Neues aus Wissenschaft und Naturschutz

18.07.2022, Deutsches Zentrum für integrative Biodiversitätsforschung (iDiv) Halle-Jena-Leipzig
Mehr Arten als bisher angenommen könnten vom Aussterben bedroht sein
Im Mittel 30 Prozent aller Arten weltweit sind in den letzten 500 Jahren vom Aussterben bedroht oder bereits ausgestorben. Dies ergaben Schätzungen von 3.331 Expertinnen und Experten, die sich mit der biologischen Vielfalt in 187 Ländern beschäftigen. Diese große und diverse Expertengruppe wurde im Rahmen einer Umfrage, geleitet von Forschenden der Universität Minnesota und unter Beteiligung von iDiv und Universität Leipzig, um ihre Einschätzungen zum Wandel der Biodiversität gebeten. Die Ergebnisse sollen Wissenslücken bestehender wissenschaftlicher Bewertungen verringern. Die Studie wurde in der Zeitschrift Frontiers in Ecology and the Environment veröffentlicht.
Unser Ziel war es, bestehende Biodiversitätsassessments um wissenschaftlich wenig beachtete aber hochrelevante Artengruppen und Weltregionen zu bereichern“, sagt Erstautor Prof. Forest Isbell von der Universität Minnesota. Denn die wissenschaftliche Literatur zur biologischen Vielfalt konzentriert sich meist nur auf einige gut untersuchte Regionen oder Artengruppen. So hat die Weltnaturschutzunion (IUCN), die eine der wichtigsten Datenquellen für globale Biodiversitätsbewertungen darstellt, nur etwa ein Prozent der geschätzten Zahl der vom Aussterben bedrohten Arten erfasst. Nur 0,2 Prozent aller Insekten, die immerhin drei Viertel aller Tier- und Pflanzenarten ausmachen, werden von der IUCN einbezogen.
Auf dieser Wissensbasis schätzte der Globale Bericht des Weltbiodiversitätsrats (IPBES) im Jahr 2018 beispielsweise, dass etwa 10 Prozent der Insektenarten vom Aussterben bedroht sein könnten, wobei er sich weitgehend auf Schätzungen aus Europa stützte. Die neue Umfrage, die auch Hunderte von Insektenexperten und -expertinnen aus der ganzen Welt einbezieht, kommt hingegen zu einem gemittelten Anteil von 30 Prozent. „Dieser erhebliche Unterschied ergibt sich vor allem durch die Schätzungen für die am stärksten diversifizierten und am wenigsten untersuchten Arten“, sagt Isbell. Allerdings gehen die Schätzungen der befragten Expertinnen und Experten sehr weit auseinander. Die 30 Prozent bedrohter Arten sind ein gemittelter Wert aus Schätzungen zwischen 16 und 50 Prozent. „Auch wenn bei der begrenzten Informationslage noch nicht klar ist, welche Zahlen näher am wahren Wert liegen: Es wird deutlich, dass wir für ein vollständiges Bild der Lage die Meinung von Experten und Expertinnen für alle Artengruppe in jeder Region der Welt einholen müssen“, sagt Isbell.
Experten, die sich mit Süßwasserökosystemen, Amphibien, Säugetieren und Süßwasserpflanzen beschäftigen, schätzten den Verlust der biologischen Vielfalt am höchsten ein. Der größte Artenverlust bzw. die größte Bedrohung für Arten betrifft der Befragung zufolge tropische und subtropische Lebensräume wie Flüsse, Feuchtgebiete und Wälder.
„Mit unserer Studie wollten wir in der globalen Literatur unterrepräsentierten Experteninnen und Experten, die zu weniger bekannten Arten forschen, etwa aus dem globalen Süden, und vor allem Frauen eine Stimme geben“, sagt Mitautorin Patricia Balvanera von der Universität von Mexiko. Denn erfahrungsgemäß schätzten diese den Verlust der biologischen Vielfalt und dessen Auswirkungen deutlich gravierender ein. „Expertinnen untersuchen außerdem überproportional häufig genau jene Artgruppen, die als am stärksten bedroht gelten“. Die Studie macht zudem bedeutende demografische und geografische Unterschiede in den Perspektiven und Einschätzungen der Experten deutlich.
Die Autorinnen und Autoren ermutigen Biodiversitätsforschende weltweit, diese Ergebnisse zu nutzen, um ihre eigene Perspektive mit weiteren zu vergleichen. Bei der Festlegung globaler Ziele zur Erhaltung der biologischen Vielfalt und bei der Ausarbeitung neuer politischer Maßnahmen müssten so viele Perspektiven wie möglich berücksichtigt werden.
„Die biologische Vielfalt hängt in hohem Maße von regionalen Bedingungen ab. Unser Ansatz, die Meinungen regionaler Expertinnen und Experten aus der ganzen Welt zusammenzubringen, ist bislang einzigartig“, sagt Mitautor Akira Mori von der Universität Tokio. „Ich glaube, dass wir in Puncto soziale und kulturelle Vielfalt und Einbindung, auch wenn diese nicht vollständig ist, einige Vorschläge für künftige internationale Politikdebatten vorgelegt haben.“
Die Experten kommen zu dem Schluss, dass eine deutliche Erhöhung der Investitionen und Bemühungen beim Artenschutz bis zum Jahr 2100 eine von drei bedrohten oder ausgestorbenen Arten vor dem Aussterben bewahren könnten. „Es müssen jedoch geeignete Schutzkonzepte entwickelt werden, die auf ein breiteres Spektrum von Organismen abzielen, um die Krise der biologischen Vielfalt zu bekämpfen“, sagt Mitautor Nico Eisenhauer, Professor bei iDiv und an der Universität Leipzig. „Jüngste Studien deuten beispielsweise darauf hin, dass mehrere aktuelle Naturschutzprogramme möglicherweise keine positiven Auswirkungen auf die biologische Vielfalt im Boden haben. Diese umfasst immerhin etwa ein Viertel aller Arten auf der Erde. Wir müssen dringend wissenschaftliche Fortschritte erzielen, um wirksamere Schutzmaßnahmen vorschlagen zu können“.
Originalpublikation:
Isbell, F., …, Eisenhauer, N., …, Palmer, M. S. et al. (2022): Expert perspectives on global biodiversity loss and its drivers and impacts on people. Frontiers in Ecology and the Environment. https://doi.org/10.1002/fee.2536

19.07.2022, GEOMAR Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung Kiel
Meeresforschende machen Datenschatz aus der Tiefsee zugänglicher
Weltweit lagern auf den Servern von Meeresforschungsinstituten tausende von Aufnahmen aus der Tiefsee. Bislang sind diese Videos und Fotos über das Internet kaum auffindbar, weil sie nicht einheitlich katalogisiert und beschrieben werden. Ein Team der Helmholtz-Gemeinschaft deutscher Forschungszentren hat unter der Leitung des GEOMAR einen einheitlichen Datenstandard entwickelt, der die globale Nutzung von Bilddaten erleichtern soll. Das neue Metadaten-Format wird jetzt im Fachmagazin Nature Scientific Data vorgestellt.
Das Leben in der Tiefsee wird heute mehr und mehr mit hochauflösenden Kameras dokumentiert, die an ferngesteuerten Tauchrobotern oder autonomen Unterwasserfahrzeugen angebracht sind. Fachleute werten diese Aufnahmen wissenschaftlich aus, um Informationen über Lebewesen im Freiwasser und am Meeresboden sowie geologische Strukturen zu erhalten. Weltweit lagern ungeheure Mengen solcher Foto- und Videodaten auf den Servern von Meeresforschungsinstituten – jedoch sehr unterschiedlich katalogisiert. Um diesen Datenschatz international nutzbar zu machen, müssen wichtige Suchbegriffe und Informationen etwa über die Position des Tauchroboters während der Aufnahme, die verwendete Kameratechnik sowie die Namen der Expedition und der beteiligten Wissenschaftler:innen in einem universell lesbaren Format in der Bilddatei hinterlegt sein.
Um dies zu gewährleisten, hat eine Arbeitsgruppe der Helmholtz-Gemeinschaft deutscher Forschungszentren unter Mitwirkung des GEOMAR Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung in Kiel, des Alfred-Wegener-Instituts, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI) und des Helmholtz-Zentrums Hereon ein international einheitliches Metadatenformat für Unterwasseraufnahmen entwickelt. Beteiligt waren dabei auch Fachleute des DataHub, einer Dateninitiative des Helmholtz-Forschungsbereichs Erde und Umwelt, und der Helmholtz Metadata Collaboration (HMC). Ihre Vorschläge präsentieren sie in der aktuellen Ausgabe des Fachmagazins Nature Scientific Data.
Dr. Timm Schoening, Hauptautor des Artikels und Datenwissenschaftler am GEOMAR, sagt dazu: „Es gibt weltweit bereits seit einigen Jahren Bestrebungen, Daten allgemein zugänglich zu machen. Wir schaffen mit unserem einheitlichen Metadatenstandard die Voraussetzungen dafür, dass auch wissenschaftliche Fotos und Videos aus der Tiefsee entsprechend dieser Initiative international zugänglich werden. Und wir machen Software verfügbar, mit der dieser Standard nutzbar wird.“
Das neue Format setzt die international anerkannten „FAIR“-Prinzipien für ein nachhaltiges Forschungsdaten-Management um. Die Abkürzung steht für „findable, accessible, interoperable und reusable“ – auffindbar, zugänglich, mit verschiedenen Softwaresystemen nutzbar und wiederverwendbar. Dateien, die anhand ihrer Metadaten für andere Forschende auffindbar sind, werden FAIR Digital Objects (FDO) genannt. Das jetzt vorgestellte FAIRe Datenformat für Unterwasseraufnahmen wurde entsprechend „image FAIR Digital Objects“ (iFDO) getauft. Es ist gewissermaßen eine informatische Karteikarte, die übersichtlich all jene Aspekte zusammenfasst, die für eine Aufnahme wichtig sind. Sie beinhaltet nicht nur beschreibende Informationen über die Bilddaten selbst, sondern ebenfalls unveränderliche Weblinks zu den Bilddaten.
Inzwischen hat das Helmholtz-Team das iFDO-Konzept international mehrfach vorgestellt. „Unser Ansatz stößt auf großes Interesse“, berichtet Dr. Schoening. „Insofern sind wir zuversichtlich, dass er als Vorlage für einen neuen internationalen Standard für Unterwasseraufnahmen dienen wird.“
Ergänzend zum iFDO-Metadatenformat hat die Gruppe mehrere Software-Tools entwickelt, die es möglich machen, das iFDO-Format für verschiedene biologische oder geologische Interpretationen zu übernehmen. Eine weitere Idee ist, Kamerasysteme künftig so auszustatten, dass sie bereits während einer Aufnahme automatisch Metadaten im iFDO-Format generieren. Wie gut das funktioniert, testeten Forschende des GEOMAR während der Expedition M182 mit dem Forschungsschiff METEOR im Atlantischen Ozean. Die Kameras an Bord der autonomen Unterwasserfahrzeuge ANTON, LUISE und ABYSS sowie an geschleppten Instrumenten und stationären Verankerungen speicherten schon während ihrer Einsätze die iFDO-Metadaten ab. „Diese Erfahrung war sehr positiv und hat noch zu einigen Ergänzungen an der Dokumentation und den Software-Tools geführt – die iFDOs selbst haben diese Expedition mit Bravour bestanden“, sagt Timm Schoening.
Eine besondere Herausforderung bei Bild- und Videoaufnahmen besteht darin, dass ein Computer sie nicht ohne weiteres auswerten kann. Bei Temperatur- oder Tiefenmessungen ist das anders: Die Zahlenwerte lassen sich einfach speichern und in einem Diagramm darstellen. Ein Video hingegen ist für einen Computer nur ein Datenstrom aus Pixeln. Daher muss zunächst im Bildmaterial jedes Objekt markiert und definiert werden – ein längliches Objekt etwa als Seegurke. Fachleute sprechen dabei von Annotation und nutzen dafür spezialisierte Software wie zum Beispiel BIIGLE (Bio-Image Indexing and Graphical Labelling Environment), die an der Universität Bielefeld entwickelt wurde und auch am GEOMAR eingesetzt wird.
„Wir haben den Annotationsschritt bei der Entwicklung der iFDOs direkt mit in das Datenformat eingebaut. Und wir haben die Funktionalität direkt in die Software BIIGLE eingebaut, so dass dieses weit verbreitete Tool jetzt das iFDO Format bereits unterstützt“, sagt Dr. Schoening. „Das sind zwei große Pluspunkte, die bei unseren Präsentationen bereits viel Aufmerksamkeit bekommen haben: iFDOS können nicht nur als Standard für die Metadaten eingesetzt werden, sondern auch als Standard für die Annotationen und es gibt benutzbare Software, die das Format unterstützt.“
Hier greifen direkt die Vorteile der FAIR Prinzipien, da eine effektive Wiederverwendung der Daten ermöglicht wird: Die Bilddaten und Annotationen können so ebenfalls zum Training von Algorithmen des Maschinellen Lernens (ML) verwendet werden. Da sie in den iFDOs bereits in einem FAIRen Datenformat vorliegen, ist die Entwicklung von ML-Algorithmen deutlich weniger komplex.
Originalpublikation:
Schoening, T., Durden, J.M., Faber, C. et al. (2022): Making marine image data FAIR, Nature Scientific Data, doi: https://doi.org/10.1038/s41597-022-01491-3

19.07.2022, Universität Innsbruck
Invasiver Fisch: Erfolgreich durch Spermienklau
Der Giebel gilt als eine der erfolgreichsten invasiven Fischarten in Europa. Vor allem seine Fähigkeit, sich ungeschlechtlich zu vermehren, bietet ihm einen großen Vorteil gegenüber konkurrierenden Fischen. Ein internationales Forschungsteam hat nun erstmals das vollständige Genom des Giebels beschrieben. Dadurch kann auch seine ausgefallene Fortpflanzungsmethode wesentlich besser verstanden werden. Die Studie unter der Leitung von Dunja Lamatsch vom Forschungsinstitut für Limnologie, Mondsee, der Universität Innsbruck wurde im Fachmagazin Nature Communications veröffentlicht.
Der aus Asien stammende Giebel Carassius gibelio ist in Europa eine invasive Art. Er gilt als naher Verwandter des Goldfisches und konkurriert mit der gefährdeten, heimischen Karausche um den gleichen Lebensraum. Während Goldfisch und Karausche sich allerdings geschlechtlich vermehren, hat der Giebel einen großen evolutionären Vorteil: die weiblichen Fische können sich die zeitintensive Partnersuche sparen.
Jungfernzeugung im Wasser
Stattdessen nutzen Giebelweibchen die Spermien des Karauschen-Männchens, oder anderer Fische, die ebenfalls zur Ordnung der Karpfenartigen gehören. Dazu mischen sie sich unter einen Karauschenschwarm und lassen dort ihre abgelegten Eier von den Männchen mitbefruchten.
Die gekaperten Spermien regen die Eizelle des Giebels zur Teilung an. Anschließend wird das Erbmaterial des fremden Männchens in der Eizelle abgebaut, ohne weiter verwendet zu werden. Dies nennt sich eine spermienabhängige Parthenogenese, oder Jungfernzeugung. Alle so produzierten Nachkommen sind weibliche Klone des Giebelweibchens. Die meisten Giebelbestände sind deswegen ausschließlich weiblich, Männchen kommen nur selten vor.
„Die unisexuelle, also rein weibliche Fortpflanzung ermöglicht eine rasche Besiedlung von neuen Lebensräumen und bietet invasiven Arten einen großen Vorteil gegenüber den ursprünglich vorkommenden Konkurrenten“, erklärt Dunja Lamatsch vom Forschungsinstitut für Limnologie, Mondsee, der Universität Innsbruck. Ihr Forschungsschwerpunkt ist die Untersuchung der Mechanismen unisexueller Fortpflanzung bei Wasserlebewesen.
In einer von Lamatsch initiierten Studie konnte sie, gemeinsam mit einem internationalen Forscher*innen-Team, das Genom des Giebels vollständig entschlüsseln. Dadurch kann nun auch der Mechanismus hinter seiner unisexuellen Vermehrung besser verstanden werden.
Durch Kreuzung zu neuen Arten
Die gesamte vererbbare Information eines Organismus, das Genom, ist in verschiedene Chromosomensätze aufgeteilt. Tiere, die sich geschlechtlich fortpflanzen, haben meistens einen doppelten (diploiden) Chromosomensatz. Zur Fortpflanzung werden bei Weibchen und Männchen die Chromosomen in den Keimzellen aufgeteilt (Meiose) und jeweils nur ein einfacher (haploider) Chromosomensatz weitergegeben. Durch die Verschmelzung von haploider Eizelle und haploidem Spermium entsteht wieder ein diploider Organismus.
Allerdings entstehen durch Unfälle bei der Meiose oder Kreuzung verwandter Arten auch immer wieder Organismen, die mehr als 2 Chromosomensätze haben (polyploid). Höhere Wirbeltiere, auf die das zutrifft, sind nicht lebensfähig, Reptilien, Fische und Amphibien schon. Auf diesem Weg können sogar neue Arten entstehen – wie der Giebel.
Ursprung der Unisexualität
Der Giebel ist hexaploid- er besitzt also gleich sechs Chromosomensätze. Vier davon sind durch die Kreuzung nicht-verwandter Fischarten zusammengekommen – die anderen zwei wurden durch Kreuzung mit einem nahe verwandten Fisch hinzugefügt.
„Vermutlich ist es bei diesen Kreuzungen irgendwann zu Problemen bei der Bildung der Keimzellen gekommen. Das könnte einer der Auslöser von unisexueller Vermehrung sein“, erklärt Lamatsch. „Bei Arten, die sich rein weiblich vermehren, fällt die Meiose aus und ein Verschmelzen der Keimzellen ist nicht mehr nötig.“
Gemeinsam mit Forschergruppen des Leibniz-Instituts für Gewässerökologie und Binnenfischerei in Berlin (IGB) und der Universität Würzburg gelang es, das Genom des Giebels in einzelne Chromosomensätze zu zerlegen. Damit wurde zum ersten Mal die gesamte Erbinformation eines hexaploiden Tiers beschrieben und alle sechs Chromosomensätze analysiert. Das Genom des Giebels besteht aus insgesamt 150 Chromosomen, mehr als dreimal so viele wie das Genom des Menschen hat.
Die Analysen geben Aufschluss darüber, wie diese sechs Chromosomensätze nebeneinander existieren und zusammenarbeiten können. Die Identifizierung aller 150 Chromosomen ermöglicht es zum ersten Mal, die gesamte Genomstruktur des Giebels sowie seine komplizierte Entstehungsgeschichte zu verstehen. Damit eröffnen sich viele weitere Forschungsansätze um den invasiven Fisch.
Originalpublikation:
Veröffentlichung: Kuhl, H., Du, K., Schartl, M. et al. Equilibrated evolution of the mixed auto-/allopolyploid haplotype-resolved genome of the invasive hexaploid Prussian carp. Nat Commun 13, 4092 (2022). https://doi.org/10.1038/s41467-022-31515-w

20.07.2022, Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung (IZW) im Forschungsverbund Berlin e.V.
Windräder in Wäldern verdrängen Waldfledermäuse

Da im Zuge der Energiewende mehr Windenergieanlagen (WEA) installiert und Abstandsregeln zu Siedlungen verschärft wurden, sind geeignete Standorte schwerer zu finden. Daher werden WEA immer häufiger auch in Wäldern errichtet – zum Nachteil für Waldspezialisten unter den Fledermäusen.
In einer neuen Untersuchung wies ein Forschungsteam unter Leitung des Leibniz-Instituts für Zoo- und Wildtierforschung (Leibniz-IZW) nach, dass solche Fledermäuse, die unterhalb der Baumkrone nach Nahrung suchen, zwar kein erhöhtes Risiko haben, an solchen Anlagen zu verunglücken, diese Fledermäuse aber über hunderte von Metern Abstand zu solchen Windkraftanlagen halten. Waldstandorte sollten daher entweder gar nicht oder nur in Ausnahmefällen mit beauflagten Ausgleichsmaßnahmen zum Schutz von Waldfledermäusen genutzt werden, so das Team in einem Aufsatz im „Journal of Applied Ecology.“
Weltweit werden immer mehr Windkraftanlagen aufgestellt, um die Ziele der nationalen Klimastrategien zu erreichen. In Deutschland sind derzeit ungefähr 30.000 WEA auf dem Festland in Betrieb. Die offenen Flächen, auf denen Windkraftanlagen in der Nähe von Städten und Dörfern geduldet werden, sind jedoch begrenzt. Deshalb werden immer häufiger Windkraftanlagen in Wäldern errichtet. „Wälder sind sensible Ökosysteme und wertvolle Lebensräume für viele seltene und geschützte Fledermausarten“, sagt PD Dr. Christian Voigt, Leiter der Abteilung für Evolutionäre Ökologie am Leibniz-IZW. „Windkraftanlagen in Wäldern können Fledermäusen in mehrfacher Hinsicht Probleme bereiten. Fledermäuse, die oberhalb der Baumkronen nach Insekten jagen, können direkt an den Anlagen getötet werden, durch Kollision mit Rotorblätter oder einfach durch die erheblichen Druckunterschiede, die sie nicht überstehen können. Fledermäuse, die in der Vegetation unter den Baumkronen jagen, verlieren durch die Rodungen einen Teil ihres Lebensraums.“ Auch im weiteren Umfeld von Windkraftanlagen und Rodungen könne sich ihr Lebensraum verschlechtern, wenn sie durch den Betrieb der Anlagen gestört werden.
Gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen von der Phillips-Universität Marburg und der Christian-Albrechts-Universität Kiel untersuchte Voigt und seine Studentin vor allem jene Fledermäuse, die unterhalb der Baumkrone im Schutz der Vegetation nach Nahrung suchen. Dazu erfassten sie an 24 Waldstandorten in Hessen die Aktivität von Fledermäusen in verschiedenen Abständen zu den Windkraftanlagen mit Hilfe von Ultraschalldetektoren. Die aufgenommenen Rufe ordneten die Wissenschaftler:innen drei Gruppen von Fledermäusen zu. Erstens jene, die in offenem Gelände (z.B. über den Baumkronen) auf Nahrungssuche gehen, zweitens die Arten, die an Randstrukturen jagen und drittens die Spezialisten für Nahrungssuche auf engen Räumen, also beispielsweise Waldspezialisten unterhalb des Kronendachs wie die Fledermäuse der Gattungen Mausohren (Myotis) oder Langohrfledermäuse (Plecotus). „Wir stellten fest, dass diese Waldspezialisten in der Nähe von Windkraftanlagen deutlich weniger aktiv sind, insbesondere in der Nähe von Turbinen mit großen Rotoren, sowie in den Hochsommermonaten“, sagt Voigt. Ab einer Entfernung von 450 Metern nimmt die Aktivität dieser Fledermäuse in Richtung der Anlagen um fast 50 Prozent ab.
Windkraftanlagen an Waldstandorten stellen somit nicht nur eine Bedrohung für solche Fledermäuse dar, die oberhalb der Baumkronen nach Insekten jagen, sondern beeinträchtigen auch den Lebensraum für Fledermäuse, die unterhalb der Baumkrone in den Wäldern leben und dort nach Insekten jagen. „Waldspezialisten sind daher keine typischen Schlagopfer, ihr Lebensraum und ihr Aktivitätsradius ist dennoch deutlich eingeschränkt in einem Umkreis von mehreren Hundert Metern um eine Anlage“, schließt Voigt.
Die Autor:innen empfehlen daher, Windkraftanlagen nicht in Wäldern, sondern in der offenen Landschaft aufzustellen und insbesondere naturnahe Wälder mit einer abwechslungsreichen Vegetationsstruktur als Standorte zu vermeiden. Müssten Windkraftanlagen dennoch in Wäldern errichtet werden, dann sind Maßnahmen zum Ausgleich essenziell. Ein Teil dieser Ausgleichsmaßnahmen sollte es sein, eine entsprechend große Waldfläche für die Waldfledermäuse aus der intensiven Waldbewirtschaftung zu nehmen, damit der durch den Betrieb der Anlagen verursachte Lebensraumverlust ausgeglichen werden kann.
Originalpublikation:
Ellerbrok J, Delius A, Peter F, Farwig N, Voigt CC (2022): Activity of forest specialist bats decreases towards wind turbines at forest sites. Journal of Applied Ecology. DOI: 10.1111/1365-2664.14249.

27.07.2022, Deutsches Zentrum für integrative Biodiversitätsforschung (iDiv) Halle-Jena-Leipzig
LifeGate – Neue interaktive Karte zeigt die ganze Vielfalt des Lebens
Wissenschaftler aus Leipzig haben eine riesige, digitale Karte veröffentlicht, welche die ganze Vielfalt des Lebens in Tausenden Fotos zeigt. Das sogenannte LifeGate umfasst alle 2,6 Millionen bekannten Arten des Planeten und sortiert diese nach ihrer Verwandtschaft. Die interaktive Karte ist nun für jeden kostenlos nutzbar unter https://lifegate.idiv.de.
Wer wissen will, welche Orte in der Nähe Quitos liegen, der sucht auf Google Maps. Wer hingegen sehen will, welche Tiere verwandtschaftlich in der Nähe des Erdmännchens liegen, der kann auf LifeGate suchen. LifeGate ist eine neue interaktive Karte; keine geografische, sondern eine taxonomische: Zoomt man rein, sieht man Fotos der nächsten Verwandten einer Art, sei es des Erdmännchens oder irgendeiner anderen der 2,6 Millionen bekannten Arten. Zoomt man wieder raus, sieht man welcher Gruppe (Taxon) die gesuchte Art angehört, und welchen anderen Gruppen sie nahesteht. Das Erdmännchen zum Beispiel gehört zur Familie der Mangusten, welche unter anderem den Schleichkatzen nahestehen.
Die Vielfalt des Lebens in einer Karte
Die Online-Plattform LifeGate zeigt die ganze Vielfalt des Lebens in einer einzigen interaktiven Karte. Diese bildet bereits 420.000 Fotos ab, die Datenbank dahinter umfasst 12 Millionen, vom Pantoffeltierchen bis zum Pandabären. Dabei gibt es von manchen Arten viele Fotos, von anderen noch keine. 6000 Bürger:innen weltweit haben dem nicht-kommerziellen Projekt ihre Fotos kostenlos zur Verfügung gestellt. Täglich kommen neue hinzu.
Erschaffer des LifeGates ist Dr. Martin Freiberg, Kustos des Botanischen Gartens der Universität Leipzig und Mitglied des Deutschen Zentrums für integrative Biodiversitätsforschung (iDiv). „Ich wollte LifeGate so bauen, dass alle Arten gleichwertig sind, und dass die unglaubliche Vielfalt der Arten wirklich erleb- und begreifbar wird“, sagt Freiberg.
Neuartige Darstellungsweise
Bei der Erstellung stützte er sich auf die Stammbäume der Natur: Biolog:innen beschreiben in sogenannten Phylogenien die stammesgeschichtliche Entwicklung und die Verwandtschaftsbeziehungen der Lebewesen. Eingang in LifeGate fanden nur moderne Phylogenien, die bereits auf Basis von DNA-Analysen entstanden sind.
Normalerweise sind solche Darstellungen auf einzelne Artengruppen beschränkt und zeigen beispielsweise nur Vögel oder Frösche, nur Begonien, Orchideen oder nur Schmetterlinge. Freiberg führte die Phylogenien erstmals in einer Weise zusammen, dass die verwandschaftliche Position aller Arten gleichzeitig erkennbar wird. „Da LifeGate auf keine Gruppe beschränkt ist, lassen sich so erstmals überhaupt Beziehungen zwischen Arten darstellen“, sagt er.
Nach elf Jahren endlich ins Licht der Öffentlichkeit
Seit 2008 hat Freiberg an der LifeGate-Karte gearbeitet – ein Kraftakt, zu dem auch die technische Programmierung der Plattform gehörte. Nun soll sie endlich ins Licht der Öffentlichkeit. „LifeGate hat als wissenschaftliches Erklärprojekt für meine Studierenden begonnen“, sagt Freiberg. „Bilder sind einprägsamer als nackte Zahlen und erleichtern den Zugang zum Thema Artenvielfalt. Deshalb fasziniert die Karte auch Amateure und Laien. In den Zoo gehen ja auch nicht nur Biologen.“
Freiberg hat noch viel vor. Zum Beispiel soll man in Zukunft von jeder Art verschiedene Foto-Ansichten wählen können. Vom Erdmännchen beispielsweise die Augen oder die Ohren, den Kopf von vorne, von der Seite, den Kot, Fußabdrücke und so weiter. Auch soll es virtuelle Reisen geben: Wer frisst wen? Wer bestäubt wen?
Freibergs Vision ist ein „Google Maps der Artenvielfalt“
Für seine Pläne brauchen Freiberg und sein Team nun Unterstützer:innen, vor allem in den Bereichen Programmierung und Projektmanagement und in der weiteren Finanzierung. „So ist das nicht mehr zu stemmen“, sagt er. Die öffentliche Bekanntmachung soll ein erster Schritt sein zum Erreichen von Freibergs Vision: „In Zukunft startet jede Online-Suche nach Tieren, Pflanzen oder Bakterien bei LifeGate. Es soll das Google Maps der Artenvielfalt werden.“
Übrigens: Natürlich gibt auch den Homo sapiens im LifeGate. Wer ihn sucht, findet ein Foto von Martin Freiberg und seiner Tochter. Eines von 2,6 Millionen Feldern auf der riesigen Karte des Lebens – am oberen Rand, halblinks.

27.07.2022, Universität zu Köln
Der 6. Sinn: Wie die Stabheuschrecke instinktiv weiß, was ihre Beine machen
Neue Erkenntnisse zur Regulierung der intuitiven und reflexartigen Körperwahrnehmung bei Insekten/ Veröffentlichung in Current Biology
Eine neue Studie zeigt, wie Körperhaltungsreflexe bei Stabheuschrecken unter verschiedenen Belastungen moduliert werden. Wissenschaftler*innen der Uni Köln und der Ohio University (USA) verfolgten die Last- und Bewegungssignale von den Sinnesorganen im Bein des Insekts durch das verarbeitende neuronale Netzwerk, bis zu den Motoneuronen und Muskeln, die den Reflex erzeugen. So konnten sie einen Mechanismus aufzeigen, der die Körperhaltungsreflexe in den Beinen von Stabheuschrecken je nach Belastung verändert. Die Studie ist im Fachjournal Current Biology erschienen.
Wenn sie die Augen schließen und auf Ihren Fuß zeigen sollen, werden die meisten Menschen damit keine Schwierigkeiten haben, ganz gleich, wo sich der Fuß befindet. Das scheint einfach zu sein, ist aber eine außerordentlich schwierige Aufgabe für das Nervensystem, denn es muss die Haltung und Position des Körpers und aller seiner Gliedmaßen ständig überwachen, und zwar ausschließlich über interne Sinneskanäle. Dieser Sinn für unser körperliches Selbst wird Propriozeption genannt. Die Propriozeption ist ein so grundlegender Bestandteil unserer Existenz, dass wir sie nur selten bewusst wahrnehmen. Ein Beispiel für die Propriozeption, das den meisten Menschen bekannt ist, ist der Kniesehnenreflex – das Antippen der an der Kniescheibe inserierenden Patellasehne durch einen Arzt oder eine Ärztin und die daraus resultierende Streckung des Beins durch Kontraktion des Quadrizepsmuskels. Bei normalem Verhalten (z. B. beim Gehen) trägt dieser Reflex zur Stabilisierung des Kniewinkels bei und ist einer der zahlreichen propriozeptiven Mechanismen, die es Tieren und Menschen ermöglichen, zu stehen, zu laufen, zu schwimmen oder Ballett zu tanzen.
Wichtig ist, dass die Reaktion auf propriozeptive Eingaben kontextabhängig moduliert werden muss. So trägt der Kniesehnenreflex beispielsweise zur Stabilisierung des Körpers nach einem Sprung bei, wird aber beim Laufen unterdrückt. Die kontextabhängige Regulierung erfordert, dass das Nervensystem die Signale von Bewegungs-, Belastungs- und Lagesinnesorganen integriert. Wie diese Integration auf neuronaler Ebene erfolgt, war lange Zeit eine offene Frage.
Dr. Corinna Gebehart und Prof. Dr. Ansgar Büschges vom Institut für Zoologie der Universität zu Köln und Prof. Dr. Scott L. Hooper vom Department of Biological Sciences der Ohio University, Athens (USA), haben in Current Biology einen Mechanismus veröffentlicht, der durch unterschiedliche Belastungen die Bewegungsreflexe in den Beinen von Stabheuschrecken verändert. Ähnlich wie bei Säugetieren hat das „Kniegelenk“ der Insektenbeine, das Femur-Tibia-Gelenk, einen Stabilisierungsreflex. Wenn dieses Gelenk gebeugt wird, reagiert das Nervensystem mit einer reflexartigen Streckung des Gelenks. Dieser Effekt wird durch ein neuronales Netzwerk im ventralen Nervenstrang der Insekten, dem Pendant zum Rückenmark der Säugetiere, vermittelt.
Die Wissenschaftler*innen verfolgten die propriozeptiven Last- und Bewegungssignale von ihren Sinnesorganen im Bein der Stabheuschrecke über das neuronale Netzwerk, das sie im ventralen Nervenstrang verbindet, bis zu den Motoneuronen und Muskeln, die den Reflex erzeugen. „Wir konnten zeigen, dass die Belastung des Beins die Stärke des Körperhaltungsreflexes durch einen neuronalen Prozess namens präsynaptische afferente Hemmung verringerte“, so Dr. Corinna Gebehart, Erstautorin der Studie. „Dieser Mechanismus verändert die Informationsübertragung im neuronalen Netz des Nervenstrangs so, dass die Reaktion der Motoneuronen und Muskeln auf den Bewegungsstimulus reduziert wird.“
Die verhaltensbezogene Bedeutung dieser Wechselwirkung zwischen Belastung und Bewegung wird deutlich, wenn man sich vor Augen führt, dass eine leichte Belastung auf das Tier einwirkt – ein Blatt, das auf ihm landet – und dass ein Widerstandsreflex auftreten sollte, um die Haltung des Beins konstant und das Tier aufrecht zu halten. Ist die einwirkende Last jedoch größer als das, was die Beinmuskeln aushalten können – ein Ast, der auf das Tier drückt – muss der Widerstandsreflex reduziert werden, das Gelenk muss sich beugen und der Körper des Tieres muss der größeren Last nachgeben, um Schäden am Bein zu vermeiden.
Die Propriozeption, ihre Integration derer Signale durch das Nervensystem und die daraus resultierenden motorischen Reflexe sind bei Säugetieren und Insekten erstaunlich ähnlich. Die Erkenntnisse aus der Stabheuschrecke werfen somit ein Licht auf potenziell allgemeine Mechanismen, mit denen Nervensysteme verschiedene Arten propriozeptiver Signale zu einem kohärenten internen Bild ihres Körpers kombinieren, und wie diese Verarbeitungspfade je nach Verhaltenskontext des Tieres angepasst werden können.
Publikation:
Non-linear multimodal integration in a distributed network controls proprioceptive reflex gain in the insect leg
Corinna Gebehart, Scott L. Hooper, Ansgar Büschges
Current Biology 32, https://doi.org/10.1016/j.cub.2022.07.005

27.07.2022, Landesbund für Vogelschutz in Bayern (LBV) e. V.
Natürliche Todesursache bei Wally wahrscheinlich
Untersuchungsergebnisse der LMU-Experten schließen Abschuss aus – weitere Untersuchungen folgen – Projektteam vermutet Steinschlag
Ende Mai hatte ein Suchteam des bayerischen Naturschutzverbands LBV in einer Steilrinne des Wettersteingebirges die Überreste des erst 2021 ausgewilderten Bartgeiers Wally gefunden. Nun liegt der Untersuchungsbericht der Klinik für Vögel, Kleinsäuger, Amphibien und Zierfische der tierärztlichen Fakultät der LMU München dazu vor. Darin kommen die Expert*innen um Prof. Rüdiger Korbel zum Schluss, dass ein Abschuss von Wally äußerst unwahrscheinlich ist. So heißt es im Bericht der „Vogelklinik“ der LMU: Anhand der angefertigten Röntgenaufnahmen ergaben sich keinerlei Hinweise, weder auf Projektile noch auf zu erwartenden Bleiabrieb am Skelett. „So traurig wir nach wie vor über den Tod von Wally sind, so beruhigt sind wir dennoch, dass sie aller Wahrscheinlichkeit nach nicht durch menschlichen Einfluss gestorben ist“, sagt der LBV-Vorsitzende Dr. Norbert Schäffer.
Am 28. Mai hatten Suchende in extrem steilem und unwegsamem Gelände nur noch Knochen und Federn des jungen Bartgeiers zusammen mit dem GPS-Sender und einem von zwei Beinringen geborgen. Immerhin war bis auf den Schädel- und einen Beinknochen das Skelett des Vogels zum Großteil erhalten, woraus die Spezialisten der LMU-Vogelklinik noch einige Informationen gewinnen konnten. So ergab die Untersuchung, dass am Skelett keine Spuren durch menschlichen Beschuss oder von Krallen eines Steinadlers vorliegen. „Obwohl in den Alpen schon mehrere Bartgeier von Steinadlern getötet worden sind, haben wir diese Todesursache durch die große Erfahrung von Wally mit diesen Greifvögeln nie als allzu wahrscheinlich eingeschätzt“, so Nationalpark-Projektleiter Ulrich Brendel.
Da der Vogel am Vortag problemlos noch 280 Kilometer geflogen war und alle vom GPS-Sender übermittelten Werte völlig normal waren, hält LBV-Bartgeierexperte Toni Wegscheider folgende Unfalltheorie für möglich. Aus seiner Sicht kann auch ein tödlicher Steinschlag nicht ausgeschlossen werden. „Schaut man sich alle Fundumstände genau an, dann haben wir direkt bei Wallys Knochen auch Teile eines jungen Hirsches gefunden, der offenbar vor längerer Zeit in derselben Steilrinne umgekommen war. Dazu lagen um die Überreste des Geiers auch frische Steinbrocken und in einer oberhalb gelegenen Felswand war deutlich ein kürzlich erfolgter Abbruch zu erkennen“, erklärt Toni Wegscheider. „Ob Wally also an einer verlockenden Nahrungsquelle gelandet und dann zufällig von herabfallenden Steinen überrascht wurde, wird sich nicht abschließend klären lassen.“ Da Bartgeier bereits in vergleichbaren Situationen durch abgehende Schneelawinen getötet wurden, ist für Wegscheiders Kolleg*innen aus der internationalen Expertenszene ein derartiges Szenario ebenso gut vorstellbar.
Was eine mögliche Bleivergiftung durch aufgenommene Reste von Jagdmunition angeht, dafür zeigten die durch den GPS-Sender des Vogels ebenfalls aufgezeichneten Vitalwerte vor seinem Verschwinden keine Anzeichen. Entsprechende Untersuchungen zum sicheren Ausschluss wurden bereits vom LBV in Auftrag gegeben. Auch andere im Alpenraum dokumentierte Todesarten wie die Kollision mit einer Seilbahn oder ein Gewitter lassen sich aufgrund der Fundumstände ausschließen. „Obwohl selbst Ursachen wie ein tödlicher Kreuzotterbiss oder Leberversagen schon bei toten Bartgeiern nachgewiesen werden konnten, sind entsprechende Untersuchungen im Fall von Wally mangels Weichteilgewebe leider nicht möglich“, erläutert Ulrich Brendel. Dennoch werden die Überreste in Kürze noch aufwändigen Analysen zum Nachweis von Schwermetallen und anderen Umweltgiften unterzogen werden.
Trotz dieses Rückschlags in dem Langzeitprojekt war die erste Auswilderung des Bartgeiers im Nationalpark Berchtesgaden sehr erfolgreich. „Die beiden Bartgeierweibchen Wally und Bavaria überstanden eigenständig und problemlos den Winter, inklusive längerer Ausflüge und erfolgreicher Nahrungssuche. Wallys Schicksal zeigt vielmehr, dass Wiederansiedlungsprojekte einen langen Atem brauchen“, resümiert Nationalparkleiter Dr. Roland Baier.

28.07.2022, NABU
Zwanzig Prozent der ukrainischen Naturschutzgebiete bereits zerstört
Brände, Minen und Wilderei bedrohen seltene Arten im Kriegsgebiet
NABU: Zwanzig Prozent der ukrainischen Naturschutzgebiete bereits zerstört / Brände, Minen und Wilderei bedrohen seltene Arten im Kriegsgebiet
Der andauernde Krieg in der Ukraine ist eine große Tragödie für die Menschen, die zu Hunderttausenden ihr Zuhause verlieren. Auch die Naturschutzgebiete, Heimat für zahlreiche Tiere und Pflanzen, werden in Mitleidenschaft gezogen und zum Teil dauerhaft geschädigt. „Zwanzig Prozent der Naturschutzgebiete in der Ukraine sind bereits zerstört, mehr als drei Millionen Hektar sind aktuell bedroht“, zieht NABU-Bundesgeschäftsführer Leif Miller fünf Monate nach Kriegsbeginn Bilanz.
Bei der Zerstörung handelt es sich nach Angaben der Ukrainian Society for the Protection of Birds (USPB) vor allem um Brände sowie Tonnen von Metallschrott, die über weite Teile verstreut seien. Auch Minenexplosionen sowie die Zerstörung von Nestern, Wilderei und illegale Abholzung in besetzten Gebieten seien große Bedrohungen für teilweise seltene Arten. „Besonders betroffen ist die Meeres- und Küstenregion am Asowschen Meer, wo Rosapelikane, Löffelreiher, Zwergscharben und anderen seltene Vogelarten nisten. Die Region hat den höchsten Schutzstatus für den Erhalt der Feuchtgebietsvogelfauna und liegt inmitten aktiver Kämpfe. Zahlreiche Vögel sind hier bereits durch Minenexplosionen sowie Wald- und Schilfbränden ums Leben gekommen“, so Oleg Dudkin, Direktor der USPB.
Auch zahlreiche weitere Gebiete seien betroffen. So beeinträchtigten im Schwarzen Meer militärische Aktivitäten Delfine bei der Nahrungssuche und Orientierung, in Polissja seien Tausende Hektar radioaktiv verseuchte Wald- und Moorflächen verbrannt und in den Wald-Steppen-Naturkomplexen am Asowschen Meer durch Minenexplosionen teilweise seltene Tiere wie Wisente, Antilopen, Wildpferde und Kraniche verunglückt. „Viele Vögel, darunter mindestens die Hälfte der Weißstorchenpaare aus dem Kriegsgebiet, konnten unter den aktuellen Bedingungen in diesem Jahr nicht brüten“, so Dudkin.
Der NABU setzt gemeinsam mit Partnerorganisationen Natur- und Artenschutzprojekte in der Ukraine um und versucht diese auch während des Krieges so weit wie möglich aufrecht zu erhalten. Mit der USPB (Birdlife-Partner in der Ukraine) arbeitet der NABU seit 2004 zusammen. Seit 2021 wird das gemeinsame Projekt „Chorne Bagno Ukraine“ zur Wiederherstellung des transkarpatischen Moores umgesetzt. Das Hochmoor ist von nationaler und internationaler Bedeutung für die biologische Vielfalt, den Klimaschutz und die Wissenschaft.

29.07.2022, Max-Planck-Institut für Biologie Tübingen
Bestäubung durch Krebstiere
Biene des Meeres: Eine kleine Meerassel hilft bei der Befruchtung von Rotalgen
Bis vor Kurzem bestand die Annahme, dass eine Bestäubung durch Tiere ausschließlich Pflanzen an Land vorbehalten ist. Ein internationales Forscherteam hat nun herausgefunden, dass kleine Meereskrustentiere die Vermehrung von Rotalgen fördern, indem sie das Sperma von den männlichen zu den weiblichen Organismen weitertragen. Ihre Ergebnisse deuten darauf hin, dass Meerestiere schon viel länger als Arten an Land eine Rolle bei der Befruchtung spielen.
Bienen und Kolibris, sogar Fledermäuse und Eidechsen tragen Pollen von einer männlichen zu einer weiblichen Pflanze. In der Biologie wurde bisher die Ansicht vertreten, dass Meeresalgen keine vergleichbare Unterstützung bei ihrer Fortpflanzung haben. Ein internationales Forscherteam unter der Leitung von Myriam Valero, die am Internationalen Forschungslabor Station Biologique de Roscoff (CNRS, Sorbonne Université, Pontificia Catolica Universidad de Chile and Universidad Austral de Chile) in Frankreich tätig ist, hat nun diese soweit vorherrschende Annahme widerlegt: Sie und ihr Team zeigten, dass die Baltische Meerassel (Idotea balthica) bei der Bestäubung der Rotalge (Gracilaria gracilis) vorteilhafte Dienste leistet.
Rotalgen profitieren von der Bestäubung durch Krustentier
Die etwa ameisengroßen Krustentiere nutzen die dicht verzweigten, buschigen Rotalgen als Unterschlupf und ernähren sich von Mikroalgen, die auf der Oberfläche der Rotalgen wachsen. Die Forschenden zeigten, dass sich die Asseln dafür erkenntlich zeigen: Wenn sie eine männliche Alge abweiden, klebt das auf der Blattoberfläche der Algen wachsende Sperma mittels einer Substanz an ihrem Körper fest. Bei Kontakt mit einer weiblichen Alge hingegen lösen sich die Spermien wieder, heften sich beim Vorbeistreifen an die weiblichen Fortpflanzungsorgane und bestäuben die Eier.
Für die Rotalge ist die Hilfe der kleinen Krustentiere von hoher Bedeutung: Die Spermien dieser Algen können sich nicht selbständig bewegen, so dass der Befruchtungserfolg ansonsten stark von günstigen Wasserströmungen und der örtlichen Nähe von männlichen und weiblichen Algen abhängt. Die Forschenden wollen nun herausfinden, ob auch andere Algenarten in vergleichbarer Form bestäubt werden.
Bestäubungsvorgang könnte Ursprung in den Ozeanen haben
Wie essentiell die Krustentiere der Gattung Idotea für die Paarung der Algen sind, wurde in der Studie noch nicht vollständig nachgewiesen: „Eine der Herausforderungen bestand vor allem darin, die vielen kleinen, nur wenige Mikrometer großen Geschlechtszellen auf der ebenso mikroskopisch kleinen, aber 1000-mal größeren Körperoberfläche der Baltischen Meerassel zu lokalisieren und zu dokumentieren“, erklärt Sébastien Colin, Forscher am Max-Planck-Institut für Biologie Tübingen und Mitautor der Studie.
Ihre Erkenntnisse haben für die Algenforschung eine besondere Aussagekraft, da bis vor kurzer Zeit davon ausgegangen wurde, dass die Befruchtung mithilfe von Tieren bei Pflanzen erst an Land und vor etwa 140 Millionen Jahren ihren Ursprung hat. Rotalgen hingegen sind etwa sechsmal so alt. Die Studienautorinnen und -autoren vermuten, dass eine Befruchtung durch Meerestiere wie die Baltische Meerassel Idotea balthica in den Ozeanen bereits weit vor der Entstehung von pflanzlichem Leben an Land stattgefunden hat.
Originalpublikation:
E. Lavaut, ML. Guillemin, S. Colin, A. Faure, J. Coudret, C. Destombe, M. Valero: Pollinators of the sea: a discov-ery of animal mediated fertilization in seaweed. Science, July 29, 2022.

29.07.2022, Senckenberg Forschungsinstitut und Naturmuseen
Invasion der Frösche und Schlangen: Kosten von über 16 Milliarden Euro
Invasionen durch Amphibien und Reptilien – wenn sich Arten über die Regionen hinaus ausbreiten, in denen sie heimisch sind – haben die Weltwirtschaft zwischen 1986 und 2020 mindestens 16 Milliarden Euro gekostet. Laut einer heute im Fachjournal „Scientific Reports“ veröffentlichten Studie gelten zwei Arten dabei als die größten Kostenverursacher: der Nordamerikanische Ochsenfrosch und die Braune Nachtbaumnatter. Die Ergebnisse des Wissenschaftler*innen-Teams, unter der Leitung von Senckenberg-Forscher Dr. Phillip Haubrock, machen deutlich, dass wirksamere politische Maßnahmen erforderlich sind, um die Ausbreitung aktueller und künftiger invasiver Amphibien und Reptilien zu begrenzen.
Die Braune Nachtbaumnatter (Boiga irregularis) kam durch Einschleppungen auf die westpazifische Insel Guam –wahrscheinlich durch Truppentransporte während des Zweiten Weltkrieges. Durch das Fehlen von natürlichen Feinden vermehrten sich die Schlangen rasant. Heute leben auf der Insel mehr als 10.000 Individuen pro Quadratkilometer. Mit einer verheerenden Wirkung auf die Fauna der Insel: Innerhalb weniger Jahre waren viele Vogelarten und andere Kleintiere der Insel, die als Beutetiere der Schlange in Frage kamen, ausgestorben oder gefährdet. Als Folge der weitreichenden Ausrottung der Vögel – und damit von wichtigen Samenausbreitern – ist nun auch die Flora Guams bedroht. „Gemeinsam mit dem Nordamerikanischen Ochsenfrosch – Lithobates catesbeianus – ist die Braune Nachtbaumnatter von 1986 bis 2020 verantwortlich für einen weltweiten finanziellen Schaden von knapp 16 Milliarden Euro – das sind 96,3 bzw. 99,3 Prozent der Gesamtkosten, die invasive Amphibien und Reptilien in diesem Zeitraum verursacht haben“, erläutert Dr. Phillip Haubrock von der Außenstelle Gelnhausen des Senckenberg Forschungsinstituts und Naturmuseums Frankfurt.
Erstautor und Doktorand Ismael Soto von der University of South Bohemia in České Budějovice und weitere Kolleg*innen haben unter der Leitung von Haubrock die weltweiten Kosten von Amphibien- und Reptilieninvasionen anhand von Daten aus der InvaCost-Datenbank untersucht, in der die wirtschaftlichen Kosten von Arteninvasionen zusammengestellt sind. Die Daten stammen aus von Expert*innen begutachteten Artikeln, Dokumenten auf Webseiten von Regierungen, Hochschulen und Nichtregierungsorganisationen sowie aus weiteren Dokumenten, die von Fachleuten für biologische Invasionen eingeholt wurden. „Unsere Auswertung ergibt, dass sich die Gesamtkosten für die Invasion von Reptilien und Amphibien zwischen 1986 und 2020 auf über 16,5 Milliarden Euro belaufen. Davon entfielen 6,1 Milliarden Euro auf Amphibieninvasionen, 10,1 Milliarden Euro auf Reptilieninvasionen und 0,2 Milliarden Euro auf Invasionen, die sowohl Amphibien als auch Reptilien betreffen“, ergänzt der Senckenberg-Forscher.
Laut der Studie stehen 99,7 Prozent der durch Amphibien verursachten Kosten im Zusammenhang mit der Bekämpfung von Invasionen, z. B. für die Ausrottung invasiver Arten. 96,6 Prozent der durch Reptilien verursachten Kosten sind dagegen auf Schäden zurückzuführen, die direkt durch die Invasionen verursacht werden, wie beispielsweise Ernteverluste. Invasive Amphibien belasten besonders die Geldbeutel Europas – 96,3 Prozent der wirtschaftlichen Kosten entstehen in europäischen Ländern. Die Länder Ozeaniens und der pazifischen Inseln sind mit 99,6 Prozent der Gesamtkosten vor allem durch Reptilieninvasionen betroffen.
„Unsere Studie zeigt erstmals die weltweit entstehenden Kosten durch die Herpetofauna auf. Die Schäden sind sehr wahrscheinlich noch viel höher, als uns InvaCost aufzeigen kann – es fehlt an Daten, sodass sich die bisherige Erfassung nur auf einige wenige Arten und Regionen konzentriert und auf die letzten Jahrzehnte beschränkt ist. Wir gehen außerdem davon aus, dass die Invasionsraten in Zukunft zunehmen werden – dem wird ein Anstieg der wirtschaftlichen Kosten folgen“, resümiert Haubrock und schlussfolgert: „Die wirtschaftlichen Kosten können durch Investitionen in Maßnahmen zur Begrenzung des globalen Transports invasiver Amphibien und Reptilien und durch frühzeitiges Erkennen von Invasionen reduziert werden. Dies könnte die Notwendigkeit eines langfristigen Managements von invasiven Arten und das Ausmaß der entstandenen Schäden verringern – Vorbeugen ist günstiger als Heilen!“
Originalpublikation:
Ismael Soto, Ross N. Cuthbert, Antonín Kouba, César Capinha, Anna Turbelin, Emma J. Hudgins, Christophe Diagne, Franck Courchamp & Phillip J. Haubrock (2022): Global economic costs of herpetofauna invasions. Scientific Reports, 12:10829 https://doi.org/10.1038/s41598-022-15079-9

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