Neues aus Wissenschaft und Naturschutz

17.04.2023, Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung
Weniger Eis, weniger rufende Robben
Mehrere Jahre lang hat ein Forschungsteam des Alfred-Wegener-Instituts am Rande der Antarktis mit Unterwassermikrofonen nach Robben gelauscht. Erste, jetzt in der Fachzeitschrift Frontiers in Ecology and the Environment veröffentlichte Ergebnisse zeigen, dass der Rückgang des Meereises offenbar starke Auswirkungen auf das Verhalten der Tiere hat: Fehlt das Eis, ist es leise, wo das Meer sonst voller Rufe ist.
Wenn das Meereis verschwindet, verstummen antarktische Robben. Das ist das Ergebnis eines Fachartikels, den eine Gruppe um Dr. Ilse van Opzeeland jetzt veröffentlicht hat. Die Biologin forscht am Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI) und am Helmholtz-Institut für Funktionelle Marine Biodiversität an der Universität Oldenburg (HIFMB). Für die Studie hat sie mit ihrem Team Tonaufnahmen aus einem Unterwassermikrofon untersucht, das automatisch die Rufe von Meeressäugern wie Robben und Walen aufzeichnet. „Das besondere an unserer Studie ist, dass wir erstmals Aufnahmen aus einem Zeitraum von acht Jahren für die vier antarktischen Robbenarten auswerten konnten“, sagt Erstautorin Dr. Irene Roca, während der Arbeiten zur Studie Biologin am HIFMB und AWI und derzeit an der Université du Québec en Outaouais (Kanada). „Dadurch wurde es möglich, das Verhalten der Robben über lange Zeit zu beobachten und für einzelne Jahre miteinander zu vergleichen.“
Aus den Daten der analysierten Jahre 2007 bis 2014 sticht der Jahreswechsel 2010/2011 hervor. Damals war das Meer in dem antarktischen Untersuchungsgebiet unweit der Neumayer-Station III des AWI fast völlig eisfrei. Weniger als zehn Prozent der üblichen Meeresfläche waren zugefroren. Wie die Aufnahmen aus den Unterwassermikrofonen zeigen, waren in diesem Zeitraum deutlich weniger Robben in den Gewässern unterwegs als in den übrigen sieben Jahren. Die antarktischen Robben benötigen Meereis, um darauf die Jungtiere zu gebären und zu säugen. Die Geburt und die Aufzucht finden im Frühling und Sommer der Südhalbkugel zwischen Oktober und Januar statt. Für gewöhnlich ist das Meer zu dieser Zeit noch zu einem großen Teil mit Eis bedeckt, sodass die Tiere ideale Bedingungen für die Geburt vorfinden. In der Saison 2010/2011 fehlte das Eis fast völlig. Da die Forschenden in dem Gebiet nur ein Unterwassermikrofon installiert hatten, lässt sich nicht genau nachvollziehen, ob oder wohin die Robben in dieser Saison abgewandert sind. „Unsere Unterwasseraufnahmen zeigen aber deutlich, dass in dem beobachteten Meeresgebiet viel weniger rufende Robben anwesend waren als üblich“, sagt Irene Roca. Das gelte für alle Robbenarten, die in der Region zu Hause sind: die Krabbenfresserrobben, die Weddellrobben, die Seeleoparden und die Rossrobben.
Das Untersuchungsgebiet der AWI-Fachleute liegt etwa 2000 Kilometer südlich von Kapstadt im sogenannten Weddellmeer. Vor allem das Küstengebiet im Osten des Weddellmeeres gilt als bedeutende Meeresregion, weil hier alle vier antarktischen Robben und auch mehrere Walarten nebeneinander vorkommen. Fachleute vermuten, dass das Gebiet so attraktiv ist, weil es viel Nahrung und für die Robben normalerweise gute Eisverhältnisse bietet. Insofern sei die Beobachtung aus der Saison 2010/2011 beunruhigend, so das AWI-Team: Sollte die Meereisbedeckung mit dem Klimawandel künftig häufiger so extrem schwanken, wäre diese Region für die Robben ein weniger zuverlässiges Fortpflanzungsgebiet. Das Meereisportal hat erst kürzlich bekanntgegeben, dass die vergangenen acht Jahre alle eine unterdurchschnittliche Meereisausdehnung in der Antarktis aufwiesen und im Februar 2023 ein Allzeit-Tief erreicht wurde.
Wie sich der Mangel an Meereis konkret auf die Robbenbestände auswirken könnte, wissen die Fachleute noch nicht, weil über die vier Robbenarten noch zu wenig bekannt ist. Besser untersucht ist die arktische Ringelrobbe. Sie benötigt für die Aufzucht ihres Nachwuchses Meereis mit einer dicken Schneeschicht, in die sie Höhlen für ihre Jungtiere gräbt. Inzwischen weiß man, dass viele Jungtiere sterben, wenn es zu wenig Meereis und Schnee gibt. „Ich vermute, dass die eisarmen Jahre auch bei den antarktischen Robben die Fortpflanzung beeinflussen – nicht nur, was das Überleben der Jungtiere angeht, sondern eventuell auch das Paarungsverhalten der Robben oder ganz andere Aspekte“, sagt Projektkoordinatorin Ilse van Opzeeland.
Die akustischen Daten aus den acht Jahren sind für sie etwas Besonderes. Robben zu erfassen, ist normalerweise extrem aufwendig. Man kann sie nur vom Schiff oder Hubschrauber aus zählen. Doch ist der Beobachtungsradius relativ gering. Zudem lassen sich mit Schiffen und Helikoptern Meeresgebiete weder flächendeckend noch durchgängig überwachen. Unterwasser-Horchanlagen hingegen können ununterbrochen größere Meeresgebiete abhören. Da Geräusche im Meer weiter wandern als in der Luft, können Meerestiere je nach Lautstärke ihrer Rufe außerdem noch aus vielen Kilometern Entfernung wahrgenommen werden. Bedauerlicherweise hat sich die sogenannte PALAOA-Horchanlage (das steht für Perennial Acoustic Observatory in the Antarctic Ocean) des AWI vor Kurzem zusammen mit einem abgebrochenen Gletscher von der Küste gelöst. An der Küste soll jetzt in der kommenden Antarktissaison ab Ende des Jahres ein neues Unterwassermikrofon installiert werden.
Originalpublikation:
Irene T. Roca, Lars Kaleschke, Ilse Van Opzeeland: Sea ice anomalies affect the acoustic presence of Antarctic pinnipeds in their breeding areas, Frontiers in Ecology and the Environment (2023). DOI: 10.1002/fee.2622
18.04.2023 10:06
Darum gibt es immer weniger Insekten
Petra Giegerich Kommunikation und Presse
Johannes Gutenberg-Universität Mainz
Wissenschaftler der Johannes Gutenberg-Universität Mainz gibt Sonderausgabe der Biology Letters zu den Ursachen und Folgen des weltweiten Insektensterbens und zu möglichen Maßnahmen dagegen heraus

Weltweit gibt es nicht nur immer weniger Insekten, sondern auch immer weniger Insektenarten. Die Ursachen dafür liegen vor allem in der immer intensiveren Landnutzung, etwa durch Landwirtschaft oder Bebauung, sowie im Klimawandel und der Verbreitung von invasiven Tierarten durch den Menschen. Das sind die zentralen Ergebnisse einer aktuellen Sonderausgabe der Zeitschrift Biology Letters zum Insektensterben, unter anderem herausgegeben von Privatdozent Dr. Florian Menzel vom Institut für Organismische und Molekulare Evolutionsbiologie der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU). „Als sich vor einigen Jahren die Belege für das weltweite Insektensterben häuften, bekamen wir die Idee zu dieser Sonderausgabe. Ziel war es, das Insektensterben nicht nur zu dokumentieren, sondern auch zu verstehen, was die Ursachen dafür sind“, sagt Menzel. Mit dem Forstwissenschaftler Prof. Dr. Martin Gossner von der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft in der Schweiz und der Biologin Dr. Nadja Simons von der Technischen Universität Darmstadt schrieb er dann Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler weltweit an, um bisherige Forschungsergebnisse zum Thema Insektensterben zusammentragen und neue Forschungsarbeiten zu dem Thema zu initiieren. Das Ergebnis ist die nun von Menzel, Gossner und Simons herausgegebene Sonderausgabe mit zwölf Forschungs- und zwei Meinungsartikeln sowie einem ausführlichen Editorial.

Intensive Landnutzung, der Klimawandel und invasive Arten sind die Hauptursachen des Insektensterbens

„Aufgrund der nun vorliegenden Ergebnisse können wir nicht nur sagen, dass die Landnutzung, der Klimawandel und die Verbreitung von invasiven Arten die Haupttreiber für das weltweite Insektensterben sind, sondern dass es außerdem viele Wechselwirkungen zwischen diesen Treibern gibt“, sagt Menzel. Zum Beispiel seien durch intensive Landnutzung geschädigte Ökosysteme mitsamt ihren Insektengemeinschaften empfindlicher gegenüber dem Klimawandel. Auch könnten invasive Arten vor allem in durch Landnutzung geschädigten Ökosystemen Fuß fassen und dort die heimischen Arten verdrängen. Erkennbar sei auch, dass in den vergangenen Jahren nicht nur die Gesamtzahl der Insekten stark abgenommen habe, sondern auch viele Insektenarten verschwunden seien und es weltweit zu einer Homogenisierung, also Vereinheitlichung, von Insektengemeinschaften komme. „Grundsätzlich lässt sich sagen, dass vor allem Spezialisten unter den Insekten aussterben und Generalisten überleben. Daher gibt es vielerorts immer mehr ‚Allerweltsarten‘, während Arten verschwinden, die für den einen oder anderen Lebensraum typisch sind“, sagt Menzel. Die Folgen dieses Insektensterbens seien zahlreich und meistens negativ für die verbliebenen Ökosysteme. Zum Beispiel wurde entdeckt, dass der Artenschwund bei Hummeln zu einer Abnahme von Pflanzen geführt hat, die auf die Bestäubung durch bestimmte Hummelarten angewiesen sind. „Allgemein nimmt mit schwindender Artenvielfalt die Stabilität von Ökosystemen ab: Weniger Arten bedeutet, weniger Arten, die Pflanzen bestäuben oder Schädlinge in Schach halten. Und es steht schlicht weniger Nahrung für insektenfressende Vögel und andere Tiere zur Verfügung. Damit kann ein Rückgang der Insekten auch zu deren Rückgang führen“, sagt Menzel.

Menzel, Gossner und Simons geben in ihrem Editorial Empfehlungen, wie auf die von ihnen zusammengetragenen Erkenntnisse reagiert werden sollte. Einerseits, was die weitere Forschung zum Insektensterben betrifft: Unter anderem sollten weltweit standardisierte Messungen zum Erfassen der Artenvielfalt in Insektengemeinschaften durchgeführt werden – auch, weil es für einige Weltregionen bisher gar keine entsprechenden Daten gebe. Außerdem raten sie dazu, miteinander verbundene Schutzgebiete einzurichten. Das könnte es Arten erlauben, von einem Lebensraum zum anderen zu wandern, zum Beispiel aus durch den Klimawandel erhitzten Gebieten in höher oder nördlicher gelegene, kühlere Regionen. Auch müsse mehr darauf geachtet werden, die Ausbreitung invasiver Tierarten durch den globalen Waren- und Reiseverkehr zu verringern. „Auch dieses Problem hat in den vergangenen Jahrzehnten massiv zugenommen“, sagt Menzel. Unter anderem zeige die aktuelle Sonderausgabe, dass eingeschleppte insektenfressende Fische in Brasilien zu einem starken Rückgang von Süßwasserinsekten geführt hätten.
Originalpublikation:
M. Gossner et al., Less overall, but more of the same: drivers of insect population trends lead to community homogenization, Biology Letters 19: 20230007, 29. März 2023, https://doi.org/10.1098/rsbl.2023.0007
Gesamte Sonderausgabe „Insect decline“ unter https://royalsocietypublishing.org/topic/special-collections/insect-decline

18.04.2023, Landesbund für Vogelschutz in Bayern (LBV) e. V.
Griaß eich: Österreichische Bartgeier für Bayern
Auswilderungsprojekt von LBV und Nationalpark Berchtesgaden startet ins dritte Jahr
Griaß eich: Österreichische Bartgeier für Bayern / Auswilderungsprojekt von LBV und Nationalpark Berchtesgaden startet ins dritte Jahr
Große Freude bei dem bayerischen Naturschutzverband LBV (Landesbund für Vogel- und Naturschutz) und dem Nationalpark Berchtesgaden: Auch 2023 wird es zwei junge Bartgeier aus dem europäischen Bartgeier-Zuchtnetzwerk der Vulture Conservation Foundation (VCF) – diesmal aus dem Nachbarland Österreich – für die Auswilderung der gefährdeten Vogelart in Bayern geben. „Die vier bereits ausgewilderten Bartgeier der ersten beiden Projektjahre stammten aus Spanien. In diesem Jahr werden wir zwei Jungvögel aus Österreich erhalten, die die Population der majestätischen Art in den Ostalpen langfristig stärken soll“, sagt der LBV-Projektleiter und Bartgeierexperte Toni Wegscheider. Zwei kleine Bartgeier wachsen momentan im Alpenzoo Innsbruck sowie in der Richard-Faust-Bartgeier-Zuchtstation Haringsee auf (siehe Fotos und Videos). Das gemeinsame Projekt-Team aus Bartgeier-Expert*innen wird sie Ende Mai in eine vorbereitete Felsnische im Nationalpark Berchtesgaden setzen, bis sie nach ca. drei bis vier Wochen zu ihren ersten Flügen aufbrechen.
„Die bisher nur unter ihren Zuchtbuchnummern BG1168 und BG1171 bekannten Küken stammen aus zwei für die alpine Bartgeierwiederansiedlung äußerst geschichtsträchtigen Orten“, berichtet LBV-Bartgeierexperte Toni Wegscheider. BG1168 ist in Haringsee am 23. Februar geschlüpft und BG1171 hat am 26. Februar in Insbruck das Licht der Welt erblickt. Dem Alpenzoo Innsbruck gelang es in den 1970er Jahren weltweit zum ersten Mal Bartgeier in Gefangenschaft erfolgreich zu züchten und legte damit den Grundstein für Auswilderungen.
Die Richard-Faust-Bartgeier-Zuchtstation Haringsee ist eines der wenigen auf Bartgeier spezialisierten Zuchtzentren in Europa. 1986 führten die Greifvogelexpert*innen dort die weltweit erste Bartgeierauswilderung durch. Dr. Àlex Llopis Dell, Leiter des europäischen Bartgeier-Zuchtprogramms sagt: „Eine möglichst große genetische Vielfalt der lokalen Bartgeierpopulationen in den europäischen Freilassungsgebieten ist wichtig, um Inzucht zu vermeiden. Die beiden österreichischen Küken sind eine gute Ergänzung zu den vier aus Spanien stammenden, nah verwandten Jungvögeln, die bisher in Berchtesgaden ausgewildert wurden.“
Über Europa verteilt sind dieses Jahr mehr als 35 Bartgeierküken geschlüpft. Trotz dieses sehr guten Bruterfolgs in den vielen beteiligten Zoos und Zuchtstationen gab es Herausforderungen: Eine ungewöhnliche hohe Zahl von Bartgeierpaaren haben deutlich früher oder später als üblich ihre Eier gelegt. Mehrere Paare, die über viele Jahre erfolgreich brüteten, waren in diesem Jahr zu alt und fielen aus. Jungen Bartgeierpaaren passieren dagegen bei den ersten ein bis zwei Bruten häufig Fehler. Deshalb überwachen die internationalen Bartgeier-Teams diese Brut aufwändig. „Es ist komplex, die Jungvögel in die verschiedenen Auswilderungsgebiete oder zum Verbleib innerhalb des Zuchtprogramms zuzuweisen. Faktoren wie genetische Linie, Schlupfdatum oder Geschlecht spielen hier eine erhebliche Rolle. Der Schlupf der Küken gibt auch den Zeitpunkt der Auswilderung vor. In diesem Jahr werden die beiden Junggeier etwas früher, bereits Ende Mai, in Berchtesgaden ausgewildert“, sagt der Nationalpark-Projektleiter Ulrich Brendel.
Das Geschlecht der beiden österreichischen Bartgeierküken ist noch unbekannt. „Ob nach bisher vier weiblichen Bartgeiern in diesem Jahr auch einmal ein Männchen dabei ist, wird sich erst nach Auswertung der Blutproben der Küken zeigen. Äußerliche Merkmale, um Männchen und Weibchen zweifelsfrei zu unterscheiden, gibt es bei dieser Art nicht“, erklärt Ulrich Brendel. Das Geschlecht der ausgewilderten Tiere ist momentan nicht von großer Bedeutung, weil im gesamten Alpenraum einige Dutzend Jungvögel aus natürlichen Bruten der letzten Jahre auf Partnersuche sind. Immer wieder werden solche Wildvögel auch in den bayrischen Bergen gesichtet.
Die bisher in Berchtesgaden freigelassenen Bartgeier finden in den nächsten Jahren mit hoher Wahrscheinlichkeit Anschluss an den wildlebenden Bartgeierbestand, um mit einem Partner ein eigenes Revier zu gründen. „Unsere ausgewilderten Mädels Bavaria, Recka und Dagmar sind sozusagen im Grundschulalter und haben daher noch kein Interesse an Männchen. Ob sie sich in einigen Jahren mit einem zukünftig von uns dazugesetzten Burschen oder einem Wildvogel zusammentun, spielt für den Bestand letztlich keine Rolle“, so Toni Wegscheider.

20.04.2023, Senckenberg Forschungsinstitut und Naturmuseen
Das Genom des kleinsten Bartenwals gibt Einblick in Evolution und Tumorresistenz
Der Zwergglattwal (Caperea marginata) ist der kleinste aller Bartenwale – aber auch er wird bis zu sechs Meter lang und drei Tonnen schwer. Die selten zu sichtende Art lebt in den antarktischen Gewässern der Südhalbkugel. Wissenschaftlich ist der letzte überlebende Vertreter eines ansonsten ausgestorbenen Familienzweigs der Bartenwale noch wenig erforscht. Dabei kann sein Erbgut für die Krebsforschung interessante Informationen bereithalten, wie ein Team von Wissenschaftlern aus Frankfurt und dem schwedischen Lund jetzt herausgefunden hat. Ihre Studie zu Evolution und Tumorresistenz bei Bartenwalen ist in der Fachzeitschrift BMC Biology erschienen.
Der Zwergglattwal (Caperea marginata) ist der kleinste aller Bartenwale – aber auch er wird bis zu sechs Meter lang und drei Tonnen schwer. Die selten zu sichtende Art lebt in den antarktischen Gewässern der Südhalbkugel. Wissenschaftlich ist der letzte überlebende Vertreter eines ansonsten ausgestorbenen Familienzweigs der Bartenwale noch wenig erforscht. Dabei kann sein Erbgut für die Krebsforschung interessante Informationen bereithalten, wie ein Team von Wissenschaftlern aus Frankfurt und dem schwedischen Lund jetzt herausgefunden hat. Ihre Studie zu Evolution und Tumorresistenz bei Bartenwalen ist in der Fachzeitschrift BMC Biology erschienen.
Eigentlich sind Wale mit ihren riesigen Körpern prädestiniert für Tumorerkrankungen. Je mehr Zellen vorhanden sind und sich teilen, desto eher kann eine Mutation an einer entscheidenden Stelle das Erbgut schädigen und die Entwicklung eines Tumors auslösen. Dennoch scheinen die riesigen Wale ungewöhnlich selten an Krebs zu erkranken. Dieses Phänomen der Onkologie und Statistik, benannt nach seinem Entdecker Richard Peto, wird auch als „Petos Paradoxon“ bezeichnet. Bis heute ist nicht bekannt, wie diese Resistenz auf genetischer Ebene funktioniert, aber ihre Entschlüsselung birgt ein großes Potenzial für die Krebsforschung.
Um diesem Rätsel auf die Spur zu kommen, haben Forscher des Senckenberg Biodiversität und Klima Forschungszentrums (SBiK-F), des hessischen LOEWE-Zentrums für Translationale Biodiversitätsgenomik (TBG) sowie der Universitäten Frankfurt am Main und Lund, Schweden, das Genom des Zwergglattwals analysiert. Mit modernsten Methoden der Genomik, Bioinformatik, Phylogenomik und Selektionsforschung fanden sie zahlreiche Gene, die bei großen Walen, wie etwa dem Blauwal, Finnwal oder Grönlandwal, deutlich mehr Mutationen aufweisen als beim kleinen Zwergglattwal.
Während Genmutationen grundsätzlich eher als schädlich angesehen werden, scheint eine hohe Anzahl von Mutationen innerhalb eines Gens und die daraus resultierende Veränderung einer Eigenschaft hingegen positive Auswirkungen auf eine Art zu haben. Die Ergebnisse legen die Vermutung nahe, dass diese „positiv selektierten“ Gene bei Walen eine besondere Rolle für die Krebsresistenz spielen könnten. „Unsere neuen Erkenntnisse zeigen, dass offenbar fast alle großen Walarten unterschiedliche positiv selektierte Gene in ihren Genomen aufweisen. Dies lässt sich möglicherweise mit der bereits in der Paläontologie diskutierten Idee erklären, dass der für Bartenwale so typische Gigantismus im Laufe der Evolution wahrscheinlich mehrfach und unabhängig voneinander entstanden ist“, erklärt Magnus Wolf vom SBiK-F und der Frankfurter Goethe-Universität, Erstautor der Studie. „Das bedeutet, dass jede große Walart eine eigene Form der Tumorresistenz entwickelt haben könnte, die sich hoffentlich in Zukunft medizinisch nutzen lässt.“ Tatsächlich zählen zu den durch das Team identifizierten Genen auch solche, die in der Tumorforschung bereits bekannt, aber noch nicht umfassend erforscht sind, so dass die Genome von Walen hilfreiche Informationen liefern können.
Auch die Verwandtschaftsverhältnisse innerhalb der Bartenwale, zu denen Grauwale, Glattwale und Furchenwale gehören, konnten die Wissenschaftler in ihrer Studie genauer als bisher entschlüsseln. So identifizierten sie einen Punkt in der Evolution der Furchenwale, an dem sich ihr gemeinsamer Vorfahre vermutlich gleichzeitig in drei Linien aufspaltete. Die Ergebnisse zeigen auch, dass ein genetischer Austausch zwischen den Vorfahren der heutigen Arten noch lange möglich war.
„Unsere Studie entspricht genau dem Ansatz und dem Motto des LOEWE-Zentrums TBG: ‚dokumentieren – schützen – nutzen‘. Die genomischen Daten zeigen und vermitteln die Biodiversität und tragen zu Maßnahmen zu ihrer Erhaltung bei. Gleichzeitig sind diese Erkenntnisse aus anwendungsorientierter Perspektive für die Medizin wertvoll“, erläutert Studienleiter Prof. Dr. Axel Janke, ebenfalls Wissenschaftler am SBiK-F und der Frankfurter Universität, der das hessische LOEWE-Exzellenzzentrum TBG mit aufgebaut und sechs Jahre lang geleitet hat.
Dieses Forschungs- und Anwendungspotenzial drohe jedoch mit dem Verlust der Artenvielfalt verloren zu gehen, so Janke. „Auch wenn Bartenwale inzwischen streng geschützt sind und die Bestände wieder zunehmen, finden sich in den Genomen dieser Tiere Spuren ihrer früheren Bejagung wie zum Beispiel ein gewisser Verlust genetischer Diversität – mit möglichen Langzeitfolgen für die Wale. Deshalb ist ein genaues genomisches Monitoring wichtig“, betont Janke.
Originalpublikation:
Publikation in BMC Biology:
Magnus Wolf, Konstantin Zapf, Deepak Kumar Gupta, Michael Hiller, Úlfur Árnason & Axel Janke
The genome of the pygmy right whale illuminates the evolution of rorquals
https://doi.org/10.1186/s12915-023-01579-1

20.04.2023, Julius-Maximilians-Universität Würzburg
Wie bienenfreundlich ist der Wald?
Welche Rolle spielen Wälder als Lebensraum für Honigbienen? Dieser Frage ist ein Team um den Würzburger Biologen Dr. Benjamin Rutschmann nachgegangen. Dazu nutzten die Forscher Beobachtungsstöcke im Steigerwald.
Bienen verbindet man gemeinhin eher mit blühenden Wiesen als mit dichten Wäldern. Der Wald allerdings gilt als ursprünglicher Lebensraum der Westlichen Honigbiene (Apis mellifera), da er Nistplätze in Form von Baumhöhlen bietet. Forscher der Julius-Maximilians-Universität Würzburg (JMU) haben nun untersucht, inwieweit wirtschaftlich genutzte Laubwälder als Nahrungshabitat für die emsigen Insekten geeignet sind.
Zu diesem Zweck nutzten Benjamin Rutschmann und Patrick Kohl zwölf Beobachtungsstöcke im Steigerwald – der jeweilige Waldanteil variierte dabei für jedes Bienenvolk. Die beiden Wissenschaftler forschen an der JMU am Lehrstuhl für Tierökologie und Tropenbiologie (Zoologie III), den Professor Ingolf Steffan-Dewenter leitet. Letzterer war ebenfalls an der Studie beteiligt, die nun im Journal of Applied Ecology erschienen ist.
Die Antworten stecken im Tanz
Honigbienen kommunizieren durch den sogenannten Schwänzeltanz. Insgesamt 2022 dieser Darbietungen filmte und analysierte das Team im Verlauf der Studie. Weil die Bienen ihren Artgenossinnen bei diesen Tänzen auch den ungefähren Standort einer Futterquelle mitteilen, konnten so Rückschlüsse auf Sammeldistanzen und Habitatpräferenzen gezogen werden. Das überraschende Ergebnis: Die Bienen nutzen den Wald weit weniger als erwartet. Völker, die tief im Wald lebten, mussten oft weite Strecken zur Nahrungsbeschaffung zurücklegen.
„Speziell im Spätsommer war die Versorgung mit Pollen im Wald nicht oder nur unzureichend gewährleistet, obwohl gerade dies eine kritische Zeit für die Bienenvölker und ihre Brut ist“, so Rutschmann. Einer der Hauptgründe dafür sei die Buche, die im Steigerwald mehr als 40 Prozent des Baumbestands ausmacht: „Buchenwälder sind dunkel, da wächst nicht viel am Boden. Kaum eine Pflanze kommt nach dem Kronenschluss mit den Lichtverhältnissen in Buchenwäldern klar, also fehlt die so wichtige diverse Krautschicht,“ so der Biologe.
Die Bienen brauchen diversere Wälder
Honigtautrachten oder blühenden Baumarten, etwa Linde, Robinie und Kastanie oder auch Sträucher wie Brom- und Himbeere bieten den Bienen zwar während kurzer Zeiträume im Jahr eine wichtige Kohlenhydratquelle und teilweise auch Pollen als Proteinquelle; die Bienen brauchen allerdings über die ganze Saison ein ausgewogenes Futterangebot. „Für ein bienenfreundlicheres Umfeld sollten Waldbestände mit insektenbestäubten Bäumen – Kirsche, Linde, Ahorn, Weide, Roß- oder Edelkastanie – diversifiziert werden“, rät Rutschmann. Sekundäre Sukzessionen, also die natürliche Rückkehr der für einen Standort typischen Flora und Fauna, in Waldlücken zuzulassen, könnte dabei helfen.
Als wäre die mangelnde Nahrung nicht schon Problem genug, kommt für wildlebende Honigbienenvölker in bewirtschafteten Wäldern noch das geringe Angebot an Baumhöhlen erschwerend hinzu.
In einem möglichen nächsten Schritt könnte der Vergleich zu anderen europäischen Waldgebieten mit abweichender Baumartenzusammensetzung und Bewirtschaftung untersucht werden: „Speziell der Vergleich mit geschützten Gebieten, wo größere Störungen auftreten, wäre spannend“, so Benjamin Rutschmann. Mehr natürliche Störungen und weniger Optimierung für wirtschaftliche Zwecke dürfte nicht nur die Blütenvielfalt im Wald erhöhen, sondern auch die Überlebenschancen wildlebender Bienenvölker verbessern.
Nicht nur Honigbienen profitieren
Die Honigbiene braucht also einen diverseren Wald als Lebensraum. Einmal etabliert, trägt sie im Gegenzug auch maßgeblich zum Erhalt der Biodiversität bei. Die überwältigende Mehrheit der Pflanzen ist nämlich auf Fremdbestäubung angewiesen. Die Honigbiene wiederum gehört, neben zahlreichen anderen Wildbienenarten, zu den wichtigsten Bestäubern.
Von einem diverseren Wald profitiert nicht nur die Biene, sondern letztlich auch der Wald selbst – ein diverses Ökosystem ist ein gesundes Ökosystem und etwa weniger anfällig für Schädlingsbefall. „Der Umbau der Wälder zu artenreichen Laubmischwäldern fördert nicht nur die Biodiversität, sondern auch die Anpassung an künftige Klimabedingungen“ betont Ingolf Steffan-Dewenter.
Die Forschung und Ursachensuche zum globalen und regionalen Rückgang der biologischen Vielfalt ist ein Kernbereich des Lehrstuhls Zoologie III. Die Arbeit mit Insekten bildet hierbei einen besonderen Schwerpunkt.
Originalpublikation:
Benjamin Rutschmann, Patrick L. Kohl, Ingolf Steffan-Dewenter: Foraging distances, habitat preferences and seasonal colony performance of honeybees in Central European forest landscapes, in: Journal of Applied Ecology. https://doi.org/10.1111/1365-2664.14389

21.04.2023, Karlsruher Institut für Technologie
Klima- und Biodiversitätskrise dürfen nicht isoliert betrachtet werden
Der Klimawandel hat zusammen mit dem intensiven Nutzen und Zerstören natürlicher Ökosysteme einen beispiellosen, fortschreitenden Artenschwund ausgelöst. Häufig werden die Klima- und die Biodiversitätskrise aber wie getrennte Katastrophen behandelt. Ein internationales Team aus Forschenden, an dem auch das Karlsruher Institut für Technologie (KIT) beteiligt ist, fordert nun ein Umdenken: In ihrer im Fachmagazin Science veröffentlichten Übersichtsstudie betonen sie die Dringlichkeit, möglichst nahe am 1,5-Grad-Ziel zu bleiben, und unterstützen unter anderem das Vorhaben, mindestens 30 Prozent der Land-, Süßwasser- und Ozeanflächen unter Schutz zu stellen. (DOI: 10.1126/science.abl4881)
Die menschengemachte Klimakrise hat Folgen für den ganzen Planeten – beispielsweise verschiebt sich die Verteilung von Niederschlägen, der globale Meeresspiegel steigt, Extremwetterereignisse werden häufiger und die Ozeane versauern zunehmend. Zugleich schreitet der Verlust von Tier- und Pflanzenarten weltweit voran.
„Wir müssen Klima- und Artenschutz zwingend zusammen denken. Denn Maßnahmen, die sich beispielsweise allein auf den Klimaschutz konzentrieren, können sich durchaus auch negativ auf die Biodiversität auswirken“, sagt Professorin Almut Arneth vom Institut für Meteorologie und Klimaforschung – Atmosphärische Umweltforschung, dem Campus Alpin des KIT in Garmisch-Partenkirchen, und Mitautorin der Studie. „Beide Systeme funktionieren nur zusammen. Gesunde arten- und funktionsreiche Ökosysteme etwa tragen viel zur Minderung des Klimawandels bei.“
Laut der Übersichtsstudie haben menschliche Aktivitäten rund 75 Prozent der Landoberfläche und 66 Prozent der Ozeangebiete der Erde stark verändert. Durch Zerstörung von Lebensräumen und Übernutzung sind mehr Arten vom Aussterben bedroht als jemals zuvor in der Geschichte der Menschheit, was durch den Klimawandel weiter verstärkt wird. Die Erwärmung und die Zerstörung natürlicher Lebensräume reduzierten auch die Speicherkapazitäten von Organismen, Böden und Sedimenten für Kohlenstoff, was wiederum die Klimakrise verschärfe, so die Forschenden. Weil Organismen bestimmte Toleranzfenster für Umweltbedingungen wie die Temperatur haben, verschieben sich infolge der globalen Erwärmung die Lebensräume der Arten oder sie verschwinden ganz.
Renaturierung mindert Artensterben und bindet CO₂
Um der Klima- und Biodiversitätskrise zu begegnen, schlagen die Forschenden ein Aktionspaket aus Emissionsreduktion, Renaturierungs- und Schutzmaßnahmen, intelligentem Management von Nutzflächen sowie institutionsübergreifenden Kompetenzen in der Politik vor. „Ganz oben auf der Prioritätenliste steht natürlich nach wie vor die massive Reduktion der Treibhausgasemissionen und die Einhaltung des 1,5-Grad-Ziels“, sagt Professor Hans-Otto Pörtner vom Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung und Leitautor der Studie. Darüber hinaus müssten mindestens 30 Prozent der Land-, Süßwasser- und Ozeanflächen unter Schutz gestellt oder renaturiert werden, um die größten Biodiversitätsverluste zu vermeiden und die Funktionsfähigkeit der natürlichen Ökosysteme zu erhalten. Das helfe auch im Kampf gegen den Klimawandel. „Die tatsächliche Umsetzung des vor Weihnachten 2022 beschlossenen Kunming-Montreal Protokolls zum Schutz der Biodiversität hat daher ebenso hohe Priorität wie das Pariser Klimaabkommen“, betont Arneth.
Laut der Studie könnte schon eine weitgehende Renaturierung von 15 Prozent der zu Nutzland umgeformten Flächen ausreichen, um 60 Prozent der noch zu erwartenden Aussterbeereignisse zu verhindern. Zudem könnten damit bis zu 300 Gigatonnen Kohlendioxid langfristig aus der Atmosphäre entnommen und gebunden werden, was 12 Prozent des seit Beginn des Industriezeitalters insgesamt ausgestoßenen Kohlenstoffs entspräche.
Nachhaltige Maßnahmen schonen Ressourcen, sichern die Lebensmittelversorgung und verstärken die CO₂-Aufnahme
Weiterhin schlagen die Studienautorinnen und -autoren vor, Schutzgebiete nicht als isolierte Rettungsinseln für Artenvielfalt zu begreifen, sondern als Teil eines Netzwerks, das Gebiete mit naturnaher Wildnis über Migrationskorridore miteinander verbindet. Dabei gelte es, vor allem indigene Gesellschaften in das Schutzmanagement einzubinden und staatlich zu unterstützen. In der Landwirtschaft und Fischerei gehe es um ein nachhaltiges Nutzen der Flächen, das Ressourcen schont und die Lebensmittelversorgung sichert. Konzepte, die zu einer verstärkten Kohlendioxidaufnahme und Kohlenstoffbindung in Biomasse und Böden führen, seien dabei zu bevorzugen. Zugleich gehe es darum, Refugien für Arten zu schaffen, die ihrerseits den Ertrag erst möglich machen, wie Insekten, die Obstbäume bestäuben. In Städten schließlich sollte nach Einschätzung der Forschenden vor allem die Verbesserung der Kohlendioxid-Bilanz absolute Priorität haben.
Damit die für 2030 und 2050 geplanten globalen Biodiversitäts-, Klima- und Nachhaltigkeitsziele erreicht werden können, müssen bei allen Maßnahmen Klimaschutz, Biodiversitätserhalt und soziale Vorteile für die lokale Bevölkerung zusammengedacht werden, so das Fazit der Studie.
Die Studie ist das Ergebnis eines Workshops, den die Intergovernmental Science-Policy Platform on Biodiversity and Ecosystem Services (IPBES) und das Intergovernmental Panel on Climate Change (IPPC), beide auch bekannt als „Weltbiodiversitätsrat“ und „Weltklimarat“, gemeinsam durchführten.
Als „Die Forschungsuniversität in der Helmholtz-Gemeinschaft“ schafft und vermittelt das KIT Wissen für Gesellschaft und Umwelt. Ziel ist es, zu den globalen Herausforderungen maßgebliche Beiträge in den Feldern Energie, Mobilität und Information zu leisten. Dazu arbeiten rund 9 800 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auf einer breiten disziplinären Basis in Natur-, Ingenieur-, Wirtschafts- sowie Geistes- und Sozialwissenschaften zusammen. Seine 22 300 Studierenden bereitet das KIT durch ein forschungsorientiertes universitäres Studium auf verantwortungsvolle Aufgaben in Gesellschaft, Wirtschaft und Wissenschaft vor. Die Innovationstätigkeit am KIT schlägt die Brücke zwischen Erkenntnis und Anwendung zum gesellschaftlichen Nutzen, wirtschaftlichen Wohlstand und Erhalt unserer natürlichen Lebensgrundlagen. Das KIT ist eine der deutschen Exzellenzuniversitäten.
Originalpublikation:
H.-O. Pörtner, R. J. Scholes, A. Arneth, D.K.A. Barnes, M.T. Burrows, S.E. Diamond,
C.M. Duarte, W. Kiessling, P. Leadley, S. Managi, P. McElwee, G. Midgley, H.T. Ngo, D.
Obura, U. Pascual, M. Sankaran, Y.J. Shin, A.L. Val: Overcoming the coupled climate and biodiversity crises and their societal impacts. Science, 2023. DOI: 10.1126/science.abl4881
https://doi.org/10.1126/science.abl4881

21.04.2023, Ludwig-Maximilians-Universität München
Netzflügler: Insektenvielfalt war in der Kreidezeit größer
Ein LMU-Team hat die Biodiversität von Larven der Insektengruppe Neuroptera der letzten 100 Millionen Jahre untersucht.
Menschliches Handeln führt derzeit zu einem Verlust natürlicher Vielfalt, den manche Experten als das sechste große Massensterben der Erdgeschichte bezeichnen. Besonders dramatisch zeigt sich das beim Rückgang von Insekten, die nicht nur eine äußerst vielfältige Tiergruppe darstellen, sondern auch von immenser ökologischer und wirtschaftlicher Bedeutung sind.
Das Ausmaß des aktuellen Verschwindens der Insekten stellt definitiv einen Ausnahmezustand dar. Um die Prozesse dahinter besser zu verstehen, lohnt es sich auf frühere Aussterbeereignisse zurückzublicken. Denn auch bei Insekten in der Vergangenheit gilt: Manche Gruppen gewinnen an Bedeutung und diversifizieren sich, während andere das Nachsehen haben und sich in die wenigen verbleibenden Nischen zurückziehen müssen.
100 Millionen Jahre Larven-Vielfalt
Letzteres scheint auf die sogenannten Netzflügler (Neuroptera) zuzutreffen, zu deren heute noch lebenden Vertretern Florfliegen und Ameisenlöwen gehören. Forschende vermuten schon länger, dass die Bedeutung dieser Insektengruppe seit der Urzeit eher abgenommen hat. Quantitativ überprüft wurde das bisher aber noch nicht.
Ein Team um die LMU-Biologen Prof. Dr. Carolin Haug und Prof. Dr. Joachim Haug hat nun im Fachmagazin Scientific Reports eine Studie veröffentlicht, in der die Netzflügler-Diversität von der Kreidezeit bis heute quantitativ erfasst wurde. Zum ersten Mal stützen damit statistische Analysen das Bild der Vielfältigkeit von Netzflüglern über die Evolutionsgeschichte hinweg.
Wie aber misst und vergleicht man die biologische Vielfalt von Insekten im Verlauf der Evolution? Bestenfalls kann man einen unvollständigen Blick auf einen winzigen Bruchteil der Artenvielfalt früherer Ökosysteme werfen, denn Fossilien von Insekten sind sehr selten. Und auch wenn Jurassic Park diesbezüglich andere Erwartungen geschürt hat: Aus kreidezeitlichen in Bernstein eingeschlossenen Krabbeltieren lässt sich auch keine DNA für Verwandtschaftsanalysen mehr extrahieren.
Form und Funktion
Netzflügler gehören zu den holometabolen Insekten, ihre Larven unterscheiden sich also in Aussehen und Lebensweise stark von den erwachsenen Tieren. Während viele Netzflügler nach der Metamorphose Blüten bestäuben, sind ihre Larven oft erbitterte Räuber, was an ihren auffälligen stilettartigen Mundwerkzeugen deutlich wird. Genau diese larvalen Mundwerkzeuge standen im Fokus der Forschenden. „Leider werden Larvenstadien bei solchen Analysen häufig etwas stiefmütterlich behandelt.“, sagt Joachim Haug. „Dabei weisen gerade sie oft morphologische Merkmale auf, die wir als aufschlussreiche Datengrundlage verwenden können.“
Der Grundgedanke: Formenvielfalt ist ein Anzeiger für biologische Vielfalt. Denn je mehr unterschiedliche Kopfformen und Fresswerkzeuge bei den Neuroptera-Larven auftreten, desto mehr ökologische Funktionen nehmen diese ein. Treten in einer erdgeschichtlichen Epoche also besonders viele unterschiedliche Kopfpartien und Mundwerkzeuge auf, lässt sich daraus schlussfolgern, dass in dieser Zeit viele verschiedene Nischen durch diese Tiere besetzt waren. Das funktioniert auch, wenn nur wenige Exemplare überliefert und die Verwandtschaftsverhältnisse unklar sind.
Ein komplexes Muster
Die Forschenden vermaßen die Köpfe von über 1000 Larven, davon alle weltweit bekannten knapp 300 fossilen Netzflügler-Larven und 800 Exemplare noch heute lebender Arten. Sie konnten so bestätigen: Die Vielfalt an Netzflügler-Larven hat in den letzten 100 Millionen Jahren tatsächlich abgenommen.
„Obwohl unser Blick in die Vergangenheit auf einen kleineren Stichprobenumfang und auf ganz bestimmte Regionen der Welt beschränkt ist, können wir dennoch die größere morphologische Vielfalt der Neuroptera-Larven in der Kreidezeit erkennen“, meint Carolin Haug. „Es ist deshalb sogar wahrscheinlich, dass die tatsächliche Vielfalt in der Vergangenheit noch deutlich größer war.“ Insgesamt sei das Bild der Netzflügler-Geschichte aber komplex. Unter dem Strich habe die Vielfalt zwar eindeutig abgenommen, manche Neuroptera-Linien hätten sich aber auch diversifiziert und so an Bedeutung gewonnen.
„Außerdem konnten wir mit unserer Arbeit zeigen, wie viel Potenzial in der morphologischen Untersuchung von Insektenlarven steckt.“, ergänzt Haug. „Die quantitative Morphologie kann Veränderungen aufzeigen, die in einem taxonomischen Rahmen nicht quantitativ erfasst werden können.“
Originalpublikation:
Haug, C., Braig, F. & Haug, J.T.
Quantitative analysis of lacewing larvae over more than 100 million years reveals a complex pattern of loss of morphological diversity.
Sci Rep 13, 6127 (2023).
DOI: 10.1038/s41598-023-32103-8
https://doi.org/10.1038/s41598-023-32103-8

20.04.2023, Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung (IZW) im Forschungsverbund Berlin e.V.
Geparde brauchen mehr Platz: Wiederansiedlung in Indien muss deren Raumnutzungsverhalten berücksichtigen
Im Herbst 2022 und Winter 2023 wurden insgesamt 20 Geparde aus Namibia und Südafrika im Kuno Nationalpark in Indien angesiedelt, um eine freilebende Population zu etablieren – zum ersten Mal seit ihrem Aussterben in Indien vor 70 Jahren. Obgleich die Idee zunächst großartig erscheint, ist die richtige Umsetzung nicht einfach. Wissenschaftler:innen des Gepardenforschungsprojekts des Leibniz-IZW in Namibia sehen Versäumnisse bei der Planung der Wiederansiedlung, die von zu hohen Bestandsdichten für die Geparde im Kuno-Nationalpark ausgehen.
Geparde leben in einem sozial stabilen räumlichen System mit weit auseinander liegenden Territorien und Dichten von weniger als einem Individuum pro 100 km². Die Planungen für Geparde im Kuno-Nationalpark gehen davon aus, dass die hohe Beuteverfügbarkeit eine ungewöhnlich hohe Dichte von Geparden unterstützen kann, obgleich bislang in der Gepardenökologie kein Zusammenhang zwischen hoher Gepardendichte und hoher Beuteverfügbarkeit festgestellt wurde. Da der Kuno Nationalpark klein ist, ist es sehr wahrscheinlich, dass sich die Tiere weit über die Grenzen des Parks hinaus bewegen und somit Konflikte mit den Bewohnern der angrenzenden Dörfern unausweichlich werden, so das Team in einem Letter in der Fachzeitschrift „Conservation Science and Practice“.
Der asiatische Gepard (Acinonyx jubatus venaticus), eine Unterart des weltweit stark bedrohten Gepards, lebte auf dem indischen Subkontinent, bis er vor etwa 70 Jahren ausgerottet wurde. Im September 2022 und Februar 2023 wurden insgesamt 20 Geparde aus Namibia und Südafrika der Unterart Acinonyx jubatus jubatus im Kuno-Nationalpark im indischen Bundesstaat Madhya Pradesh angesiedelt, um als Keimzelle einer neuen Population der Katzen in Indien zu fungieren. Der Kuno-Nationalpark ist ein nicht eingezäuntes Wildnisgebiet von etwa 17 mal 44 Kilometern (etwa 750 km²). Basierend auf einer Berechnung der Beutedichte wurde kalkuliert, dass 21 erwachsene Geparde von diesem Beutebestand im Kuno-Nationalpark leben können – dies entspricht einer Dichte von etwa drei Individuen pro 100 km².
Basierend auf eigenen Forschungsergebnissen aus einer Langzeituntersuchung des Raumnutzungsverhalten von Geparden in Namibia und vergleichbaren Arbeiten in Ostafrika warnen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Leibniz-Instituts für Zoo- und Wildtierforschung (Leibniz-IZW) vor einer Überschätzung der ökologischen Tragfähigkeit des Gebietes. Diese betrage für Geparde unter natürlichen Umständen meist zwischen 0,2 und 1 erwachsenen Tier pro 100 km². Dies gelte nicht nur für das weitläufige Namibia, sondern auch für das dicht mit Beutetieren besetzte Serengeti-Ökosystem in Ostafrika. Das Team stellte vor diesem Hintergrund Vorhersagen zum räumlichen Verhalten der Geparde in ihrem neuen Lebensraum auf und identifizierte dabei Probleme und versteckte Kernannahmen des Wiederansiedlungsplans. Diese Annahmen lassen wichtige Aspekte des Gepardensystems außer Acht:
Männliche Geparde verfolgen zwei unterschiedliche räumliche Taktiken. Territorieninhaber besetzen Territorien, die aus einer Ansammlung wichtiger Hotspots für die innerartliche Kommunikation bestehen. Andere Männchen ohne Territorium („floater“) leben und bewegen sich zwischen existierenden Territorien, ebenso wie die Weibchen, mit gelegentlichen Exkursionen in die Territorien, um an den Markierungsstellen wichtige Informationen zu erlangen. „Die Territorien grenzen nicht aneinander, ihre Zentren liegen immer ungefähr 20 bis 23 Kilometer voneinander entfernt“, sagt Dr. Jörg Melzheimer vom Gepardenforschungsprojekt. „Der Raum zwischen den Territorien wird von keinem Männchen verteidigt, er ist der Lebens- und Transit-Raum für die nicht-territorialen Männchen und Weibchen“. Dieses evolutionär entwickelte und tief verankerte Verhalten werde auch in Indien zu einem System mit Territorien in einem Abstand von etwa 20 bis 23 Kilometern führen. „Dieser Abstand ist unabhängig von der tatsächlichen Größe der Territorien oder der Beutedichte“, fügt Dr. Bettina Wachter vom Gepardenforschungsprojekt hinzu. „In Namibia sind Territorien größer und die Beutedichte niedriger, in Ostafrika kleiner und die Beutedichte höher – aber ihr Abstand ist konstant und es werden dazwischen keine neuen Territorien etabliert. Für den Wiederansiedlungsplan wurden diese Abstände ignoriert.“
Bereits mit den im Herbst 2022 aus Namibia transferierten Geparde, darunter drei Männchen, sei die Tragfähigkeit des Kuno-Nationalparks in Bezug auf das territoriale System der Geparde erreicht, folgern Wachter, Melzheimer und ihr Team. „Unabhängig von der Größe ihrer in Indien etablierten Territorien werden die drei namibischen Männchen den kompletten Nationalpark besetzt haben und keinen Raum für weitere Territorien der kürzlich aus Südafrika zusätzlich angesiedelten Geparde lassen“, so ihr Fazit. Obwohl der Prozess, in welchem sich ein sozial-räumliches System nach einer Wiederansiedlung etabliert, noch nicht erforscht ist, gibt es erste Erkenntnisse, wonach die angesiedelten Geparde in den ersten Monaten nach der Translokation weite Streifzüge über ein Gebiet von tausenden Quadratkilometern unternehmen. „Wir gehen daher davon aus, dass Geparde mit hoher Wahrscheinlichkeit auch weit außerhalb des Nationalparks anzutreffen sein werden und im Umfeld des Parks mit Viehzüchtern in Konflikt geraten werden“, schreiben die Wissenschaftler:innen in ihrem Letter. Der Prozess der Etablierung ihres räumlichen Systems werde wahrscheinlich einige Monate andauern und wahrscheinlich zur Herausbildung von Territorien außerhalb des Parks führen, weshalb auch die nicht-territorialen Männchen und Weibchen häufig außerhalb des Parks anzutreffen sein werden.
Das Team empfiehlt vor dem Hintergrund der vorliegenden Forschungsergebnisse, dass bei allen zukünftigen Wiederansiedlungen von Geparden in Indien die räumliche Organisation der Art berücksichtigt wird. Damit könnten Konflikte pro-aktiv angegangen und wertvolle Erkenntnisse über den Ablauf der Etablierung des territorialen Systems der Geparde nach Ansiedlungen gesammelt werden.
Originalpublikation:
Wachter B, Portas R, Melzheimer J (2023): The introduction of African cheetahs to India was planned without considering their spatial ecology. Conservation Science and Practice. DOI: 10.1111/csp2.12943

Dieser Beitrag wurde unter Wissenschaft/Naturschutz veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert