Neues aus Wissenschaft und Naturschutz

28.08.2023, Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung
Meereisrückgang lässt Zooplankton künftig länger in der Tiefe bleiben
Sonnenlicht kann wegen der zunehmenden Meereisschmelze in der Arktis immer tiefer in den Ozean eindringen. Weil sich das Zooplankton im Meer an den Lichtverhältnissen orientiert, verändert sich dadurch auch sein Verhalten – vor allem dabei der Auf- und Abstieg der winzigen Tiere innerhalb der Wassersäule. Wie ein internationales Forschungsteam unter Leitung des Alfred-Wegener-Instituts nun zeigt, könnte dies in Zukunft zu häufigeren Hungerphasen beim Zooplankton und zu negativen Effekten bis hin zu Robben und Walen führen. Die Studie ist im Fachmagazin Nature Climate Change erschienen.
Ausdehnung und Dicke des Meereises in der Arktis schwinden in Folge des menschengemachten Klimawandels deutlich. So schrumpft die durchschnittliche Fläche des Eises derzeit um etwa 13 Prozent pro Dekade. Schon 2030 – so zeigen es aktuelle Studien und Modellrechnungen – könnte der Nordpol im Sommer erstmals eisfrei sein. Die physikalischen Umweltbedingungen für das Leben im Nordpolarmeer ändern sich dadurch ebenso deutlich. Das Sonnenlicht etwa kann bei schrumpfender und dünnerer Eisdecke viel tiefer in das Wasser des Ozeans eindringen. In der Folge kann etwa die Primärproduktion – also das Wachstum – von Mikroalgen in Wasser und Eis unter bestimmten Bedingungen stark ansteigen. Wie sich die veränderten Lichtbedingungen auf höhere trophische Ebenen der Nahrungskette – wie beispielsweise das sich unter anderem von Mikroalgen ernährende Zooplankton – auswirken, ist bislang noch nicht gut verstanden. Ein internationales Forschungsteam um Dr. Hauke Flores vom Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI) hat nun einen wichtigen wissenschaftlichen Baustein für ein besseres Verständnis geliefert.
„In den Ozeanen findet jeden Tag die gewaltigste synchrone Massenbewegung von Organismen auf dem Planeten statt“, sagt Hauke Flores. „Und das ist die tägliche Wanderung des Zooplanktons, zu dem etwa die winzigen Copepoden, auch bekannt als Ruderfußkrebse, und der Krill zählen. Nachts kommt das Zooplankton nah an die Wasseroberfläche, um zu fressen. Tagsüber wandert es wieder in die Tiefe, um sich vor Fressfeinden zu schützen. Einzelne Organismen des Zooplanktons sind zwar winzig, in der Summe aber ergibt sich so eine enorme tägliche Vertikalbewegung von Biomasse in der Wassersäule. In den Polargebieten sieht diese vertikale Wanderung allerdings anders aus. Sie ist hier saisonal, das heißt, dass das Zooplankton einem jahreszeitlichen Zyklus folgt. In der monatelangen Helligkeit des Polartags im Sommer bleibt das Zooplankton dauerhaft in größeren Tiefen, in der monatelangen Dunkelheit der Polarnacht im Winter kommt ein Teil des Zooplanktons dann dauerhaft in das oberflächennahe Wasser direkt unter dem Eis.“
Ganz wesentlich bestimmt werden sowohl die tägliche Wanderung in niedrigen Breiten als auch die saisonale Wanderung in den Polargebieten vom Sonnenlicht. Die winzigen Tiere mögen es meist dämmrig. Sie bleiben gern unterhalb einer bestimmten Lichtintensität (kritisches Isolumen), die meist sehr niedrig ist und weit im dunklen Dämmerlichtbereich liegt. Wenn sich im Laufe des Tages oder der Jahreszeiten die Sonnenlichtintensität ändert, folgt das Zooplankton dem Isolumen, was letztlich dann zum Auf- und Absteigen in der Wassersäule führt. „Speziell im Bereich der oberen 20 Meter Wassersäule direkt unter dem Meereis fehlten bislang Daten zum Zooplankton“, erläutert Hauke Flores. „Genau dieser schwer für Messungen erreichbare Bereich ist aber der spannendste, weil genau hier im und unter dem Eis die Mikroalgen wachsen, von denen sich das Zooplankton ernährt.“ Um hier zu messen, konstruierte das Team ein autonomes biophysikalisches Messobservatorium, das sie am Ende der MOSAiC-Expedition des AWI-Forschungseisbrechers Polarstern im September 2020 unter dem Eis verankerten. Das Gerät konnte hier – fernab jeder Lichtverschmutzung durch menschliche Aktivitäten – kontinuierlich die Lichtintensität unter dem Eis und die Bewegungen des Zooplanktons messen.
„Im Ergebnis konnten wir ein sehr niedriges kritisches Isolumen für das Zooplankton von 0,00024 Watt/Quadratmeter bestimmen“, sagt der AWI-Forscher. „Diesen Wert haben wir dann in unsere Computermodelle integriert, die das Meereissystem simulieren. So haben wir dann für verschiedene Klimaszenarien berechnet, wie sich die Tiefe dieses Isolumens bis zur Mitte dieses Jahrhunderts verändert, wenn das Meereis in Folge des fortschreitenden Klimawandels immer dünner wird.“ Dabei zeigte sich, dass das kritische Isolumen wegen der immer weiter abnehmenden Eisdicke immer früher im Jahr in größere Tiefen absinkt und immer später im Jahr wieder die Oberflächenschicht erreicht. Da das Zooplankton grundsätzlich unterhalb des kritischen Isolumens bleibt, wird es dieser Bewegung folgen. Deshalb hält es sich in den Zukunftsszenarien immer länger in größeren Tiefen auf und seine Zeit im Winter unter dem Eis wird immer kürzer.
„Künftig wird sich in einem wärmeren Klima das Eis im Herbst später bilden, was zu einer geringeren Eisalgenproduktion führt“, erklärt Hauke Flores. „In Kombination mit dem späteren Aufstieg kann das beim Zooplankton im Winter häufiger zu Nahrungsmangel führen. Im Gegenzug kann ein früherer Abstieg des Zooplanktons im Frühjahr eine Gefährdung für tiefer lebende Jungstadien von ökologisch wichtigen Zooplanktonarten bewirken, die dann vermehrt von den ausgewachsenen Tieren gefressen werden könnten.“
„Insgesamt zeigt unsere Studie einen bisher nicht beachteten Mechanismus auf, über den sich die Überlebenschancen des Zooplanktons in der Arktis in naher Zukunft weiter verschlechtern könnten“, sagt der AWI-Forscher. „Dies hätte fatale Auswirkungen auf das ganze Ökosystem bis hin zu Robben, Walen und Eisbären. Unsere Modellsimulationen zeigen aber auch, dass sich die Vertikalwanderung bei Einhaltung des 1,5 Grad-Ziels wesentlich weniger verschiebt als bei einem ungebremsten Fortschreiten der Treibhausgasemissionen. Deswegen ist für das arktische Ökosystem jedes Zehntel Grad weniger menschengemachte Erwärmung von entscheidender Bedeutung.“
Originalpublikation:
H. Flores, G. Veyssiere, G. Castellani, J. Wilkinson, M. Hoppmann, M. Karcher, L. Valcic, A. Cornils, M. Geoffroy, M. Nicolaus, B. Niehoff, P. Priou, K. Schmidt, J. Stroeve: Sea-ice decline makes zooplankton stay deeper for longer; Nature Climate Change (2023). DOI: 10.1038/s41558-023-01779-1

28.08.2023, Georg-August-Universität Göttingen
Kurios und kryptisch: neue Wandelnde Blätter entdeckt
Forschungsteam stellt bislang unbekannte, schützenswerte Arten der blattähnlichen Insekten vor
Ein internationales Forschungsteam mit Beteiligung der Universität Göttingen hat sieben neue Arten von Wandelnden Blättern beschrieben. Die Insekten gehören zu den Stab- und Gespenstschrecken, die für ihre außergewöhnliche Erscheinung bekannt sind: Sie sehen Pflanzenteilen wie Zweigen, Rinde oder – im Fall der Wandelnden Blätter – Laubblättern zum Verwechseln ähnlich und sind durch die raffinierte Tarnung hervorragend vor Fressfeinden geschützt.
Mit genetischen Untersuchungen deckten die Forschenden auch sogenannte kryptische Arten auf, die nach ihrer äußeren Gestalt nicht unterscheidbar sind. Die Erkenntnisse haben nicht nur eine Bedeutung für die systematische Erforschung der Wandelnden Blätter, sondern auch für den Schutz ihrer Vielfalt. Die Ergebnisse sind in der Fachzeitschrift ZooKeys erschienen.
Die Taxonomie, also das Erkennen, Benennen und Beschreiben von Arten, gestaltet sich bei Wandelnden Blättern schwierig. Einerseits sind Individuen unterschiedlicher Arten einander sehr ähnlich und andererseits können innerhalb einer Art große Unterschiede bestehen. „Individuen verschiedener Arten werden anhand ihres Aussehens oft zur selben Art gezählt. Manche neuen Arten erkannten wir erst an ihren genetischen Eigenschaften“, erläutert die Leiterin des Forschungsprojekts Dr. Sarah Bank-Aubin von der Abteilung Evolution und Biodiversität der Tiere der Universität Göttingen. Einige Individuen aus Indien hielt man bislang für Vertreter einer Art, die in Südostasien weit verbreitet ist. Doch nun fanden die Forschenden heraus, dass es sich um eine neue Art der Wandelnden Blätter handelt. Bank-Aubin betont: „Die Erkenntnis ist wichtig für den Artenschutz: Wenn die Individuen in Indien aussterben, verkleinert sich nicht bloß das Verbreitungsgebiet einer Art, wie man zuvor dachte. Tatsächlich wird eine eigenständige Art ausgelöscht. Daher ist die indische Art besonders schützenswert.“ Weitere neu entdeckte Arten stammen aus Vietnam, Borneo, Java und von den Philippinen.
Die Forschenden aus Göttingen kooperierten mit dem New Yorker Experten für Wandelnde Blätter, Royce Cumming. Es ist die fünfte gemeinsame Publikation in drei Jahren. In dieser Zeit haben sie zusammen mehr als zwanzig neue Arten beschrieben. Dr. Sven Bradler, der an der Universität Göttingen seit über 20 Jahren die Evolution von Stab- und Gespenstschrecken erforscht, erklärt: „Unter den rund 3500 bekannten Arten dieser Gruppe machen die Wandelnden Blätter mit etwas mehr als 100 beschriebenen Arten zwar nur einen kleinen Teil der Vielfalt aus. Sie sind aber aufgrund ihrer einmaligen Erscheinung besonders eindrucksvoll.“
Originalpublikation:
Royce T. Cumming et al. On seven undescribed leaf insect species revealed within the recent “Tree of Leaves”. ZooKeys (2023). https://zookeys.pensoft.net/article/104413/

28.08.2023, Max-Planck-Institut für chemische Ökologie
Arbeitsteilung wirkt sich auf das Infektionsrisiko aus
Ameisen, die für die Futtersuche das Nest verlassen, werden eher von Parasiten befallen als ihre Nestgenossinnen, die sich um die Brutpflege kümmern. Dies berichtet ein internationales Team von Forschenden unter Beteiligung des Max-Planck-Instituts für chemische Ökologie in einer neuen Studie in der Zeitschrift Nature Communications.
In einer neuen Studie in der Zeitschrift Nature Communications berichtet ein internationales Team von Forschenden unter Beteiligung des Max-Planck-Instituts für chemische Ökologie, dass bei gleicher genetischer Ausstattung allein das individuelle Verhalten darüber entscheidet, ob sich ein Individuum in einer sozialen Gruppe an einem Krankheitserreger infiziert oder nicht. Klonale Räuberameisen der Art Ooceraea biroi, die außerhalb des Nests auf der Futtersuche sind, werden eher von parasitischen Fadenwürmern befallen als Artgenossinnen im Nest. Das Forschungsteam beobachtete außerdem, dass Erkrankungen in der Kolonie das Verhalten aller Ameisen veränderten: Kranke und gesunde Ameisen blieben gleichermaßen im Nest und die Arbeitsteilung war vermindert, wodurch die gesamte soziale Organisation in der Ameisenkolonie beeinträchtigt wurde (Nature Communications, August 2023, doi: 10.1038/s41467-023-40983-7).
Die soziale Rolle bestimmt das Infektionsrisiko
Die COVID-19-Pandemie hat uns vor Augen geführt, dass nicht alle Menschen gleichermaßen durch das neue Virus gefährdet waren. Ältere, kranke und gesundheitlich vorbelastete Menschen mussten besonders geschützt werden, weil die Gefahr, lebensbedrohlich zu erkranken oder an der Virus-Erkrankung zu sterben, stark erhöht war. Davon abgesehen waren die Risiken, sich mit dem Virus anzustecken, aber auch aufgrund unserer beruflichen Tätigkeiten sehr unterschiedlich verteilt. Bei Weitem nicht alle konnten sich durch das Arbeiten zu Hause vor Kontakten mit Infizierten zu schützen. Sogenannte „systemrelevante“ Berufe waren oftmals die, bei deren Ausübung es besonders viele Begegnungen mit potenziellen Virusträgern gab: Tätigkeiten in der Pflege und im Medizinbereich, bei der Betreuung und Erziehung von Kindern, und bei der Versorgung mit den Mitteln des täglichen Bedarfs.
„Die Arbeitsteilung, also die Tatsache, dass verschiedene Mitglieder einer sozialen Gruppe unterschiedliche Aufgaben übernehmen, wird seit langem mit einem unterschiedlichen Erkrankungsrisiko in Verbindung gebracht. Eine häufige Annahme ist, dass die Arbeitsteilung dazu führt, dass manche Gruppenmitglieder eher Krankheitserregern ausgesetzt sind als andere“, erklärt Studienleiterin Yuko Ulrich vom Max-Planck-Institut für chemische Ökologie. Sie leitet die Lise-Meitner-Gruppe Sozialverhalten. Es ist jedoch nicht einfach, diese Annahme experimentell zu testen, da häufig auch noch andere Faktoren, wie Ernährung, Alter und persönliche Anfälligkeit ebenfalls eine Rolle spielen. In ihrer Postdoc-Zeit an der Rockefeller University in der Arbeitsgruppe von Daniel Kronauer war Yuko Ulrich daran beteiligt, die klonale Räuberameise Ooceraea biroi als Modell für Untersuchungen zur den Auswirklungen des Verhaltens von Individuen auf die soziale Organisatioin zu etablieren. Arbeiterinnen dieser Art haben keine Königin und vermehren sich asexuell über unbefruchtete Eier, die sich zu genetisch fast identischen Individuen entwickeln. In Folge dessen sind alle Mitglieder der Ameisenkolonie genetisch identisch und man kann gleich alte Kolonien unter exakt denselben Bedingungen beobachten – das ideale Modellsystem, um die Annahme zu testen.
Parasitische Fadenwürmer befallen eher Ameisen auf Futtersuche
Die Krankheitserreger im Fokus der aktuellen Studie waren parasitische Fadenwürmer. Sie befallen eine bestimmte Drüse am Kopf der Ameisen. Die Verhaltensuntersuchungen wurden mittels automatisierter Verhaltensverfolgung durchgeführt, die eine computergestützte Analyse des Verhaltens jeder einzelnen Ameise in einer Kolonie anhand von Videos ermöglicht. Dieses „Tracking“ von Individuen erfolgt simultan in vielen Ameisenkolonien. Mit diesem ausgeklügelten System werden weit mehr Daten geliefert, als menschliche Beobachtungen und manuelle Auswertungen kreieren würden. „Wir beobachteten, dass allein das individuelle Verhalten das Infektionsrisiko beeinflussen. So werden Ameisen, die mehr Zeit außerhalb des Nests verbringen, um beispielsweise Futter zu suchen, mit größerer Wahrscheinlichkeit infiziert als Individuen, die zwar den gleichen Genotyp und auch das gleiche Alter haben, aber mehr Zeit im Nest verbringen“, fasst Erstautor Zimai Li zentrale Ergebnisse der Verhaltensstudien zusammen.
Wie das Forschungsteam herausfand, verringert die Infektion mit den Parasiten die Überlebensrate der Ameisen deutlich. Genetische Analysen zeigten, dass infizierte Ameisen veränderte Genexpressionsmuster aufwiesen. Außerdem ermittelten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mit Hilfe von gaschromatographischen Analysen, dass sich das Duftprofil infizierter Ameisen verändert hatte. Das Außenskelett der Ameisen ist von einer Wachsschicht aus verschiedenen Kohlenwasserstoffen überzogen. „Wir konnten zeigen, dass Infektionen die Mengenverteilung der kutikulären Kohlenwasserstoffklassen auf der Kutikula von klonalen Räuberameisen veränderten: Sowohl n-Alkane als auch methylverzweigte Alkane waren bei infizierten Individuen im Vergleich zu gesunden Tieren vermindert. Von diesen Substanzen wird angenommen, dass sie mit der Austrocknungsresistenz und Kommunikation der Ameisen untereinander in Verbindung stehen“, sagt Zimai Li.
Infektionen in der Kolonie verändern das Verhalten aller Ameisen, auch der gesunden
Die Verhaltensbeobachtungen ergaben aber auch ein ganz überraschendes Ergebnis: Die Arbeitsteilung innerhalb der Kolonie hat nicht nur Auswirkungen auf das Infektionsrisiko einzelner Ameisen, sondern eine Infektion steuert auch umgekehrt das Verhalten der Ameisen. Die infizierten Tiere verbringen mehr Zeit im Nest. Aber auch die gesunden Nestgenossinnen bleiben zu Hause. „Wir waren erstaunt, dass die Anwesenheit von Infektionen nicht nur bei den unmittelbaren Wirten, sondern auch bei den nicht infizierten Ameisen die Aktivität außerhalb des Nestes reduzierte. Die Verhaltensänderungen der gesunden Mitglieder der Kolonie waren für uns eine Überraschung, da sie nicht direkt durch die Infektion ausgelöst werden. Diese Erkenntnis wirft neue Fragen auf, die wir weiter untersuchen müssen. So möchten wir herausfinden, ob Ameisen den Infektionsstatus ihrer Nestgenossinnen erkennen und ob dies eine Art Pflegeverhalten auslöst, das sich darin ausdrückt, dass die gesunden Ameisen in der Nähe der kranken bleiben“, meint Zimai Li.
Eine weitere Erklärung wäre, dass die Parasiten diese Verhaltensänderungen verursachen, um sich weiter vermehren zu können. Denn Parasitenerkrankungen führen dazu, dass gesunde und kranke Ameisen vermehrt im Nest zusammenkommen, was die Wahrscheinlichkeit einer Übertragung erhöht. Möglicherweise spielt dabei auch der veränderte Geruch der infizierten Ameisen, den die Forschenden identifiziert haben, eine Rolle. „Diese Studie hat viele Fragen aufgeworfen, die wir in Folgestudien beantworten wollen. Zum Beispiel möchten wir wissen, warum die Fadenwürmer diese eine Drüse im Kopf der Ameisen infizieren. Außerdem interessiert uns, wie sich die chemische Kommunikation der Ameisen verändert, wenn einzelne Individuen infiziert sind. Und schließlich möchten wir herausfinden, ob die Veränderungen im Verhalten der Ameisen der eigenen Kolonie oder den Parasiten nutzen“, fasst Yuko Ulrich die nun geplanten Untersuchungen zusammen.
Originalpublikation:
Li, Z., Bhat, B., Frank, E.T., Oliveira-Honorato, T., Azuma, F., Bachmann, V., Parker, D. J., Schmitt, T., Economo, E. P., Ulrich, Y. (2023). Behavioural individuality determines infection risk in clonal ant colonies. Nature Communications, 14:5233, doi: 10.1038/s41467-023-40983-7
https://doi.org/10.1038/s41467-023-40983-7

29.08.2023, Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung
Waschbär: Invasiver Jäger bedroht heimische Amphibien und Reptilien
Im Rahmen des Verbundprojektes ZOWIAC (Zoonotische und wildtierökologische Auswirkungen invasiver Carnivoren) hat ein Team rund um den Parasitologen Prof. Dr. Sven Klimpel das Jagdverhalten von Waschbären in ausgewählten Naturschutzgebieten untersucht. Die Ergebnisse zeigen, dass die invasiven Raubtiere in bestimmten Gebieten eine bestandsbedrohende Auswirkung auf unterschiedliche, teilweise stark gefährdete Amphibien- und Reptilienarten haben.
Ob eine invasive Art zur „Problemart“ wird, hängt in starkem Maße von regionalen, ökologischen oder nutzungsbezogenen Bedingungen ab. „So ist das auch beim – ursprünglich in Nordamerika heimischen und bei uns als invasive Art geführten – Waschbären (Procyon lotor). Seine hohe Ausbreitungsfähigkeit und generalistische Ernährungsweise führt dazu, dass die Art fast alle natürlichen Lebensräume besiedeln kann“, erläutert Prof. Dr. Sven Klimpel vom Senckenberg Biodiversität und Klima Forschungszentrum Frankfurt, der Goethe-Universität Frankfurt und dem LOEWE-Zentrum für Translationale Biodiversitätsgenomik und fährt fort: „In diesem Zusammenhang gibt es schon länger den Verdacht, dass Waschbären für den Rückgang zahlreicher einheimischer Reptilien- und Amphibien-Arten in bestimmten Gebieten mit verantwortlich sind.“
Um dieser Vermutung nachzugehen hat das Team um Klimpel in Kooperation mit der Arbeitsgemeinschaft Amphibien- und Reptilienschutz in Hessen e. V. (AGAR), dem NABU Main-Kinzig-Kreis, dem Naturschutzbeauftragten von HessenForst sowie Vertreter*innen der Hessischen Gesellschaft für Ornithologie und Naturschutz e.V. (HGON) und im Rahmen des ZOWIAC-Projektes das Jagdverhalten von Waschbären in ausgewählten Naturschutzgebieten in Hessen sowie in Brandenburg und Sachsen-Anhalt erfasst. Ziel der Untersuchung war es, Auswirkungen und mögliche Konfliktfelder, welche mit der zunehmenden Ausbreitung der Waschbären entstehen, zu identifizieren und Handlungsempfehlungen auf lokaler und landesweiter Ebene zu ermöglichen.
„Wir konnten mittels modernster genetischer Analysemethoden eindeutig nachweisen, dass Grasfrösche (Rana temporaria), Erdkröten (Bufo bufo) und Gelbbauchunken (Bombina variegata) zu den Beutetieren von Waschbären zählen“, erklärt Klimpel. Ein Mageninhalt des Raubtieres aus einem Laichgebiet im Spessart bestand vollständig aus Erdkrötengewebe. Fraßspuren um die Laichgründe deuteten laut den Expert*innen zudem darauf hin, dass Waschbären dazu fähig sind Erdkröten vor dem Verzehr zu häuten, um deren Giftdrüsen auszuweichen. „In einem Naturschutzgebiet in Osthessen wurden in einer Stunde über 400 gehäutete Kröten gezählt – ein wirklich deprimierender Rekord“, erzählt Timo Spaniol, Gebietsbetreuer vom NABU Main-Kinzig-Kreis und der AGAR.
In weitergehenden Laboruntersuchungen an der Goethe-Universität konnte der Nachweis erbracht werden, dass Waschbären auch einheimische Schlangen erbeuten – in den Mageninhalten der Tiere wurden Gewebereste und Knochen von Ringelnattern (Natrix natrix) gefunden. Im Untersuchungsgebiet Rheingau-Taunuskreis fand das Team zudem eine während der Eiablage gefressene Äskulapnatter (Zamenis longissimus). Annette Zitzmann, Projektleitung der AGAR ist alarmiert: „Es wurde Waschbär-DNA sowohl auf der Schlange als auch an den geöffneten Eiern nachgewiesen. Die Äskulapnatter ist sehr selten und wird in den Roten Listen als ‚stark gefährdet‘ eingestuft. Naturschutzrechtlich ist sie streng geschützt.“
Beobachtungen von amtlichen und ehrenamtlichen Naturschutzbeauftragten deuten zusätzlich darauf hin, dass Bergmolche (Ichthyosaura alpestris), Wechselkröten (Bufotes viridis) und sogar Feuersalamander (Salamandra salamandra) auf dem Speiseplan der Waschbären stehen. „Insbesondere die letzten beiden Arten sind besonders geschützt und könnten bei einem massivem Fraßdruck durch den Waschbären innerhalb kürzester Zeit in bestimmten Gebieten so stark dezimiert werden, dass Populationen sich nicht mehr reproduzieren können und lokal verloren gehen“, stellt Klimpel fest. ZOWIAC-Projektleiter Norbert Peter von der Goethe-Universität ergänzt: „Wir sehen einen Prädationsdruck auf geschützte Amphibien und Reptilien in bestimmten Gebieten, der für diese Arten teilweise bestandsbedrohend ist. Zwar sind die bestehenden naturschutzrechtlichen Vorgaben der EU und des Bundes geeignet, um Reptilien und Amphibien lokal in ihrem Bestand zu erhalten – doch stoßen diese an ihre Grenzen, wenn zusätzliche Bedrohungen hinzukommen. In diesem Kontext beeinflusst der Waschbär heimische Ökosysteme eindeutig negativ.“
Die Forschenden fordern, dass kontinuierliche und flächendeckende Daten zur Verbreitung, den Habitatsansprüchen, der (Nahrungs-)Ökologie und der Parasitierung erhoben werden, um zukünftige Auswirkungen und die fortschreitende Verbreitung von Waschbären und von anderen gebietsfremden Arten frühzeitig erkennen zu können. Schutzmechanismen und Schutzwerkzeuge zum Management invasiver Arten dürften nicht statisch sein, sondern müssten regelmäßig geprüft und angepasst werden, um dem übergeordneten Ziel – dem Schutz der Artenvielfalt – gerecht zu werden, so das Team.
„Es ist notwendig, neue Wege zu gehen und um staatliche Finanzierungshilfen für den Naturschutz sowie für bereits bestehende Projekte zu werben, damit bedrohte heimische Arten erhalten bleiben. Dabei reicht es nicht nur lokale Gebiete zu untersuchen. Wir freuen uns daher, dass das Verbundprojekt ZOWIAC zur Erforschung von Invasionsprozessen solcher gebietsfremden Fleischfresser und deren Auswirkungen auf heimische Ökosysteme nun auch den europäischen Raum in den Blick nimmt. Erst kürzlich haben wir unsere englischsprachige Webseite (https://zowiac.eu/en/) online gestellt, ebenso findet am 14. und 15. September die ZOWIAC-Konferenz (https://zowiac.eu/konferenz) statt, um den Invasionsprozess zusammen mit Fachleuten verschiedenster Gebiete sowie einem interessierten Publikum zu erörtern“, schließt Klimpel.

30.08.2023, Technische Universität Wien
Das Wildschwein-Paradoxon – endlich gelöst
Auch Jahrzehnte nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl ist Wildschweinfleisch immer noch verblüffend stark radioaktiv. Des Rätsels Lösung: Man hatte eine wichtige andere Ursache übersehen.
Die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl im Jahr 1986 hatte auch in Mitteleuropa große Auswirkungen auf das Ökosystem Wald. Vom Verzehr von Pilzen wurde damals wegen der hohen radioaktiven Belastung abgeraten, auch das Fleisch von Wildtieren war einige Jahre stark betroffen. Während die Belastung von, Hirschen und Rehen im Lauf der Zeit wie erwartet zurückging, änderten sich die Werte beim Fleisch von Wildschweinen aber überraschend langsam. Noch immer werden deutliche Grenzwertüberschreitungen gemessen. Bis heute galt dieses „Wildschwein-Paradoxon“ als ungelöst – nun konnte durch aufwändige Messungen der TU Wien und der Leibniz Universität Hannover aber eine Erklärung gefunden werden: Es handelt sich um eine Spätwirkung der Atomwaffentests aus den 1960er-Jahren.
Mehr Strahlung als die Physik erlaubt?
„Entscheidend für die Radioaktivität der Proben ist Cäsium-137, mit einer Halbwertszeit von rund 30 Jahren“, sagt Prof. Georg Steinhauser von der TU Wien. „Nach 30 Jahren ist also die Hälfte des Materials ganz von selbst zerfallen.“ Die Strahlenbelastung von Lebensmitteln geht aber normalerweise viel schneller zurück. Schließlich hat sich das Cäsium seit Tschernobyl verteilt, wurde vom Wasser ausgewaschen, in Mineralien gebunden oder vielleicht tief in den Boden verfrachtet, sodass es von Pflanzen und Tieren nicht mehr in derselben Menge aufgenommen wird wie direkt nach dem Reaktorunglück. Die meisten Lebensmittelproben weisen daher nach Ablauf einer Halbwertszeit nicht einfach die Hälfte der ursprünglichen Aktivität auf, sondern deutlich weniger.
Bei Wildschweinfleisch ist die Sache aber anders: Da blieb die Strahlenbelastung beinahe konstant – sie geht deutlich langsamer zurück, als man das alleine schon durch den natürlichen radioaktiven Zerfall von Cäsium erwarten würde – ein aus physikalischer Sicht auf den ersten Blick völlig widersinniges Ergebnis.
Bis heute werden in ganz Europa Wildschweinfleisch-Proben gemessen, die für den Verzehr nicht geeignet sind, weil ihre Strahlenbelastung den erlaubten Grenzwert deutlich überschreitet. Das mag mitunter auch dazu führen, dass Wildschweine in manchen Gegenden kaum gejagt werden und oft große Schäden für Land- und Forstwirtschaft verursachen.
Auf der Suche nach dem Cäsium-Fingerabdruck
Prof. Georg Steinhauser, der 2022 von der Leibniz Universität Hannover an die TU Wien wechselte, ging mit seinem Team diesem Rätsel auf den Grund: Durch neue, präzisere Messungen wollte man nicht nur die Menge sondern auch die Herkunft der Radioaktivität ermitteln.
„Das ist möglich, weil unterschiedliche Quellen radioaktiver Isotope jeweils einen unterschiedlichen physikalischen Fingerabdruck haben“, erklärt Dr. Bin Feng, der am Institut für Anorganische Chemie der Leibniz Universität Hannover und dem TRIGA Center Atominstitut der TU Wien forscht. „So wird etwa nicht nur Cäsium-137 freigesetzt, sondern gleichzeitig auch Cäsium-135, ein Cäsium-Isotop mit deutlich längerer Halbwertszeit.“ Das Mischungsverhältnis der beiden Cäsium-Sorten ist nicht immer gleich – es war etwa bei der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl anders als bei den Atomwaffentests der 1960er-Jahre. Wenn man dieses Verhältnis misst, kann man somit Information über die Herkunft des radioaktiven Materials erhalten.
Cäsium-135 genau zu quantifizieren, ist aber sehr schwer. „Weil es eine so lange Halbwertszeit hat und nur selten zerfällt, kann man es nicht einfach mit Strahlenmessgeräten detektieren“, sagt Georg Steinhauser. „Man muss mit Methoden der Massenspektrometrie arbeiten und relativ großen Aufwand treiben, um es präzise von anderen Atomen zu unterscheiden. Das ist uns nun gelungen.“
Dabei zeigte sich: Während insgesamt rund 90% des Cäsiums-137 in Mitteleuropa aus Tschernobyl stammen, ist der Anteil in den Wildschweinproben viel geringer. Stattdessen ist ein großer Teil des Cäsiums im Wildschweinfleisch auf Atomwaffentests zurückzuführen – bei manchen Proben bis zu 68%.
Die Hirschtrüffel ist (wahrscheinlich) schuld
Die Ursache dafür liegt an den ganz speziellen Nahrungsvorlieben der Wildschweine: Sie graben nämlich besonders gerne Hirschtrüffeln aus dem Boden aus, und in diesen unterirdisch wachsenden Pilzen reichert sich das radioaktive Cäsium erst mit großer Zeitverzögerung an. „Das Cäsium wandert sehr langsam durch den Boden nach unten, manchmal nur rund einen Millimeter pro Jahr“, sagt Georg Steinhauser. Die Hirschtrüffeln, die in 20-40 Zentimetern Tiefe zu finden sind, nehmen somit heute erst das Cäsium auf, das in Tschernobyl freigesetzt wurde. Das Cäsium alter Atomwaffentests hingegen ist dort schon lange angekommen.“
So ergibt sich ein kompliziertes Zusammenspiel unterschiedlicher Effekte: Sowohl das Cäsium der Atomwaffentests als auch das Cäsium aus Tschernobyl breitet sich im Boden aus, die Trüffel werden somit von zwei verschiedenen „Cäsium-Fronten“ erreicht, die nach und nach durch den Boden wandern. Andererseits zerfällt das Cäsium im Lauf der Jahre. „Wenn man all diese Effekte addiert, lässt sich erklären, warum die Radioaktivität der Hirschtrüffel – und in weiterer Folge der Schweine – größenordnungsmäßig relativ konstant bleibt“, sagt Georg Steinhauser.
Somit ist auch nicht damit zu rechnen, dass die Belastung von Wildschweinfleisch in den nächsten Jahren deutlich sinkt, denn ein Teil des Cäsiums aus Tschernobyl wird erst jetzt in die Trüffeln eingelagert. „Unsere Arbeit zeigt, wie kompliziert die Zusammenhänge in natürlichen Ökosystemen sein können“, sagt Georg Steinhauser, „aber eben auch, dass man Antworten auf solche Rätsel finden kann, wenn man genau genug misst.“
Originalpublikation:
F. Stäger et al., Disproportionately High Contributions of 60 Year Old Weapons-137Cs Explain the Persistence of Radioactive Contamination in Bavarian Wild Boars, Environ. Sci. Technol (2023)
https://doi.org/10.1021/acs.est.3c03565

30.08.2023, Max-Planck-Institut für biologische Intelligenz
Sprosser: Territorialität außerhalb der Brutsaison
In ihrem Winterquartier in Tansania halten sich einige Sprosser-Männchen in unmittelbarer Nähe zueinander auf. Das ist ein auffälliger Kontrast zu ihrem Territorialverhalten während der Brutzeit in den gemäßigten Zonen. Forschende des Max-Planck-Instituts für biologische Intelligenz haben nun den Zusammenhang zwischen der Entwicklung des Gesangs und des Revierverhaltens im Winterquartier der Vögel erforscht. Sie konnten zeigen, dass die jährliche melodische Entwicklung des Gesangs mit dem Territorialverhalten der Sänger verknüpft ist: Beides wird wahrscheinlich durch den Anstieg des Testosteronspiegels am Ende des Winters ausgelöst.
Das Bestreben, ein bestimmtes Areal zu kontrollieren, ist ein universelles Phänomen, das weit im Tierreich verbreitet ist. Die Verteidigung eines Territoriums beschränkt sich jedoch nicht allein auf physische Aggression. Während viele Haustiere ihre Reviere mit Duftmarken markieren, verteidigen andere Tiere ihr Territorium mit visuellen oder akustischen Signalen. Die meisten Vögel markieren und verteidigen ihr Territorium zum Beispiel mit Gesang!
Ein solcher Vogel ist der Sprosser, der den Winter in den Tropen verbringt und für die Brutzeit in gemäßigtere Zonen zieht. Singvögel, die das ganze Jahr über in Tropen leben, sind üblicherweise auch das ganze Jahr über territorial. Über die Rolle der Territorialität von Zugvögeln in ihren Winterquartieren ist dagegen wenig bekannt. Um dieser Frage auf den Grund zu gehen, führte Henrik Brumm mit seinem Team über einen Zeitraum von fünf Jahren umfangreiche Feldstudien in Südtansania durch, dem Winterquartier vieler Sprosser.
Bei der Beobachtung der Sprosser in Afrika fiel den Forschenden die unmittelbare Nähe einiger Männchen zueinander auf. Dieses Verhalten steht im starken Kontrast zum äußerst territorialen Verhalten der Vögel während der Brutzeit, wo sich zwei Männchen niemals so nah nebeneinander niederlassen. Diese Beobachtung führte das Team zur Frage, ob Sprosser in ihrem Winterquartier überhaupt territorial sind und wie ihr Territorialverhalten mit der Entwicklung ihres Gesangs zusammenhängt.
Wie viele andere Vögel durchläuft auch der Sprosser jedes Jahr eine individuelle Entwicklung seines Gesanges: vom Vorgesang über den plastischen Gesang bis hin zur Kristallisation des Vollgesangs. Die Männchen durchlaufen diese Entwicklung jährlich und erreichen ihren voll ausgebildeten Gesang zu Beginn der Brutzeit. Im Verlauf der Phase des plastischen Gesangs entwickeln die Vögel die Struktur und Syntax ihres Gesangs, bis sich schließlich ihr endgültiger Gesang herauskristallisiert.
Mithilfe umfangreicher Experimente, wie der Messung der Abstände zwischen den Männchen und Playback-Experimenten, untersuchte das Team den Zusammenhang zwischen der Gesangsentwicklung und dem Territorialverhalten. Zu Beginn des Winters befanden sich alle Nachtigallen noch in der plastischen Gesangsphase. Diese entwickelte sich kontinuierlich, und als die beobachtete Population schließlich in ihre Brutgebiete aufbrach, hatte etwa die Hälfte aller Nachtigallen ihren Vollgesang erreicht. Interessanterweise ließen sich Vögel mit bereits voll entwickeltem Gesang nie in unmittelbarer Nähe zueinander nieder. Im Gegensatz dazu hielten sich Vögel im Stadium des plastischen Gesanges sowohl in der Nähe anderer Vögel im gleichen Gesangsstadium als auch von voll ausgeprägten Sängern auf. Bemerkenswerter Weise wurde territoriales Verhalten nur bei den voll ausgeprägten Sängern beobachtet, nicht aber bei den Vögeln im Stadium des plastischen Gesanges. Dies deutet auf einen Zusammenhang zwischen Gesangsentwicklung und Territorialität hin.
Ein entscheidender und aus verschiedenen Studien bekannter Faktor, der eine Verbindung zwischen der Entwicklung des Gesangs und dem Territorialverhalten herstellen könnte, ist das Hormon Testosteron. Neigt sich die Überwinterungszeit dem Ende zu, steigt der Testosteronspiegel und die Vögel gehen in die Brutphase über. Henrik Brumm erklärt diesen Prozess: „Steigende Testosteronwerte lösen sowohl die Gesangskristallisation als auch das Territorialverhalten aus. Erreicht ein Männchen schon vor dem Aufbruch in sein Brutgebiet einen so hohen Testosteronspiegel, wird es offensichtlich auch im Winterquartier territorial.” Das Team vermutet, dass das Alter der Vögel ein entscheidender Faktor sein könnte, warum manche Vögel schneller die volle Gesangsphase erreichen. „Obwohl alle Männchen die jährliche Gesangsentwicklung durchlaufen“, erklärt Teammitglied Léna de Framond, „sind junge Vögel wahrscheinlich langsamer in der Entwicklung ihres endgültigen Gesangs als ältere Vögel. Da sie sich noch in der Phase des plastischen Gesangs befinden, können sie sich näher an die ausgeprägten Sänger heranwagen – wodurch sie vielleicht auch neue Lieder von ihren älteren Nachbarn lernen können.“
Die Studie legt nahe, dass das Revierverhalten einiger überwinternder Sprosser eine Folge des steigenden Testosteronspiegels und der damit verbundenen Gesangsentwicklung ist. Da einige Vögel bereits vor ihrem Rückzug in die Brutgebiete territoriales Verhalten zeigen, ist eine spannende, nächste Frage, ob das Territorialverhalten auch einen adaptiven Zweck im Winterquartier der Vögel hat.
Letztlich verdeutlicht die Studie die dynamischen Verschiebungen zwischen territorialem und nicht-territorialem Verhalten innerhalb von Vogelpopulationen und bietet einen Einblick in das komplexe Geflecht der Siedlungsmuster der Tiere. Teammitglied Wolfgang Goymann fasst zusammen: „Unsere Ergebnisse eröffnen einen neuen Weg zum Verständnis des Vogelverhaltens, indem sie das Zusammenspiel von Gesang und Territorialität unterstreichen.“ Das Winterquartier, das einst als Zeit der Ruhe galt, entpuppt sich somit nun als Schauplatz komplexer Verhaltensweisen.
Originalpublikation:
Territorial behaviour of thrush nightingales outside the breeding season
Henrik Brumm, Léna de Framond, Wolfgang Goymann
Proceedings of the Royal Society B, online 30. August 2023
DOI: 10.1098/rspb.2023.0496

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