wie sie gleichzeitig vom Menschen verändert werden. Bis zur endgültigen Beantwortung von Darwins Frage ist es vielleicht noch ein weiter Weg.
Originalpublikation:
Callaghan, C. T., Borda-de-Água, L., van Klink, R., Rozzi, R., Pereira, H. M. (2023). Unveiling the global species abundance distributions of Eukaryotes, Nature Ecology and Evolution. DOI: 10.1038/s41559-023-02173-y

04.09.2023, Universität Wien
Invasive Arten bedrohen die globale Vielfalt und Lebensgrundlage
In Österreich gibt es mehr als 2.000 nicht-heimische Arten – Neobiota sind für 60 Prozent der ausgestorbenen Arten weltweit mitverantwortlich
Invasive nicht-heimische Arten sind eine der Hauptursachen des weltweiten Artenverlusts und bedrohen die menschliche Lebensgrundlage und Gesundheit. Ein neuer Bericht des Weltbiodiversitätsrats IPBES fasst erstmals den aktuellen Stand der Forschung weltweit zusammen und beschreibt, welche Handlungsoptionen zur Verfügung stehen. Bernd Lenzner und Franz Essl von der Universität Wien waren Teil des internationalen Expert*innenteams, das über die vergangenen Jahre Informationen aus über 13.000 Fachartikeln zusammengetragen hat.
Nicht-heimische Arten (auch Neobiota genannt) sind mittlerweile auf allen Kontinenten zu finden, sogar in der abgeschiedenen Antarktis. Mit Beginn der kolonialen Expansion und der daraus folgenden wirtschaftlichen und politischen Vernetzung über Kontinente hinweg begann der Siegeszug der Neobiota. „Mehr als die Hälfte dieser Neobiota wurde aber erst seit der Mitte des 20. Jahrhunderts verschleppt. Wir haben es also mit einer rasanten Zunahme von Neobiota zu tun“, erläutert Bernd Lenzner, Mitautor des Berichts des Weltbiodiversitätsrates.
37.000 Neobiota wurden weltweit bereits durch den Menschen verschleppt
„Insgesamt kommen mittlerweile weltweit mehr als 37.000 Arten als Neobiota vor – in Österreich alleine sind es mehr als 2.000“, so Lenzner. Auch heute werden immer noch Arten absichtlich (z.B.: als Gartenpflanzen oder Haustiere) oder unabsichtlich (z.B.: als Saatgutverunreinigungen oder blinde Passagiere beim Transport von Waren) weltweit verschleppt. Ein Rückgang dieses Trends ist trotz steigender Importbeschränkungen nicht abzusehen. So wurden beispielsweise in den letzten zwei Jahrzehnten der Asiatische Marienkäfer oder der Erreger des Eschentriebsterbens in Österreich eingeschleppt.
60 Prozent der ausgestorbenen Arten geht teilweise oder ganz auf das Konto von Neobiota
Invasive Arten können erheblichen Schaden anrichten: Sie führen als Schädlinge zu Ertragsausfällen in der Landwirtschaft, wie der Maiswurzelbohrer, oder sie können Krankheiten übertragen, wie etwa die Tigermücke. „Andere Neobiota wiederum verdrängen heimische Arten – mit massiven Folgen für die globale Artenvielfalt“, erläutert Franz Essl, Biodiversitätsforscher an der Uni Wien und ebenfalls Mitautor des Berichts. Und er ergänzt: „Bei 60 Prozent der ausgestorbenen Arten waren Neobiota maßgeblich beteiligt. Besonders auf Inseln oder abgelegenen Kontinenten wie Australien waren vom Menschen neu eingeführte Arten die Hauptursache des Aussterbens.“
Viele Arten wie der Dodo auf Mauritius wurden durch Räuber wie Ratten ausgerottet. In Österreich stehen heute alle heimischen Flusskrebsarten am Rande des Aussterbens als Folge der Krebspest; eine Krankheit, die durch nordamerikanische Flusskrebse übertragen wird. Besorgniserregend sind die wirtschaftlichen Schäden durch Neobiota – der aktuelle Bericht beziffert sie auf $ 423 Milliarden US-Dollar (400 Mrd. €) jährlich, eine Vervierfachung pro Jahrzehnt seit 1970.
Handlungsoptionen für die Zukunft: Prävention und Früherkennung
Einen besonderen Schwerpunkt legt der Bericht auf die Handlungsoptionen, um künftige Schäden durch invasive Neobiota zu vermeiden. Eine Vielzahl an Beispielen illustriert, dass invasive Arten erfolgreich bekämpft und somit ihre negativen Effekte stark reduziert werden können. „Der kosteneffektivste Weg ist jedoch die Prävention, Früherkennung und schnelle Bekämpfung von Neobiota“, betont Bernd Lenzner. Effektives Management ist aber nur durch gut koordinierte nationale und internationale Anstrengungen möglich. Internationale Abkommen wie die kürzlich von der Staatengemeinschaft verabschiedeten Kunming-Montreal-Biodiversitätsziele sind ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Entscheidend ist aber, dass jedes Land, auch Österreich, rasch Maßnahmen setzt – dazu gehört auch eine bessere Umsetzung der EU-Invasionsverordnung.
Originalpublikation:
Bericht zu invasiven gebietsfremden Arten des Weltbiodiversitätsrats IPBES:
IPBES (2023). Summary for Policymakers of the Thematic Assessment Report on Invasive Alien Species and their Control of the Intergovernmental Science-Policy Platform on Biodiversity and Ecosystem Services. Roy, H. E., Pauchard, A., Stoett, P., Renard Truong, T., Bacher, S., Galil, B. S., Hulme, P. E., Ikeda, T., Sankaran, K. V., McGeoch, M. A., Meyerson, L. A., Nuñez, M. A., Ordonez, A., Rahlao, S. J., Schwindt, E., Seebens, H., Sheppard, A. W., and Vandvik, V. (eds.). IPBES secretariat, Bonn, Germany.
https://doi.org/10.5281/zenodo.7430692

04.09.2023, Universität Leipzig
Grünflächen in Deutschland könnten deutlich größeren Beitrag zum Erhalt der Artenvielfalt leisten
Auf privaten und öffentlichen Grünflächen in Deutschland könnten rund 40 Prozent der rückläufigen und gefährdeten heimischen Pflanzenarten gepflanzt werden und seien damit für Conservation Gardening geeignet. Zu dieser Erkenntnis kommen Forschende des Deutschen Zentrums für integrative Biodiversitätsforschung iDiv und der Universität Leipzig, nachdem sie die neuesten Daten der laut Roter Liste gefährdeten Arten aller 16 deutschen Bundesländer gesammelt haben. Die Ergebnisse ihrer Studie wurden nun in der Fachzeitschrift Scientific Reports veröffentlicht.
Die gesammelten Daten bieten die Grundlage für eine von den Forschenden entwickelte App, die Listen von Conservation Gardening geeigneten Pflanzen für jedes Bundesland der Öffentlichkeit zur Verfügung stellt.
Etwa 70 Prozent unserer Flora zeigt einen rückläufigen Trend, während 30 Prozent in ihrem Bestand gefährdet sind. Laut Meinungsumfragen des Bundesamts für Naturschutz steigt die gesellschaftliche Bereitschaft, dieser Biodiversitätskrise entgegenzuwirken. „Es bedarf neuer Ansätze, die Mensch und Biodiversität nicht mehr als voneinander getrennte Aspekte betrachten“, sagt Dr. Ingmar Staude von der Universität Leipzig. Die Millionen von Gärten in Deutschland bergen ein enormes Potenzial, die Menschen in den Artenschutz einzubeziehen. Dies könnte durch das Pflanzen rückläufiger heimischer Arten nebst den herkömmlichen Zierpflanzen geschehen. Allerdings war bisher unklar, wie viele solcher rückläufigen Arten tatsächlich für die Gartennutzung geeignet sind und inwieweit diese derzeit kommerziell verfügbar sind.
Die Forschenden nutzten für ihre Erhebung Daten von Websites von Pflanzen- und Saatgutherstellern, um die kommerzielle Verfügbarkeit der aufgeführten Arten zu bewerten. Auf dieser Grundlage erstellten sie eine App, um Privatgärtner:innen, Landschaftspfleger:innen und lokalen Behörden Pflanzenlisten zur Verfügung zu stellen, an Hand derer sie geeignete Pflanzen für den Naturschutz auswählen können. Je nach Bundesland variierten die gefährdeten Arten zwischen 515 und rund 1120 Arten, sagt Dr. Ingmar Staude: „Wir haben herausgefunden, dass zum Beispiel in Hamburg rund die Hälfte der bedrohten Arten, nämlich 352, für das Gärtnern geeignet sind, in Bayern rund ein Drittel, also 321 Arten.“ Mehr als die Hälfte der gefährdeten Arten sind derzeit schon im Handel erhältlich. „Knapp die Hälfte dieser Pflanzenarten bevorzugen trockene Böden. Bei herkömmlichen Gartenpflanzen sind es nur rund ein Drittel. Im Hinblick auf den Klimawandel ist dies ein beachtenswertes Ergebnis. Conservation Gardening schärft das gesellschaftliche Bewusstsein für die Biodiversitätskrise, während gleichzeitig partizipative Maßnahmen ergriffen werden, um dem Rückgang heimischer Pflanzenarten entgegenzuwirken.“
Originalpublikation:
https://www.nature.com/articles/s41598-023-39432-8
„Putting conservation gardening into practice“: DOI: 10.1038/s41598-023-39432-8

04.09.2023, Leibniz-Institut zur Analyse des Biodiversitätswandels
Mischfruchtanbau bietet Insektenschutz ohne Ertragsverluste
Wie können wir den drastischen Rückgang der Artenvielfalt stoppen? Eine aktuelle Studie unter Federführung des Leibniz-Institutes zur Analyse des Biodiversitätswandels (LIB) zeigt Lösungsmöglichkeiten für Agrarlandschaften. Die Untersuchungen belegen, dass Mischfruchtanbau die Vielfalt von Insekten und anderen Gliederfüßlern in der Landwirtschaft fördert, ohne die Erträge zu beeinträchtigten. Die Studie wurde jetzt im Fachmagazin Ecological Solutions and Evidence veröffentlicht.
Gliederfüßler (Arthropoden) spielen in Ökosystemen eine besonders wichtige Rolle. Bislang fehlte es an strategischen Experimenten, wie sich Gliederfüßler in einem diversen Nutzpflanzen-Umfeld entwickeln und auf den Einsatz von Chemikalien in der Landwirtschaft reagieren. Versuche im Ackerbau haben nun gezeigt, dass sich eine höhere Pflanzen-Biodiversität positiv auf die artenreiste Organismengruppe auswirkt, zu denen Insekten, Tausendfüßer sowie Krebs- und Spinnentiere zählen.
In der betreffenden Studie haben Forschende des LIB, der Universität Münster und der Universität Bonn untersucht, wie sich die Diversität und die Arten der Nutzpflanzen sowie der Einsatz von Agrochemikalien – jeweils in unterschiedlichen Kombinationen und mit verschiedenen Faktoren – auf die Biodiversität von Arthropoden auswirken. Außerdem wurde der Aufwuchs von Unkräutern und die Biomasse der Nutzpflanzen gemessen.
Die Ergebnisse zeigten, dass eine höhere Nutzpflanzen-Diversität im Mischfruchtanbau einen positiven Effekt auf die Menge und Vielfalt der Arthropoden hatte, unabhängig von der Landnutzungsintensität. Insbesondere Mischkulturen mit Ackerbohne, Saat-Lein oder Sommerraps wiesen eine besonders hohe Arthropoden-Biodiversität auf. So zeigte sich auch, dass üppig blühende Pflanzen für Arthropoden attraktiver waren als Hülsenfrüchte oder Getreide.
„Durch die Umstellung von Teilen unserer Monokulturen auf Mischkulturen könnten wir den Blütenbesuch von wenigen Tausend auf bis zu 1,5 Millionen Insektenbesuche pro Hektar erhöhen und somit wahrscheinlich auch Ökosystemdienstleistungen wie Bestäubung oder biologische Schädlingskontrolle indirekt fördern“, bilanziert Christoph Scherber, Stellvertretender Direktor des LIB. „Der Mischfruchtanbau erweist sich somit als vielversprechende Strategie gegen den Rückgang von Insekten in Agrarlandschaften. Damit ließen sich auch ausgedehnte Monokulturen aufwerten und als lebenswerte Landschaftsmatrix erhalten. Durch die Förderung der Artenvielfalt auf breiter Fläche können wir auch in der intensiven Landwirtschaft die Zukunft der Artenvielfalt sichern.“
Originalpublikation:
Ecological Solutions and Evidence, Originalstudie:
https://besjournals.onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1002/2688-8319.12267

05.09.2023, Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung
Invasive Arten: Globale Bedrohung für Natur, Wirtschaft, Ernährungssicherheit und menschliche Gesundheit
Neuer IPBES-Bericht liefert Belege, Instrumente und Optionen für den Umgang mit gebietsfremden Arten
37.000 gebietsfremde Arten wurden bis jetzt weltweit durch menschliche Aktivitäten eingeführt – mehr als 3.500 davon gelten als so schädlich, dass sie eine ernsthafte Bedrohung für die Natur und unsere Lebensqualität darstellen. Solche invasiven Arten spielen bei etwa 60 Prozent des weltweiten Aussterbens von Tieren und Pflanzen eine Schlüsselrolle. Die nicht-heimische Fauna und Flora verursacht zudem jährliche Kosten von über 392 Milliarden Euro, die sich seit den 1970er-Jahren in jedem Jahrzehnt vervierfacht haben. Zu diesem Ergebnis kommt ein internationales Team, unter ihnen Senckenberg-Wissenschaftler Dr. Hanno Seebens, in einem neu veröffentlichten Bericht des Weltbiodiversitätsrats (Intergovernmental Science-Policy Platform on Biodiversity and Ecosystem Services, IPBES). Die Forschenden plädieren für einen präventiven Umgang mit invasiven Arten und einen länder- und sektorübergreifenden Ansatz ihrer Kontrolle.
„Invasive Arten sind – neben dem Land- und Meeresnutzungswandel, der direkten Ausbeutung von Arten, dem Klimawandel und der Verschmutzung – eine der fünf gewichtigsten Ursachen für den weltweiten Verlust der biologischen Vielfalt“, erklärt Dr. Hanno Seebens vom Senckenberg Biodiversität und Klima Forschungszentrum Frankfurt. Der Frankfurter Wissenschaftler hat gemeinsam mit weiteren 85 Expert*innen aus 49 Ländern über vier Jahre mehr als 13.000 Quellen – wissenschaftliche Studien, behördliche Dokumente sowie Aufzeichnungen indigener Völker und lokaler Gemeinschaften – zu invasiven Arten ausgewertet. Der von ihnen neu veröffentlichte „Assessment Report on Invasive Species and their control“ des Weltbiodiversitätsrates IPBES wurde am vergangenen Samstag in Bonn von Vertreter*innen der 143 IPBES-Mitgliedsstaaten angenommen.
In ihrem Bericht betonen die Autor*innen, dass nicht alle gebietsfremden Arten zwingend invasiv und damit zu einer Bedrohung der heimischen Ökosysteme werden: Etwa 6 Prozent der gebietsfremden Pflanzen, 22 Prozent der gebietsfremden wirbellosen Tiere, 14 Prozent der gebietsfremden Wirbeltiere und 11 Prozent der gebietsfremden Mikroben gelten als invasiv. „Mehr als 2.300 der invasiven Arten finden wir in Gebieten, in denen indigene Völker und lokale Gemeinschaften leben – Menschen, die am stärksten von der Natur abhängig sind. Sie bedrohen dort deren Lebensqualität und kulturelle Identität“, ergänzt Seebens und fährt fort: „Global sehen wir, dass invasive Arten ein Hauptfaktor für 60 Prozent sowie der einzige Auslöser für 16 Prozent des weltweiten Aussterbens von Tieren und Pflanzen sind. Mindestens 1.200 Aussterbeereignisse von Tieren und Pflanzen können direkt auf 218 invasive Arten zurückgeführt werden.“ So hätten beispielsweise der Kanadische Biber (Castor canadensis) oder die Pazifische Auster (Magallana gigas) die von ihnen besiedelten Ökosysteme mit schwerwiegenden Folgen für heimische Arten verändert, heißt es in dem Bericht. Nahezu 80 Prozent der dokumentierten Auswirkungen invasiver Arten seien auch für den Menschen negativ: Die Karibische Miesmuschel (Mytilopsis sallei) verursacht zum Beispiel enorme wirtschaftliche Schäden in der indischen Fischerei, kommerziell betriebene Muschelbänke in Neuengland sind durch die invasive Gemeine Strandkrabbe (Carcinus maenas) gefährdet. Und auch gesundheitliche Folgen, einschließlich Krankheiten wie Malaria, Zika und West-Nil-Fieber, werden durch invasive Mückenarten wie Aedes albopictus und Aedes aegyptii hervorgerufen.
„Invasive Arten sind ein globales Problem mit lokalen, unterschiedlich starken Auswirkungen“, so Seebens und weiter: „34 Prozent der Auswirkungen biologischer Invasionen finden wir in Süd- und Nordamerika, 31 Prozent in Europa und Zentralasien, 25 Prozent in Asien und dem Pazifik, etwa 7 Prozent wurden aus Afrika gemeldet.“ Die verheerendsten Auswirkungen (etwa 75 Prozent) entstehen an Land – vor allem in Wäldern, Waldgebieten und kultivierten Flächen –, deutlich weniger in Süßwasser- (14 Prozent) und Meereslebensräumen (10 Prozent). Auf Inseln richten invasive Arten den größten Schaden an: Auf mehr als 25 Prozent aller Inseln übersteigt die Zahl gebietsfremder Pflanzen die der einheimischen Flora.
Das Forscher*innen-Team warnt, dass sich zukünftig – bedingt durch den globalen Klimawandel und die Zunahme des weltweiten Handels und Reisens – die Gesamtzahl der invasiven Arten noch erhöhen wird. „37 Prozent der heute bekannten 37.000 gebietsfremden Arten wurden seit 1970 gemeldet und sind größtenteils auf die zunehmende Globalisierung des Handels und Habitatzerstörung zurückzuführen“, fügt Seebens hinzu.
Die IPBES-Expert*innen verweisen auf die im Allgemeinen unzureichenden Maßnahmen zur Bewältigung der Herausforderungen durch invasive Arten. Während 80 Prozent der Länder in ihren nationalen Biodiversitätsplänen Ziele für den Umgang mit invasiven gebietsfremden Arten verankert haben, verfügen nur 17 Prozent der Länder über nationale Gesetze oder Vorschriften, die sich speziell mit diesen Fragen befassen. 45 Prozent aller Länder investieren überhaupt nicht in das Management biologischer Invasionen. Dies erhöhe auch das Risiko invasiver gebietsfremder Arten für Nachbarstaaten, so die Autor*innen.
„Positiv können wir hervorheben, dass künftige biologische Invasionen, das Ansiedeln invasiver Arten und ihre Auswirkungen durch ein wirksames Management und stärker integrierte Ansätze verhindert werden können. Es gibt fast für jeden Kontext und jede Situation Managementinstrumente, Steuerungsoptionen und gezielte Maßnahmen, die wirklich funktionieren“, erläutert Seebens und weiter: „Präventionsmaßnahmen – wie streng durchgesetzte Einfuhrkontrollen – sind dabei die beste und kosteneffizienteste Option, aber auch die Ausrottung, Eindämmung und Kontrolle von invasiven Arten sind in bestimmten Situationen wirksam. Zudem kann die Wiederherstellung von Ökosystemen die Widerstandsfähigkeit gegenüber künftigen Invasionen erhöhen.“
Die Autor*innen plädieren für Regularien auf internationaler Ebene, eine ausreichende Finanzierung von (Kontroll-)Maßnahmen, eine Sensibilisierung und Einbeziehung der breiten Öffentlichkeit, offene Informationssysteme und das Schließen von Wissenslücken. „Beim letzten Punkt ist auch die Wissenschaft gefragt – es gibt immer noch große Wissenslücken, vor allem für invasive Invertebraten und in Ländern Afrikas, Asiens und Südamerikas, die es zu schließen gilt. Besonders wichtig ist es aber, dass Maßnahmen implementiert und auch kontrolliert werden müssen“, fasst Seebens zusammen und schließt: „Im Rahmen der 15. Vertragsstaatenkonferenz zur biologischen Vielfalt (CBD COP15) in Montreal wurde beschlossen die Einführung und Ansiedlung invasiver Arten bis 2030 um mindestens 50 Prozent zu reduzieren. Unser IPBES-Bericht liefert die Belege, Instrumente und Optionen, die dazu beitragen, dass diese Verpflichtung erfüllt werden kann.“
Originalpublikation:
IPBES Invasive Alien Species Assessment: Summary for Policymakers
https://zenodo.org/record/8314303

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