05.09.2022, Eberhard Karls Universität Tübingen
Was Fossilien über die Kreuzung früher Menschen verraten
Forscherinnen von den Universitäten Tübingen und Kapstadt analysieren, wie sich Hybridisierung auf das Skelett auswirkte
Viele heutige Menschen tragen einen kleinen Anteil an Neandertaler-DNA in ihren Genen, was darauf hindeutet, dass die Vermischung mit anderen Abstammungslinien früherer Menschenformen eine wichtige Rolle in der Evolution unserer Spezies spielte. Paläogenetische Beweise legen nahe, dass es mehrfach zu Kreuzungen mit Neandertalern und anderen früheren Gruppen kam: Die Geschichte unserer Art ähnelt eher einem Netzwerk oder vielverzweigten Strom als einem Baum. Der Ursprung der Menschheit war komplexer als bis-her angenommen.
Um die Auswirkung von Hybridisierungen zu untersuchen, müssen mehrere Beweislinien einbezogen werden. Alte DNA aus Fossilien ist selten gut erhalten, daher muss man in der Forschung Hybride anhand ihres Skeletts erkennen. Das sei entscheidend, um unsere komplexe Vergangenheit zu verstehen und was uns zu Menschen macht, sagen Professorin Katerina Harvati vom Senckenberg Centre for Human Evolution and Palaeoenvironment an der Universität Tübingen und Professorin Rebecca R. Ackermann vom Human Evolution Research Institute der Universität Kapstadt, Südafrika. Sie haben den Einfluss der Hybridisierung an fossilen Schädeln untersucht und einzelne potenzielle Hybride aus der Vergangenheit identifiziert. Ihre Arbeit wurde in der Zeitschrift Nature Ecology and Evolution veröffentlicht.
Sorgfältige Analyse der Daten
Die Forscherinnen untersuchten eine große Anzahl fossiler Überreste früherer Menschen aus dem späten Paläolithikum Eurasiens, die auf die Zeit vor ungefähr 40.000 bis 20.000 Jahren datiert werden. Bei mehreren dieser Individuen wurde alte DNA gefunden, in die Neandertalervorfahren einen kleinen Anteil eingebracht hatten. Dies deutet auf eine Vermi-schung mit dieser Gruppe vor vergleichsweise kurzer Zeit hin. Die Schädelknochen dieser Individuen wurden mit denen von – unvermischten – Neandertalern sowie mit frühen und jüngeren Individuen des Homo sapiens aus Afrika verglichen. Die Forscherinnen untersuchten drei Schädelregionen, den Unterkiefer, die Hirnschale und das Gesicht, auf Anzeichen von Hybridisierung. „Dazu gehören zum Beispiel Übergangsformen zwischen Neandertalern und anatomisch modernen Menschen in der Morphologie, Zahnanomalien oder ungewöhnliche Größen. Dies sind Merkmale, wie sie bei Hybriden verschiedener Säugetiere, einschließlich der Primaten, zu finden sind“, erklären Harvati und Ackermann. Ihre Studie zeigte, dass Anzeichen der Hybridisierung in der Hirnschale und im Unterkiefer erkennbar sind, nicht aber in den Gesichtern.
Bei den Individuen mit bekanntem genetischem Hintergrund untersuchten die Forscherinnen auch, ob das Ausmaß der Hybridisierungsmerkmale am Skelett mit dem Prozentsatz der Neandertalerverwandtschaft übereinstimmte. Das war nicht der Fall. „Wahrscheinlich ist es entscheidender, ob bestimmte genetische Varianten vorhanden sind, als der Anteil der Neandertalerverwandtschaft insgesamt“, sagen die Forscherinnen.
Harvati und Ackermann identifizierten einige der untersuchten Individuen als potenzielle Hybride, darunter welche aus dem Nahen Osten – einer Region, in der die Gruppen be-kanntermaßen aufeinandertrafen, – aber auch einige aus West- und Osteuropa. „Wenn möglich, sollte der Hybridstatus eines Individuums anhand genetischer Daten bestätigt werden, weshalb wir unsere Ergebnisse als zu prüfende Hypothesen betrachten“, sagt Harvati. Dies sei die erste Studie dieser Art, sagt sie: „Wir hoffen, dass sie auch andere Forscher ermutigt, diese Fossilien genauer zu untersuchen und mehrere Beweislinien zu kombinieren, um Hybridisierungen zu erkennen.“
Wegbereiter der Evolution
Bei anderen Organismen – von Pflanzen bis hin zu großen Säugetieren – ist bekannt, dass Hybridisierung vielfältige und ungewöhnliche evolutive Innovationen erzeugt. „Man schätzt, dass etwa zehn Prozent der Tierarten Hybride hervorbringen, darunter zum Beispiel Rinder, Bären, Katzen und Hundeartige“, sagt Ackermann. Auch bei Primaten, unseren nahen Verwandten, seien Hybride bekannt, etwa bei den Pavianen. „Da die Hybridisierung neue Variationen einführt und neue Kombinationen von Varianten schafft, kann dies eine besonders schnelle Evolution ermöglichen, insbesondere wenn neue oder sich verändernde Umweltbedingungen herrschen“, sagt sie.
Daher könnten frühe Menschen durch Hybridisierung genetische und anatomische Merk-male erlangt haben, die ihnen bei der Ausbreitung von Afrika aus über die ganze Welt wichtige Vorteile verschafften und zu unserer heutigen physisch vielfältigen und evolutionär widerstandsfähigen Art führten, erklären die Autorinnen.
Originalpublikation:
Harvati K., Ackermann R.R.: Merging morphological and genetic evidence to assess hybrid-ization in Western Eurasian Late Pleistocene hominins. Nature Ecology & Evolution,
https://doi.org/10.1038/s41559-022-01875-z
05.09.2022, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn
Blattläuse und ihre Lieblingsfarben
Im Garten gehören Blattläuse zu den eher ungeliebten Gästen. In der Landwirtschaft können die kleinen Insekten umso größeren Schaden anrichten. Aber wie wählen sie eigentlich ihre Wirtspflanzen aus? Welche grundlegenden Mechanismen stecken dahinter? Forscher der Universitäten Bonn und Kassel stellen jetzt zwei neuartige Modelle vor, mit denen das Farbsehen und somit die Reaktion der Blattläuse auf Pflanzen analysiert werden kann. Das eröffnet neue Möglichkeiten für die zukünftige Forschung zu diesem Thema – kann aber auch für landwirtschaftliche Anwendungen relevant sein. Die Studie ist in der Fachzeitschrift Philosophical Transactions of the Royal Society B erschienen.
Bereits seit Jahren ist bekannt, dass Blattläuse vor allem auf die Farbe Gelb stehen, weshalb in der Landwirtschaft mitunter gelbe Farbfallen zum Einsatz kommen. Sie erfassen, welchen Druck die Tiere auf Nutzpflanzen ausüben. Für ihre aktuelle Studie stellten die Forscher in zwei aufeinanderfolgenden Frühjahren insgesamt mehr als 200 Farbfallen mit rund 70 verschiedenen Farben auf dem Feld auf.
Mit einem Licht-Spektrometer maßen sie die sogenannten Reflexionsspektren der einzelnen Farben für jede Wellenlänge. „Das Spektrometer erlaubt uns, die Farben objektiv zu quantifizieren. Das ist wichtig, weil Menschen Farben ganz anders wahrnehmen als Insekten – auf unsere Augen können wir uns da also nicht verlassen“, sagt Studienleiter Prof. Dr. Thomas F. Döring vom Institut für Nutzpflanzenwissenschaften und Ressourcenschutz (INRES) der Universität Bonn.
Die Reflexionsdaten und die Verhaltensdaten, also die Zahl der gefangenen Blattläuse je Falle, bildeten anschließend die Grundlage für zwei mathematische Modelle. Ziel war es, die Reflexions- und Verhaltensdaten miteinander in Beziehung zu setzen – und so herauszufinden, welche Wellenlängen für die Reaktion der Blattläuse entscheidend sind.
Zwei Modelle mit ähnlichem Ergebnis
In das erste Modell ließen die Wissenschaftler bereits bekannte Daten darüber einfließen, welche Sehzellen bei der Nahrungssuche von Blattläusen angeregt werden. Das zweite Modell kam ohne die physiologischen Daten aus und berücksichtigte ausschließlich das Verhalten der Tiere sowie die gemessenen Reflexionsdaten je Farbe. Für dieses Modell wendeten die Wissenschaftler eine spezielle statische Methode an, Regression der partiellen kleinsten Quadrate (PLSR-Ansatz) genannt.
Beide Modelle kamen zu ähnlichen Ergebnissen. Zum einen bestätigten sie die Vorliebe der Blattläuse für die Farbe Gelb. Zum anderen ließen beide Modelle auf einen speziellen neuronalen Mechanismus schließen, der das Sehverhalten der Blattläuse steuert. „Dass sich die Ergebnisse beider Auswertungen am Ende derart decken, hat uns selbst überrascht“, sagt Dr. Sascha M. Kirchner von der Universität Kassel. „Aber das Ergebnis ist so stark, dass es kein mathematisches Artefakt sein kann.“
Eine Schlussfolgerung der Forscher: Auch bei Blattlausarten, für die bisher keine physiologischen Daten vorliegen, kann die neue Auswertungsmethode – zusammen mit ausgewählten Farbreizen – dabei helfen, dem Sehverhalten genauer auf die Spur zu kommen. „So könnte man sich in Zukunft aufwendige elektrophysiologische Untersuchungen an den Tieren sparen“, betont Döring, Mitglied im Transdisziplinären Forschungsbereich „Sustainable Futures“ und im Exzellenzcluster PhenoRob der Universität Bonn.
Brücke zwischen Biologie und Landwirtschaft
Mit ihrer Studie vereinen die Wissenschaftler auf besondere Weise die biologische und landwirtschaftliche Forschung. In der Neurobiologie dienen Läuse normalerweise nicht als Modellorganismen, um grundlegende Mechanismen zu untersuchen. In der Landwirtschaft wiederum werden derartige Verhaltensanalysen aufgrund ihrer Detailliertheit häufig nicht angewandt. „In unserer Studie haben wir versucht, eine Brücke zu bauen zwischen angewandter Wissenschaft und Grundlagenforschung“, sagt Feldökologe Thomas Döring.
Konkret könnten die neuen Modelle dazu beitragen, bereits bestehende landwirtschaftliche Methoden zu optimieren, zum Beispiel sogenannte Mulchverfahren, die den optischen Hintergrund der Nutzpflanzen verändern und damit Wirtspflanzen vor den Schädlingen „verstecken“ können. Die Ergebnisse könnten auch relevant sein für Versuche, die Blattfarbe zu verändern, zum Beispiel durch Zucht oder eine spezielle Düngung. Die aktuelle Studie liefert bereits Hinweise darauf, dass Weizenblätter bei einer niedrigen Stickstoffdüngung attraktiver auf Blattläuse wirken als wenn sie intensiver mit Stickstoff behandelt wurden.
Warum eigentlich Gelb?
Offen bleibt die Frage, warum Läuse eigentlich eine derartige Vorliebe für Gelb haben – schließlich sind ihre Nahrung grüne Pflanzenblätter. „Physiologisch kann man das jetzt erklären, aber welcher Nutzen für die Läuse dahintersteckt, ist nach wie vor ungeklärt“, sagt Thomas Döring.
In zukünftigen Studien möchten er und seine Kolleginnen und Kollegen dem Effekt des UV-Lichts genauer nachgehen, was sowohl für die Anwendung im Pflanzenschutz als auch aus biologischer Sicht interessant ist.
Darüber hinaus gibt die Studie erste Hinweise darauf, dass manche Blattlausarten etwas anders reagieren als die meisten anderen. Ob dieses Verhalten fundamental anders ist, muss ebenfalls in weiteren Untersuchungen geklärt werden.
Originalpublikation:
Thomas F. Döring & Sascha M. Kirchner: A model for colour preference behaviour of spring migrant aphids. Philosophical Transactions of the Royal Society B; https://doi.org/10.1098/rstb.2021.0283
06.09.2022, Deutsches Primatenzentrum GmbH – Leibniz-Institut für Primatenforschung
Stress im Kinderzimmer: Die Geburt eines jüngeren Geschwisters löst bei Bonobo-Kindern dauerhafte Stressreaktionen aus
Die Geburt eines zweiten Kindes ist nicht nur für die Eltern ein besonderes Erlebnis, sondern auch für das ältere Geschwisterkind. Aus Verhaltensstudien mit Menschen ist bekannt, dass die Änderung der Familienkonstellation für das ältere Kind eine verwirrende und anstrengende Zeit ist, die nicht selten mit Anhänglichkeit, depressiven Stimmungen und Wutanfällen einhergeht. Unklar war bislang jedoch, inwieweit dieser Stress auch physiologisch nachweisbar ist. Verena Behringer, Wissenschaftlerin am Deutschen Primatenzentrum (DPZ) – Leibniz-Institut für Primatenforschung in Göttingen ist dieser Frage bei unseren nächsten Verwandten nachgegangen. (eLife)
In einer Studie, die sie gemeinsam mit Andreas Berghänel, Konrad-Lorenz-Institut für Vergleichende Verhaltensforschung, Veterinärmedizinische Universität Wien sowie einem internationalen Forschungsteam durchführte, untersuchte sie verschiedene Marker im Urin von wildlebenden Bonobos (Pan paniscus). Die Forschenden fanden heraus, dass die Geburt eines zweiten Jungtieres bei den älteren Geschwistern den Anstieg des Stresshormons Kortisol um das Fünffache und eine verminderte Immunabwehr zur Folge hatte. Die physiologischen Veränderungen waren bis sieben Monate nach der Geburt nachweisbar und unabhängig von den üblichen Entwöhnungsprozessen, die die Jungtiere altersbedingt ohnehin durchleben.
Die Studie wurde an der Forschungsstation LuiKotale im kongolesischen Regenwald durchgeführt. Nahe der Station leben zwei Gruppen von Bonobos, die an Menschen gewöhnt sind. Die Forschenden beobachteten über 650 Stunden lang das Verhalten von 17 Jungtieren, die zum ersten Mal ein Geschwister bekamen und bei dessen Geburt zwischen zwei und acht Jahre alt waren. Gleichzeitig sammelten sie 319 Urinproben der Bonobos vor und nach der Geburt des Geschwister-Jungtieres.
„Während die Jungtiere heranwachsen gibt es verschiedene Prozesse der sozialen Entwöhnung oder der Nahrungsumstellung, die ebenfalls Stressreaktionen auslösen können“, sagt Verena Behringer, Wissenschaftlerin im Hormonlabor am Deutschen Primatenzentrum und Hauptautorin der Studie. „Dazu gehört zum Beispiel, dass die Jungtiere ab einem bestimmten Zeitpunkt nicht mehr gesäugt oder weniger getragen werden. Um den altersbedingten Entwöhnungsprozess von der Geburt des Geschwisterchens auseinander zu dividieren, haben wir die Urinproben und die Verhaltensbeobachtungen vor und nach der Geburt des zweiten Jungtieres analysiert und dazu ins Verhältnis gesetzt.“
Verena Behringer untersuchte die Urinproben im Labor auf die Konzentrationen dreier verschiedener Substanzen: Kortisol, Neopterin und Trijodthyronin (T3). Kortisol ist ein Hormon, das als Reaktion auf einen Stressor ausgeschüttet wird, Neopterin wird von den aktiven Abwehrzellen des Immunsystems produziert und T3 ist ein Schilddrüsenhormon, das die Stoffwechselaktivität im Körper reguliert. Die Konzentration dieser Marker im Urin vermittelt ein Bild vom physiologischen Zustand der jungen Bonobos. Die Untersuchungen zeigten, dass die Kortisolwerte im Urin der älteren Geschwister bei der Geburt ihres jüngeren Geschwisters um das Fünffache anstiegen und bis zu sieben Monate auf diesem Level blieben. Gleichzeitig sanken die Neopterin-Konzentrationen ab, was auf eine verminderte Immunabwehr schließen lässt. Das Schilddrüsenhormon T3 zeigte hingegen keine signifikante Änderung.
„Die Bonobo-Kinder erleben mit der Geburt ihres Geschwisters plötzlich einen extremen Stresszustand“, erklärt Verena Behringer diese Ergebnisse. „Die Kortisolwerte sind langfristig ungewöhnlich hoch, unabhängig davon ob das Jungtier bei der Geburt des Geschwisters zwei oder bereits acht Jahre alt war. Diese andauernde Stressreaktion wirkt sich negativ auf die Immunabwehr aus. Da die Konzentration des Schilddrüsenhormons keine Änderung zeigte, können wir davon ausgehen, dass die Stressreaktion nicht durch energetische Stressoren, wie beispielsweise ein abruptes Beenden des Säugens, ausgelöst wird.“
Diese Annahme bestätigten auch die aufgenommenen Verhaltensdaten. Die Forschenden beobachteten zum Beispiel in welchem Maß die älteren Jungtiere gesäugt wurden, wie viel Körperkontakt noch zur Mutter bestand und wie oft sie getragen wurden. Alle Entwöhnungsprozesse, die als zusätzliche Stressoren wirken können, waren entweder vor der Geburt des zweiten Jungtieres abgeschlossen, zeigten mit der Geburt keine plötzliche Änderung oder waren nur signifikant bei jüngeren Tieren und verschwanden mit zunehmendem Alter der Jungtiere.
„Unsere Studie beweist erstmals, dass die Geburt eines Geschwisters für das ältere Kind eine wirklich stressige Angelegenheit ist“, fast Verena Behringer zusammen. „Sorgen muss man sich aber nicht machen. Sehr wahrscheinlich ist dieser Stress tolerierbar und führt zu einer höheren Stressresistenz der älteren Kinder im späteren Leben. Jüngere Geschwister sind schließlich nicht nur Konkurrenten, sondern wichtige Sozialpartner, die uns in unserer Entwicklung positiv beeinflussen.“
Originalpublikation:
Behringer V, Berghänel A, Lee SM, Furth B, Hohmann G (2022): Transition to siblinghood causes substantial and long-lasting increase in urinary cortisol levels in wild bonobos. eLife, elifesciences.org/articles/77227
06.09.2022, Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung
As time goes by: Wenn Fledertiere altern, verändern sich ihre Immunzellen
Studie von FLI und HIRI enthüllt die Komplexität der Leukozyten in ägyptischen Flughunden und ihre Prägung durch das Alter
Ein Forschungsteam um Anca Dorhoi vom Friedrich-Loeffler-Institut (FLI) in Greifswald und Emmanuel Saliba vom Helmholtz-Institut für RNA-basierte Infektionsforschung (HIRI) in Würzburg hat altersabhängige Veränderungen des zellulären Immunsystems beim Flughund Rousettus aegyptiacus entschlüsselt. Mithilfe modernster Einzelzelltechnologien kartierten sie das Flughundblut in noch nie dagewesener Auflösung. Die Wissenschaftler:innen fanden heraus, dass sich mit zunehmendem Alter T-Lymphozyten und potenziell regulatorische Zellen myeloischen Ursprungs auf Kosten von B-Zellen anreichern. Diese Erkenntnisse bieten tiefe Einblicke in das Immunsystem dieser wichtigen Wildtierart, die als Reservoir für Filoviren wie beispielsweise das Marburg-Virus dient. Die Studienergebnisse wurden jetzt in Cell Reports veröffentlicht.
Die Immunologie von Fledertieren gibt Rätsel auf. Viele Erreger von Infektionskrankheiten des Menschen stammen aus Wildtieren, und mehrere neu auftretende, bedeutende Viren werden von Flughunden übertragen. Obwohl sie hochinfektiöse Viren verbreiten können, werden sie selbst kaum krank, und es ist nur wenig über das Immunsystem dieser nachtaktiven Lebewesen bekannt. Die Forschungsgruppe von Anca Dorhoi am Friedrich-Loeffler-Institut (FLI) in Greifswald hat nun mit FLI-Kolleg:innen sowie gemeinsam mit der Forschungsgruppe von Emmanuel Saliba am Helmholtz-Institut für RNA-basierte Infektionsforschung (HIRI) in Würzburg – einem Standort des Braunschweiger Helmholtz-Zentrums für Infektionsforschung (HZI) in Kooperation mit der Julius-Maximilians-Universität (JMU) Würzburg – die Komplexität der zirkulierenden Leukozyten bei diesen Fledertieren kartiert. Im Ergebnis berichten sie, dass das Alter des Tieres die Häufigkeit und den Phänotyp von Immunzellen prägt.
Flughund-Blutkörperchen einzeln entschlüsselt
Die Teams konzentrierten sich auf den Flughund Rousettus aegyptiacus, der in Afrika weit verbreitet ist. Er gilt als Reservoir für zoonotische – also zwischen Mensch und Tier wechselseitig übertragbare – Viren und wird daher auch als Versuchsmodell genutzt. Das FLI ist eine der wenigen Forschungseinrichtungen weltweit, die eine eigene Zuchtkolonie dieser Tiere halten. Dies bietet einzigartige Möglichkeiten, die Immunbiologie der Fledertiere zu studieren. Dazu wurde den Tieren eine kleine Menge Blut aus der Flughautvene entnommen.
Das FLI arbeitete zusammen mit HIRI-Kolleg:innen in Würzburg, die auf die Analyse zellulärer Ribonukleinsäuremoleküle (RNA-Moleküle) spezialisiert sind. Mithilfe der Einzelzellsequenzierung haben die Würzburger Expert:innen jedes Blutkörperchen einzeln entschlüsselt. HIRI-Forscher Emmanuel Saliba sagt: „Wir haben jede Zelle durchleuchtet und einen Fingerabdruck der darin befindlichen RNA-Moleküle erstellt. So konnten wir die zelluläre Identität des Blutes nachzeichnen und den bislang größten Atlas von Flughundzellen schaffen.“
Diese Vorgehensweise ermöglichte es, auch schwer greifbare Leukozyten zu identifizieren, zum Beispiel Untergruppen von natürlichen Killerzellen (NKT)-ähnlichen Zellen und B-Zellen, die sich nicht mit bekannten Immunzell-Untergruppen aus klassischen experimentellen Tiermodellen überschneiden. Ohne hochauflösende Methoden und ohne experimentelle immunologische Instrumente wäre die Identifizierung der Flughund-Immunzellen nicht möglich gewesen.
Dynamische altersbedingte Veränderung der Immunzellen
Die Forscher:innen setzten unter anderem die Durchflusszytometrie ein und stellten fest, dass T-Lymphozyten und Fresszellen wie Neutrophile und Populationen von mononukleären Zellen myeloischen Ursprungs bei erwachsenen Flughunden angereichert waren, während B-Zellen bei Jungtieren häufiger vorkamen. Anca Dorhoi folgert: „Bei Rousettus aegyptiacus erlangen Immunzellen mit dem Erreichen des Erwachsenenalters mutmaßlich regulatorische Eigenschaften und verändern ihre Häufigkeit im Blut dramatisch.“ Die altersabhängigen Beobachtungen deuten darauf hin, dass das Immunsystem die Funktion des Virus-Reservoirs beeinflussen kann – das unterstützt epidemiologische Studien mit dem Ziel, altersabhängige Schwankungen bei zoonotischen Infektionen aufzuklären. Die Studienergebnisse ergänzen den Nachweis von Krankheitstoleranz bei Fledertieren, die bisher mit der humoralen Immunität in Verbindung gebracht wurden, und bringen die Forschung auf dem Gebiet der zellulären Immunität von Fledertieren deutlich voran.
Originalpublikation:
Friedrichs V, Toussaint C, Schäfer A, Rissmann M, Dietrich O, Mettenleiter TC, Pei G, Balkema-Buschmann A, Saliba AE, Dorhoi A (2022)
Landscape and age dynamics of immune cells in the Egyptian Rousette Bat
Cell Reports, DOI: https://doi.org/10.1016/j.celrep.2022.111305
06.09.2022, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg
Graduelle Erderwärmung als Vorbote des großen Sterbens
Eine graduelle globale Erwärmung kulminierte am Ende des Perms in einem gigantischen Artensterben.
Am Ende der Permzeit vor rund 250 Millionen Jahren starben über 80 Prozent aller Tierarten in den Ozeanen aus: Vulkanausbrüche in Sibirien hatten gigantische Mengen an Treibhausgasen freigesetzt und so die Atmosphäre aufgeheizt. Mithilfe eines sogenannten Paläothermometers konnte ein Forschungsteam des Museums für Naturkunde in Berlin (MfN), des GeoForschungszentrums Potsdam (GFZ) und der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (FAU) ermitteln, dass die Temperatur sich damals um rund 10 Grad Celsius erhöhte – und zwar entgegen der verbreiteten Annahme beginnend in einem Zeitraum lange vor dem Höhepunkt des Massenaussterbens.
Muschelkrebse als Paläothermometer genutzt
Das internationale Team um Jana Gliwa und Dieter Korn (MfN), Michael Wiedenbeck (GFZ) und Wolfgang Kießling (FAU) hat die Klimaentwicklung in der späten Permzeit genauer untersucht. Dafür haben sie die Sauerstoffisotope in den Kalkschalen winziger Muschelkrebse, die im Nordesten des Irans zusammen mit Wissenschaftlern von der Ferdowsi University Mashhad gefunden wurden, gemessen; sie konnten daraus ableiten, wie warm das Meerwasser zu Lebzeiten dieser Tiere war. Mithilfe dieses neuen Paläothermometers – so werden Methoden genannt, mit der Wissenschaftler/-innen die Umgebungstemperatur zum Zeitpunkt der Bildung eines natürlichen Materials schätzen können – konnten die Forscherinnen und Forscher nachweisen, dass die Erwärmung graduell verlief. Das Meerwasser begann bereits etwa 300.000 Jahre vor dem großen Sterben, sich zu erwärmen und erreichte gleichzeitig mit dem Massenaussterben seinen höchsten Temperaturwert.
„Die winzigen Kalkschalen der Muschelkrebse waren für ihr Alter erstaunlich gut erhalten. Dadurch konnten wir sie als Thermometer für die damalige Meerwassertemperatur verwenden“, erklärt Erstautorin Jana Gliwa. Die Krebsschalen wurden mit Hilfe einer Ionensonde am GeoForschungszentrum in Potsdam gemessen, mit der Probenmengen von unter einem Milliardstel Gramm analysiert werden können.
Temperaturerhöhung als Vorbote eines Massenaussterbens auch heute sichtbar
Auch wenn die Temperaturerhöhung noch deutlich geringer ist als vor 250 Millionen Jahren – die Faktoren, die zum Massenaussterben am Ende der Permzeit führten, erinnern sehr an heute, sagt FAU-Paläologe Prof. Wolfgang Kießling: „Massive Klimaerwärmung, Ozeanversauerung und Sauerstoffknappheit sind gut belegt. Was uns heute noch von damals trennt, ist das Ausmaß. Diese Vorboten des Massenaussterbens sollten wir sehr ernst nehmen.“
TERSANE: Biodiversität und Treibhausgasemissionen im Fokus
Die Arbeit ist aus der von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Forschergruppe TERSANE entstanden, die an der FAU beheimatet ist (FOR 2332). In diesem interdisziplinären Projekt untersuchen acht Arbeitsgruppen, unter welchen Bedingungen natürliche Treibhausgasemissionen katastrophale Ausmaße erreichen können und wie diese mit Biodiversitätskrisen in Zusammenhang stehen. Mehr Infos zur Forschungsaktivitäten von TERSANE erhalten Sie unter http://tersane.palaeobiology.de/
Der Originalartikel „Gradual warming prior to the end-Permian mass extinction” von Jana Gliwa, Michael Wiedenbeck, Martin Schobben, Clemenz Ullmann, Wolfgang Kiessling, Abbas Ghaderi, Ulrich Struck und Dieter Korn erschien in der renommierten Zeitschrift Palaeontology: https://doi.org/10.1111/pala.12621.
07.09.2022, Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung (IZW) im Forschungsverbund Berlin e.V.
BioRescue-Konsortium erzeugt fünf neue Embryos nach der 10. Eizellentnahme bei Nördlichen Breitmaulnashörnern
Drei Jahre nach dem Start seines ehrgeizigen – vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderten – Programms zur Rettung des Nördlichen Breitmaulnashorns zieht das BioRescue-Konsortium eine positive Zwischenbilanz: Unter dem Einsatz von fortschrittlichen Technologien der assistierten Reproduktion gelang es dem Team, nach der 10. Entnahme von unreifen Eizellen (Oozyten) des Nördlichen Breitmaulnashornweibchens Fatu, fünf weitere Embryos zu produzieren. Insgesamt konnte das Forschungsteam bereits 22 Embryos erstellen. Die Spermien für die Befruchtung kamen von zwei unterschiedlichen Bullen.
Dies nährt die Hoffnung, dass es gelingen wird, neue Nachkommen zu erzeugen, und einem der wichtigsten Landschaftsarchitekten Zentralafrikas eine neue Zukunft zu geben. Gleichzeitig legt das Konsortium höchsten Wert darauf, das Leben und das Wohlergehen der einzelnen Tiere zu respektieren. Regelmäßige veterinärmedizinische und ethische Beurteilungen der Eizellenentnahme zeigen, dass Fatu die Verfahren gut verträgt und keine Anzeichen für gesundheitliche Beeinträchtigungen zeigt.
Die 10. Eizellenentnahme bei Nördlichen Breitmaulnashörnern (NWR) wurde von einem Team aus Wissenschaftler:innen und Naturschützer:innen des Leibniz-Instituts für Zoo- und Wildtierforschung (Leibniz-IZW), der Ol Pejeta Conservancy, des Safari Park Dvůr Králové, des Kenya Wildlife Service (KWS) und des Wildlife Research and Training Institute (WRTI) am 28. Juli 2022 in der Ol Pejeta Conservancy in Kenia durchgeführt. Das BioRescue-Team konnte 23 Eizellen von Fatu, dem jüngeren der beiden verbleibenden NWR-Weibchen, sammeln. Die Eizellentnahme von Najin, Fatus Mutter, wurde 2021 nach einer eingehenden ethischen Risikobewertung eingestellt. Die 23 Eizellen wurden sofort per Luftfracht nach Italien in das Labor des Konsortium-Mitgliedes Avantea in Cremona transportiert. Nach der Reifung wurden sieben der Eizellen mit aufgetautem Sperma des verstorbenen NWR-Männchens Angalifu befruchtet. Schließlich wurden fünf Embryos von Fatu erfolgreich erzeugt und in flüssigem Stickstoff eingelagert.
Von der 9. Eizellentnahme, die am 24. April 2022 durchgeführt wurde, stammen 16 Eizellen, von denen sich drei zu Embryos entwickelten. Auch hier wurden die Spermien des bereits verstorbenen Männchens Angalifu verwendet. Durch die erfolgreichen Ergebnisse beider Eingriffe erhöht sich die Gesamtzahl der erzeugten NWR-Embryos aktuell auf 22 Stück. Die Eizellen dieser Embryos stammen alle von dem Weibchen Fatu, wobei die Hälfte der Embryos mit Spermien von dem bereits verstorbenen Männchen Suni erzeugt wurden, das im Safaripark Dvůr Králové, Tschechische Republik, geboren wurde, und die andere Hälfte mit Spermien von Angalifu, der im San Diego Zoo Safari Park, USA, lebte.
Sobald das Wissenschaftsteam das Protokoll für den Embryotransfer in Leihmuttertiere des Südlichen Breitmaulnashorns (SWR) optimiert hat, werden diese 22 Embryos den Grundstein für eine neue NWR-Population bilden, die schließlich ihre ökologische Rolle als wichtige Landschaftsarchitekten in Zentralafrika wieder einnehmen kann.
Um geeignete Bedingungen für einen erfolgreichen Embryotransfer zu schaffen, beobachtet das Team die Interaktionen des sterilisierten SWR-Bullen Owuan mit den möglichen Leihmuttertieren. Der Bulle kann die Empfängnisbereitschaft dieser Tiere anzeigen. Sobald die Bedingungen es zulassen, wird das BioRescue-Team versuchen, einen Embryotransfer durchzuführen – zunächst mit SWR-Embryos, um zu demonstrieren, dass das gesamte Verfahren optimal funktioniert, bevor das Team die äußerst wertvollen NWR-Embryos verwendet. Das BioRescue-Team prüft derzeit, ob die Aufnahme weiterer SWR-Weibchen in das Reproduktionsprogramm die Chance auf einen ersten erfolgreichen Embryotransfer erhöhen kann.
07.09.2022, Veterinärmedizinische Universität Wien
Globaler Wandel verändert das Sozialverhalten von Pfeilgiftfröschen
Welche Auswirkungen hat der globale Wandel durch Umwelt- und Klimaveränderungen auf das Sozialverhalten – diese Frage untersucht eine aktuelle Studie des Konrad-Lorenz-Instituts für Vergleichende Verhaltensforschung (KLIVV) der Vetmeduni anhand von Pfeilgiftfröschen, die im südamerikanischen Regenwald leben. Demnach sind Pfeilgiftfrösche in ihrem Lebensraum von einer Reihe an Veränderungen betroffen. Die Forscherinnen erwarten deshalb für die Zukunft eine deutliche Veränderung des Sozialverhaltens, ein erhöhtes Aggressionsniveau und Herausforderungen hinsichtlich der elterlichen Fürsorge.
Zu den vom Menschen verursachten Umweltveränderungen zählen neben dem Verlust und der Fragmentierung von Lebensräumen, die Verbreitung neuer Krankheitserreger und Krankheiten, Umweltverschmutzung sowie Klimaveränderungen. Auch in den Tropen betreffen diese Störungen eine große Vielfalt an Arten. Die daraus resultierenden Wechselwirkungen stellen das Sozial- und Sexualverhalten von Tieren und ihre Interaktion mit der Umwelt in Frage.
Amphibien wie die Pfeilgiftfrösche (Dendrobatoidea) zeigen ein breites Spektrum an sozialen und sexuellen Verhaltensweisen. Das macht sie laut den Forscherinnen zu einem anschaulichen Modell, um die potenziellen Anpassungen von Tieren zu verstehen, die vom Menschen verursachten schnellen Umweltveränderungen und deren Auswirkungen ausgesetzt sind.
Herausforderungen für Jung- und Elterntiere
Die Wissenschafterinnen gehen davon aus, dass Jungtiere und Larven von den Umweltveränderungen besonders bedroht sind. „Unregelmäßigere Niederschläge und höhere Temperaturen schränken die Verfügbarkeit und Vielfalt von Larven-Kinderstuben ein und erhöhen gleichzeitig die Wahrscheinlichkeit der Austrocknung. Um diese negativen Auswirkungen auszugleichen, werden Elterntiere mehr Zeit damit verbringen, Gelege zu betreuen und Kaulquappen zu weniger gefährdeten Aufzuchtplätzen zu bringen“, so Erst-Autorin Lia Schlippe Justicia vom Konrad-Lorenz-Institut für Vergleichende Verhaltensforschung (KLIVV) der Vetmeduni.
Höhere Aggression und vermehrter Kannibalismus
Darüber hinaus rechnen die Expertinnen mit häufigerem Kannibalismus bei Jungtieren sowie generell mit höheren Aggressionsraten aufgrund begrenzter Ressourcen und Territorien und anthropogenen Lärms. Dazu Studien-Letztautorin Bibiana Rojas vom KLIVV: „Veränderte Umweltbedingungen, die sich aus kleinräumiger Abholzung oder erhöhter Lärmbelästigung ergeben, können wichtige Kommunikationsprozesse stören, etwa bei der Balz oder Partnerwahl, da der Ruf der Männchen schlechter zu hören ist und sich die Erkennbarkeit des Partners reduziert.“
Umweltveränderungen, Sozialverhalten und Fortpflanzung
Anthropogene Umweltveränderungen haben große Auswirkungen auf die Interaktionen von Organismen untereinander und mit ihrer Umwelt. Ein verändertes Verhalten ist oft die erste Reaktion. Die Art dieses Verhaltens kann bestimmen, wie bzw. ob sich Organismen anpassen. und das Überleben der Nachkommen von besonderer Bedeutung. Die Analyse der Verhaltens- und Umweltveränderungen durch zukünftige Studien wird laut den Forscherinnen einen wichtigen Beitrag leisten, um die Auswirkungen auf verschiedene Arten und Populationen besser abzuschätzen.
Der Artikel „Poison frog social behaviour under global change: potential impacts and future challenges“ von Lia Schlippe Justicia, Chloe A. Fouilloux und Bibiana Rojas wurde in „Acta Ethologica“ in der Sonderausgabe „Impact of global change on social interactions: Auswirkungen auf Ökologie und Fitness“ veröffentlicht. https://link.springer.com/article/10.1007/s10211-022-00400-6
08.09.2022, Eberhard Karls Universität Tübingen
Bislang unbekannte Dinosaurier-Art in Südwestdeutschland identifiziert
Tuebingosaurus maierfritzorum lebte auf der Schwäbischen Alb – Paläontologen klassifizieren seit 100 Jahren bekannten Fund neu
Paläontologen des Senckenberg Centre for Human Evolution and Palaeoenvironment an der Universität Tübingen haben eine bislang unbekannte Dinosaurier-Gattung und -Art entdeckt. Tuebingosaurus maierfritzorum lebte vor etwa 203 bis 211 Millionen Jahren im Bereich der heutigen Schwäbischen Alb und war ein Pflanzenfresser. Die neue Art zeigt Ähnlichkeit mit den großen Langhalssauriern (Sauropoden) und wurde bei der erneuten Untersuchung von bereits bekannten Dinosaurierknochen identifiziert. Die Ergebnisse wurden in der Fachzeitschrift Vertebrate Zoology veröffentlicht.
Die Versteinerungen, die Teil der Tübinger Paläontologischen Sammlung sind, waren in der Vergangenheit als Überreste von Plateosauriern interpretiert worden. In einem groß angelegten Projekt hatten die Wissenschaftler Dr. Omar Rafael Regalado Fernandez und PD Dr. Ingmar Werneburg sämtliche in Tübingen gelagerte Dinosaurierknochen neu untersucht. Sie stammen zu einem Großteil aus einem Steinbruch bei Trossingen am Rande der Schwäbischen Alb, wo seit dem 19. Jahrhundert zahlreiche Knochen von Dinosauriern gefunden und oft als Plateosaurier klassifiziert wurden.
Nach wie vor unstrittig ist, dass diese Dinosauriergruppe vor etwa 200 Millionen Jahren in Teilen Europas sehr häufig vorkam. Heutigen Paläontologen ist allerdings auch bewusst, dass es bei der taxonomischen Einordnung in der Vergangenheit oft zu Ungenauigkeiten kam, weshalb manche Funde vorschnell in die Gattung der Plateosaurier aufgenommen wurden.
Bei der erneuten Analyse eines 1922 in Trossingen gefundenen Skeletts, von dem vor allem der hintere Teil des Körpers erhalten ist, stellten Regalado Fernandez und Werneburg fest, dass viele Knochen nicht denen eines typischen Plateosauriers entsprachen. So wies das Teilskelett unter anderem eine breitere und kräftiger gebaute Hüfte mit verschmolzenen Kreuzbeinwirbeln sowie ungewöhnlich große und robuste Langknochen auf – beides spricht für eine Fortbewegung auf vier Beinen. Dies steht im Gegensatz zu den Plateosauriern, die den langhalsigen Sauropoden aus dem Jura zwar auch ähnelten, sich aber vermutlich noch auf zwei Beinen fortbewegten.
Nach einem eingehenden Vergleich aller anatomischen Merkmale ordneten die Wissenschaftler das aus Trossingen stammende Teilskelett neu im Dinosaurier-Stammbaum ein und stellten fest, dass sie eine bislang unbekannte Art und Gattung entdeckt hatten. Tuebingosaurus maierfritzorum war mit großer Wahrscheinlichkeit schon ein Vierbeiner und demnach viel enger mit den später erscheinenden, großen Sauropoden wie beispielsweise Brachiosaurus oder Diplodocus verwandt als mit den Plateosauriern. Das umgebende Sedimentgestein und die Erhaltung der Knochen sprechen dafür, dass der gefundene Tuebingosaurus in einem sumpfigen Gebiet versank und zu Tode kam. Die Knochen der linken Körperseite waren vermutlich einige Jahre lang an der Oberfläche der Witterung ausgesetzt.
„Sein Gattungsname, Tuebingosaurus, ist eine Hommage an unsere schöne Universitätsstadt und ihre Bewohner“, sagt Werneburg. Mit dem dazugehörigen Artnamen maierfritzorum ehre man wiederum die beiden deutschen Zoologen Professor Wolfgang Maier aus Tübingen sowie Professor Uwe Fritz von den Senckenberg Naturhistorischen Sammlungen Dresden. Die neue Art wurde nun in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift Vertebrate Zoology der Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung beschrieben, die gleichzeitig als Festschrift Wolfgang Maier zum 80. Geburtstag gewidmet ist.
Insgesamt konnten die Wissenschaftler in ihrem Projekt zeigen, dass die frühen europäischen Dinosaurier sehr viel diverser waren als bisher angenommen. Die Einzelteile des Skeletts von Tuebingosaurus maierfritzorum, die bislang getrennt gelagert wurden, sind nun wieder zusammengeführt und können derzeit in zwei großen Vitrinen besichtigt werden. In der Paläontologischen Sammlung in Tübingen sind, neben Tausenden anderer Schätze, auch zwei vollständige Plateosaurier aus Trossingen, Teilskelette von zwei Sauropoden und ein Stegosaurier aus Tansania zu bestaunen.
Originalpublikation:
Omar Rafael Regalado Fernandez, Ingmar Werneburg (2022). A new massopodan sauropodomorph from Trossingen Formation (Germany) hidden as ‘Plateosaurus’ for 100 years in the historical Tübingen collection. Vertebrate Zoology, 72: 771–822. https://doi.org/10.3897/vz.72.e86348
09.09.2022, Universität Wien
Wie erkennt der innere Mondkalender von Tieren die richtige Mondphase?
Ein lichtempfindliches Molekül hilft Meerestieren ihren Fortpflazungszyklus zu synchronisieren.
Wie Tiere in der Lage sind, natürliche Lichtquellen zu interpretieren, um ihre Physiologie und ihr Verhalten anzupassen, ist wenig verstanden. Die Labore von Kristin Tessmar-Raible (Max Perutz Labs Wien, Alfred-Wegener-Institut, Universität Oldenburg) und Eva Wolf (Johannes Gu-tenberg-Universität und Institut für Molekularbiologie, Mainz) haben nun herausgefunden, dass ein Molekül namens L-Cryptochrome (L-Cry) die biochemischen Eigenschaften besitzt, um zwischen verschiedenen Mondphasen sowie zwischen Sonnen- und Mondlicht zu unterscheiden. Ihre in der Zeitschrift Nature Communications veröffentlichten Ergebnisse zeigen, dass L-Cry das Mondlicht interpretieren kann, um die inneren Kalender (auch circalunare Uhren genannt) von Meeresringelwürmern zu synchronisieren und so die gemeinsame sexuelle Reifung und Fortpflanzung zu optimieren.
Viele Meeresorganismen, darunter Braunalgen, Fische, Korallen, Schildkröten und Borstenwürmer, synchronisieren ihr Verhalten und ihre Fortpflanzung mit dem Mondzyklus. Bei einigen Arten, wie dem Borstenwurm Platynereis dumerilii, haben Laborexperimente gezeigt, dass das Mondlicht seine zeitliche Funktion ausübt, indem es einen inneren Monatskalender (circalunaren Oszillator) einstellt. Unter diesen Laborbedingungen reicht es aus, die Dauer des Vollmonds zu imitieren, um die circalunaren Oszillatoren verschiedener Individuen zu synchronisieren. In natürlichen Lebensräumen schwanken Lichtverhältnisse jedoch erheblich. Unabhängig vom Wetter erzeugt schon das regelmäßige Zusammenspiel von Sonne und Mond hochkomplexe Muster.
Organismen, die das Mondlicht für ihre Zeitmessung nutzen, müssen daher zwischen bestimmten Mondphasen und zwischen Sonnen- und Mondlicht unterscheiden können. Wie Tiere dies bewerkstelligen können war bisher unklar. „Wir haben nun herausgefunden, dass ein lichtempfindliches Molekül, L-Cry, in der Lage ist, zwischen verschiedenen Lichtwertigkeiten zu unterscheiden“, sagt Birgit Poehn, Co-Erstautorin der Studie. Dieses Cryptochrome dient damit als Lichtsensor, der Lichtintensität und -dauer messen kann und den Tieren so hilft, das „richtige“ Licht zu wählen, um ihr monatliches Zeitmesssystem adäquat zu takten.
In Zusammenarbeit mit dem Labor von Eva Wolf charakterisierte das Team L-Cry von der Biochemie zur Genetik. „Wir fanden heraus, dass die Fähigkeit von L-Cry, Licht zu interpretieren, mit verschiedenen molekularen Zuständen von L-Cry korreliert“, erklärt Birgit Poehn. Das Cryptochrome enthält insbesondere Kofaktoren, Nicht-Protein-Komponenten, die für seine Funktion essentiel sind. Diese Kofaktoren, sogenannte Flavin-Adenin-Dinukleotide (FAD), verändern sich unter Lichteinfluss biochemisch. Dabei geht das an die Dunkelheit angepasste oxidierte FAD in einen durch Licht reduzierten FAD-Zustand über. Co-Erstautorin Shruthi Krishnan fand heraus, dass L-Cry-Proteine, die natürlichem Mondlicht ausgesetzt sind, die geringe Photonenzahl des Mondlichts über Stunden hinweg akkumulieren, aber höchstens die Hälfte der FADs photoreduziert wird. Im Gegensatz dazu bewirkt die mehr als 10000-fach höhere Photonenzahl des in den Experimenten verwendeten naturalistischen Sonnenlichts eine rasche Photoreduktion aller FAD-Moleküle innerhalb von Minuten. Die Autoren vermuten, dass L-Cry Dimere je nach kombinatorischem FAD Status unterschiedliche strukturelle und biochemische Eigenschaften aufweisen. Damit dient es als effizienter Lichtsensor, der einen extrem weiten Bereich natürlicher Lichtintensitäten unterscheiden kann. Die Wissenschaftler konnten auch zeigen, dass L-Cry seine subzelluläre Lokalisation verändert, je nachdem welchem Licht es ausgesetzt ist. Wie diese unterschiedliche Lokalisierung zu unterschiedlichen Signalwegen führt, die das Verhalten und die Physiologie steuern, ist eine zentrale offene Frage. Auch die Frage wie der lichtinduzierte Transport von L-Cry zwischen Zellkern und Zytoplasma zustande kommt, wird Gegenstand weiterer Untersuchungen der Forschenden sein.
Der Mechanismus ist aber auch für andere biologische Uhren und lichtgesteuerte Prozesse relevant: „Wir denken, dass unsere Entdeckung über das monatliche Zeitmesssystem hinausgeht“, sagt Eva Wolf. Kristin Tessmar-Raible fügt hinzu: „Es könnte sich um einen allgemeineren Mechanismus handeln, der den Organismen hilft natürliche Lichtquellen zu interpretieren. Dies ist für jeden Organismus, der seine Physiologie und sein Verhalten durch Licht steuert, von zentraler ökologischer Relevanz. Zudem ist Mondlicht nicht lediglich eine schwächere Version des Sonnenlichts, sondern hat eine ganz andere zeitlich-ökologische Bedeutung für Organismen.“ Daher stellen Störungen durch künstliche nächtliche Lichtquellen eine ernsthafte Bedrohung für natürliche Ökosysteme und auch die menschliche Gesundheit dar. Ein besseres Verständnis der Art und Weise, wie Mondlicht wahrgenommen und verarbeitet wird, kann auch dazu beitragen, die negativen Auswirkungen von künstlichem Licht zu bewerten und zu begrenzen.
Originalpublikation:
Birgit Poehn, Shruthi Krishnan, Martin Zurl, Aida Coric, Dunja Rokvic, N. Sören Häfker, Elmar Jaenicke, Enrique Arboleda, Lukas Orel, Florian Raible, Eva Wolf & Kristin Tessmar-Raible. A Cryptochrome adopts distinct moon- and sunlight states and functions as sun- versus moonlight interpreter in monthly oscillator entrainment. Nature Communications 2022.
https://doi.org/10.1038/s41467-022-32562-z
09.09.2022, Ruhr-Universität Bochum
Schlaue Vögel denken smart und sparsam
Die Gehirnzellen von Vögeln benötigen nur etwa ein Drittel der Energie, die Säugetiere aufwenden müssen, um ihr Gehirn zu versorgen. „Das erklärt zum Teil, wie Vögel es schaffen, so schlau zu sein, obwohl ihre Gehirne so viel kleiner sind als die von Säugetieren“, sagt Prof. Dr. Onur Güntürkün, Leiter der Arbeitseinheit Biopsychologie der Ruhr-Universität Bochum. Sein Forschungsteam untersuchte gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen aus Köln, Jülich und Düsseldorf den Energieverbrauch der Gehirne von Tauben mit bildgebenden Methoden. Die Forschenden berichten in der Zeitschrift Current Biology vom 8. September 2022.
Warum es eine Krähe mit einem Schimpansen aufnehmen kann
Unser Gehirn macht nur etwa zwei Prozent unseres Körpergewichts aus, verbraucht aber etwa 20 bis 25 Prozent der Körperenergie. „Das Gehirn ist damit das mit Abstand energetisch teuerste Organ unseres Körpers, und wir konnten es uns im Laufe der Evolution nur leisten, indem wir uns erfolgreich sehr viel Energie zuzuführen lernten“, erklärt Güntürkün. Die Gehirne von Vögeln sind im Vergleich viel kleiner. Trotzdem sind Vögel genauso schlau wie so manche Säuger: Krähen und Papageien zum Beispiel, deren Gehirne nur etwa 10 bis 20 Gramm wiegen, können es kognitiv durchaus mit einem Schimpansen aufnehmen, dessen Gehirn 400 Gramm auf die Waage bringt.
Wie kann das sein? Eine Studie im Jahr 2016 brachte Licht ins Dunkel: Sie ergab, dass Vögel pro Volumen Hirnmasse zwei- bis dreimal so viele Nervenzellen besitzen wie Säugetiere. Ihre Gehirne sind also viel dichter gepackt. Zudem sind ihre Hirnnervenzellen kleiner. „Es stellt sich aber trotzdem die Frage: Wie kann sich ein so kleines Tier so unglaublich viele Nervenzellen leisten?“, so Onur Güntürkün.
Überraschend war das Ausmaß des Unterschieds im Energieverbrauch
Um dieser Frage nachzugehen, nahmen er und sein Team die Gehirne von Tauben genauer unter die Lupe. Dafür nutzten sie die Methode der Positronen-Emissions-Tomografie, kurz PET. Dank eines speziellen Kontrastmittels konnten sie anhand der damit erzielten Bilder abschätzen, wie viel Glukose die Nervenzellen im Gehirn der Tauben im wachen und im narkotisierten Zustand jeweils verbrauchten. Der Energieverbrauch betrug demnach nur ein Drittel dessen, was ein Säugetiergehirn verbraucht.
„Was uns am meisten überrascht hat, ist nicht, dass die Nervenzellen überhaupt weniger Glukose verbrauchen – das war aufgrund ihrer kleineren Größe zu erwarten“, so Güntürkün. „Aber dass der Unterschied so groß ist, bedeutet, dass Vögel zusätzliche Mechanismen besitzen, die den Energieverbrauch der Nervenzellen senken. Das könnte zum Teil mit der höheren Körpertemperatur von Vögeln zusammenhängen, aber wahrscheinlich auch mit zusätzlichen Faktoren, die derzeit noch völlig unbekannt sind“, erklärt der Forscher. „Unsere Studie fügt sich in eine wachsende Zahl von Studien ein, die zeigen, dass Vögel in der Evolution einen eigenen und sehr erfolgreichen Weg zur Entstehung intelligenter Gehirne entwickelt haben.“
Originalpublikation:
Kaya von Eugen, Heike Endepols, Alexander Drzezga, Bernd Neumaier, Onur Güntürkün, Heiko Backes, Felix Ströckens: Avian neurons consume three times less glucose than mammalian neurons, in: Current Biology, 2022, DOI: 10.1016/j.cub.2022.07.070, https://www.cell.com/current-biology/fulltext/S0960-9822(22)01219-2?_returnURL=https%3A%2F%2Flinkinghub.elsevier.com%2Fretrieve%2Fpii%2FS0960982222012192%3Fshowall%3Dtrue
09.09.2022, Veterinärmedizinische Universität Wien
Feine Nase: Singvögel riechen, wohin sie fliegen
Augen, Nase oder beides? Wie Vögel den Weg zurück zu einer Futterstelle finden, untersuchte ein Forschungsteam des Konrad-Lorenz-Instituts für Vergleichende Verhaltensforschung der Vetmeduni in einer aktuellen Studie. Anhand von Kohlmeisen konnten die Forscher:innen nachweisen, dass der Geruchssinn ein wesentliches Instrument ist, um sich in vertrauter Umgebung zurecht zu finden. Die neuen Erkenntnisse unterstreichen, dass auch bei Vögeln der Geruchssinn wichtiger für die Orientierung ist als bisher angenommen.
Die Kohlmeise (Parus major) ist eine weit verbreitete Singvogelart, die im Winter ein gern gesehener Gast an den heimischen Futterstellen ist. Daher steht diese im Mittelpunkt einer soeben veröffentlichten Studie, in der ein Team aus Wissenschafter:innen prüfte, ob Kohlmeisen Gerüche aus der Umwelt nutzen, um an Futterstellen zurückzufinden. Um dieser Frage nachzugehen, wurden einige Vögel gefangen. Bei der Hälfte der Tiere wurde der Geruchssinn kurzfristig mittels Zinksulfat gedämpft. Danach ließen die Forscher:innen einen Teil der Vögel in unmittelbarer Nähe – einen anderer Teil der Tiere in einer Distanz von 1.5 km wieder aus.
Kohlmeisen mit Geruchssinn kommen rascher heim
Sowohl die Kohlmeisen mit reduziertem Geruchssinn, als auch solche mit normalem Geruchssinn fanden zu den Futterstellen zurück. „Dieses Ergebnis hat uns zunächst nicht überrascht, da wir die Tiere bewusst innerhalb ihrer vertrauten Umgebung wieder ausgelassen haben,“ erklärt Studien-Erstautorin Katharina Mahr vom Konrad-Lorenz-Institut für Vergleichende Verhaltensforschung der Vetmeduni. „Interessant ist allerdings, dass Vögel mit vermindertem Geruchssinn deutlich mehr Zeit benötigten, um zurückzukehren. Dieser Effekt kommt besonders zur Geltung, als die Vögel in größerer Entfernung ausgesetzt wurden. Unsere Ergebnisse weisen darauf hin, dass Gerüche in einer vertrauten Umgebung trotz visueller Anhaltspunkte als wichtige Informationsquelle zur Orientierung dienen“.
Gute Nasen machen Nahrungssuche effizienter
Bestimmte Gerüche in der vertrauten Umgebung könnten laut den Forscher:innen als zuverlässige Informationsquelle dienen, um sich zu orientieren. „Ursprünglich wurden ähnliche Ergebnisse bereits bei Zugvögeln erlangt. Aber insbesondere für Arten wie Kohlmeisen, die im Winter oft in den Brutgebieten bleiben, könnte die Orientierung und Navigation mittels Geruchs helfen, die Nahrungssuche in Zeiten mit wenig Futterangebot, also beispielsweise im Winter, zu optimieren“, so Studien-Letztautor Herbert Hoi vom Konrad-Lorenz-Institut für Vergleichende Verhaltensforschung der Vetmeduni. Laut Hoi unterstreichen die Ergebnisse der Studie nachdrücklich, dass der Geruchssinn für die Orientierung von Vogelarten von größerer Bedeutung sein könnte, als bisher angenommen und zum Verständnis der funktionellen Zusammenhänge des Geruchs im Leben von Vögeln beiträgt.
Die Chemie der Luft
In der Luft befindliche chemische Stoffe sind für viele Lebewesen sensorische Hinweise und ihre Verwendung bei der Navigation könnte einer der wichtigsten evolutionären Mechanismen sein, die die Entwicklung des Geruchssinns bei Tieren erklären. Ob Vögel die in der Luft enthaltenen chemischen Verbindungen zur Orientierung nützen, bleibt trotz solider Beweise für die Bedeutung des Geruchssinns im Vogelleben – etwa bei Nahrungssuche oder Paarung – umstritten. Gerade Singvögel sind trotz ihrer bemerkenswerten Orientierungsfähigkeit bislang wenig erforscht.
Originalpublikation:
Der Artikel „Songbirds use scent cues to relocate to feeding sites after displacement: An experiment in great tits (Parus major)“ von Katharina Mahr, Linda Nowack, Felix Knauer und Herbert Hoi wurde in „Frontiers in Ecology and Evolution“ veröffentlicht.
https://www.frontiersin.org/articles/10.3389/fevo.2022.858981/full