11.07.2022, Hessisches Landesmuseum Darmstadt
Wiederentdeckung nach 40 Jahren: Ein rätselhafter Frosch aus den Anden Perus
Das tägliche Geschäft von zoologischen Taxonomen ist die Entdeckung neuer Arten, oft in den artenreichen tropischen Regionen der Erde. Manchmal besteht eine Herausforderung der Forscher jedoch darin, bereits wissenschaftlich erfasste Arten einer lebenden Population zuzuordnen. Von manchen Arten sind nur sehr wenige, oder sogar nur ein einziges Exemplar, in Forschungssammlungen konserviert. Sind diese Exemplare in schlechtem Zustand, wird eine Zuordnung kompliziert. Einen solchen rätselhaften Fall konnten Froschforscher nun in Peru lösen.
Ein Team von Wissenschaftlern aus Peru und Deutschland um Dr. Jörn Köhler, Zoologe am Hessischen Landesmuseum Darmstadt, konnte die Identität der Froschart Pristimantis nebulosus klären, von der 1979 ein einziges Exemplar gesammelt wurde, welches jedoch schlecht konserviert wurde und beschädigt ist. Dadurch blieb die Identität der Art weitgehend unklar, zumal die Frösche der Gattung Pristimantis mit 590 bekannten Arten, die artenreichste Froschgruppe weltweit darstellt.
Die Forscher suchten an exakt der Stelle in der Cordillera Azul in Zentral-Peru, an der das Exemplar vor 40 Jahren gefunden wurde. Sie entdeckten drei Tiere, die sie nach detaillierten Vergleichen der Art zuordnen konnten. Dieses neue Material erlaubte jetzt genetische Analysen und die Beschreibung des Paarungsrufs.
Die nun publizierten Ergebnisse bringen nach mehr als 40 Jahren endlich Klarheit zum Aussehen und den Verwandtschaftsbeziehungen der Art. Nebenbei glückte den Wissenschaftlern aber auch die Entdeckung einer neuen Art und dies ganz zufällig. Sie mussten ungeplant in einen Bergregenwald zurückkehren, weil sie dort einen Teil ihrer Expeditionsausrüstung vergessen hatten. Nur dadurch entdeckten sie die neue Art, die sie Pristimantis symptosus nannten, was abgeleitet aus dem Griechischen ‚Zufall‘ bedeutet.
Originalpublikation:
Köhler, J., E. Castillo-Urbina, C. Aguilar-Puntriano, M. Vences & F. Glaw (2022): Rediscovery, redescription and identity of Pristimantis nebulosus (Henle, 1992), and description of a new terrestrial-breeding frog from montane rainforests of central Peru (Anura, Strabomantidae). Zoosystematics and Evolution 98 (2): 213–232.
https://zse.pensoft.net/article/84963/
11.07.2022, Veterinärmedizinische Universität Wien
Die perfekte Welle – wie Waldrappe beim Fliegen Energie sparen
Viele Vögel nützen zur Fortbewegung den Wellenflug. Phasen mit schnellen Flügelschlägen, bei denen die Vögel an Höhe gewinnen, wechseln sich mit Gleitphasen ab. Ein von der Vetmeduni geleitetes Forschungsteam – in Zusammenarbeit mit dem österreichischen Waldrappteam in Mutters (Tirol), der ETH Zürich, der Universität Wien und der Vetsuisse in Bern – wies nun anhand von Daten aus GPS-Sendern erstmalig nach, dass Waldrappe mit dieser Flugtechnik ihren Energiebedarf deutlich senken.
Vögel haben während ihres Fluges einen außergewöhnlich hohen Energiebedarf. Ein sichtbares Flug-Merkmal mancher Arten ist der Wechsel zwischen Flattern und Gleiten, wodurch sie Energie sparen sollen. Empirische Belege für einen energetischen Nutzen gab es bisher jedoch nicht. Um das zu ändern, statteten die Forscher:innen vom Menschen aufgezogene Waldrappe (Geronticus eremita) für ihre Wanderungsbewegung mit GPS-Datenloggern aus. Die Wissenschafter:innen überwachten damit die Position der Vögel, die Flügelschläge, die dynamische Gesamtkörperbeschleunigung und die Herzfrequenz als Maßgröße für den Energieverbrauch.
Gleiten statt hetzen
Studien-Erstautorin Ortal Mizrahy-Rewald vom Forschungsinstitut für Wildtierkunde und Ökologie der Vetmeduni sowie vom Waldrappteam in Mutters zum zentralen Ergebnis des Forschungsprojekts: „Der Energieverbrauch wird maßgeblich durch die Länge der Schlag- und Gleitbewegungen beeinflusst. Bereits nach nur einer Sekunde im Gleitflug sinkt die Herzfrequenz deutlich. Andererseits steigt die Herzfrequenz in Phasen des Flügelschlags während der ersten 30 Sekunden stetig an, um sich danach zu stabilisieren.“
20 Prozent Gleitanteil spart mehr als 10 Prozent Energie
Der Gleitfluganteil beim Wellenflug, auch intermittierender Flug (intermittent flight) genannt, wirkt sich im Vergleich zum kontinuierlichen Flügelschlag deutlich auf die Energiebilanz aus: „Bei einem Gleitanteil von etwa 20 % maßen wir anhand der Herzfrequenz eine maximale Einsparung von 11 %. Bei höheren Gleitanteilen war die zusätzliche Energieeinsparung allerdings vernachlässigbar“, so Studien-Letztautor Thomas Ruf vom Forschungsinstitut für Wildtierkunde und Ökologie der Vetmeduni. Laut Ruf ist die kombinierte Messung der Herzfrequenz und der dynamischen Gesamtkörperbeschleunigung (overall dynamic body acceleration – ODBA) unerlässlich, um die Bewegung und den Energieverbrauch der Vögel korrekt zu bestimmen.
Ambitioniertes EU-Projekt zur Wiederansiedelung
Der Waldrapp (Geronticus eremita) ist ein etwa gänsegroßer Ibis und war einst in Europa ein häufig verbreiteter Vogel. Durch intensive Bejagung starb er jedoch in Mitteleuropa im 17. Jahrhundert aus. Im Rahmen des Europäischen LIFE+EU-Projektes, das unter anderem vom WWF unterstützt wird, soll der Waldrapp wieder als echter Zugvogel in Mitteleuropa, Spanien und Italien angesiedelt werden. Ursprünglich von der Konrad Lorenz Forschungsstelle in Grünau im Almtal (Oberösterreich) ausgehend, wurden vom Artenschutzprojekt „Waldrappteam“ mehrere Auswilderungsprojekte gestartet. So werden beispielsweise in österreichischen Tierparks gezüchtete und aufgezogene Waldrappe über die Alpen in ein italienisches Überwinterungsgebiet begleitet, um von dort mit ihren Artgenossen im folgenden Frühjahr selbstständig zurück nach Norden zu fliegen.
Originalpublikation:
Der Artikel „Empirical Evidence for Energy Efficiency Using Intermittent Gliding Flight in Northern Bald Ibises“ von Ortal Mizrahy-Rewald, Elisa Perinot, Johannes Fritz, Alexei L. Vyssotski, Leonida Fusani, Bernhard Voelkl und Thomas Ruf wurde in „Frontiers in Ecology and Evolution“ veröffentlicht. https://www.frontiersin.org/articles/10.3389/fevo.2022.891079/full
13.07.2022, Ruhr-Universität Bochum
Wie sich Wasserflöhe gegen fleischfressende Pflanzen verteidigen
Wasserflöhe sind Meister der Anpassung. Dass sie sich nicht nur gegen Tiere, sondern auch gegen fleischfressende Pflanzen zur Wehr setzen können, haben Forschende der Ruhr-Universität Bochum (RUB), der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg und der Technischen Universität Darmstadt herausgefunden. Sie zeigten, dass Wasserflöhe in Anwesenheit der Wasserpflanze Utricularia (Wasserschlauch) langsamer schwimmen und seitliche Dornen entwickeln. Beides erschwert anscheinend das Einsaugen in die Fallen der fleischfressenden Pflanze.
Die Ergebnisse beschreibt das Team um Dr. Sebastian Kruppert, Dr. Martin Horstmann und Prof. Dr. Ralph Tollrian von der RUB, Prof. Dr. Thomas Speck vom Botanischen Garten Freiburg sowie Simon Poppinga von der Technischen Universität Darmstadt in der Zeitschrift „International Journal of Molecular Sciences“, online veröffentlicht am 9. Juni 2022.
Wasserfloh S04 aus Gelsenkirchen
Die Fallen der Wasserpflanze Utricularia werden durch Bewegungen ausgelöst. Sie saugen die Beute innerhalb von wenigen Millisekunden ein und verdauen sie. Eine Pflanze kann viele Fallen ausbilden und auch mehrere Tiere auf einmal fangen. „Dadurch entsteht ein sehr hoher Fraßdruck“, sind sich Simon Poppinga und Thomas Speck einig. Die Forschenden der drei Universitäten wollten wissen, ob sich die wehrhaften Wasserflöhe gegen solche Angriffe durch Pflanzen verteidigen.
Sie suchten zunächst natürliche Lebensräume, in denen Pflanzen und Wasserflöhe zusammenleben. In Gelsenkirchen wurden sie fündig. Das Team isolierte mehrere Individuen aus dem Freiland und versuchte, sie im Labor zu vermehren. Wasserflöhe sind parthenogenetisch: Sie erzeugen genetisch identische Nachkommen, also Klone von sich selbst. Die klonale Linie mit der Bezeichnung „04“ ließ sich gut kultivieren. Aufgrund der geografischen Nähe zum Fußballstadion nannten die Forschenden sie S04.
Anwesenheit von Wasserpflanze lässt Fortsätze länger werden
Im Labor kultivierten die Forschenden S04 gemeinsam mit der Wasserpflanze, zunächst durch ein feines Gitter getrennt. Auf diese Weise konnten die Tiere nicht direkt mit der Pflanze in Kontakt kommen und schwebten nicht in Gefahr – sie konnten aber über chemische Botenstoffe die Anwesenheit des Fressfeinds wahrnehmen. Wasserflöhe, die so lebten, bildeten längere Fortsätze an ihrem Panzer aus und waren zudem kleiner.
Außerdem maßen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die Schwimmgeschwindigkeit. Wasserflöhe, die in Anwesenheit der Pflanze lebten, bewegten sich langsamer als solche, die ohne Pflanze aufwuchsen. Hatten die Tiere die Wahl, mieden sie die Nähe zu den Wasserpflanzen. „Dies zeigt, dass die sonst genetisch identischen Tiere Verteidigungen nur aktivieren, wenn sie diese brauchen, weil sie mit den Pflanzen aufwachsen,“ sagt Sebastian Kruppert.
Verteidigte Tiere werden seltener gefressen
Dieses veränderte Verhalten und die Anpassungen im Körperbau zeigten Wirkung. Das Team verglich, wie häufig Tiere, die ohne die Pflanze aufgewachsen waren, gefressen wurden im Vergleich zu Tieren, die der Pflanze ausgesetzt waren. Tatsächlich wurden letztere seltener gefressen. „Das weist darauf hin, dass die anschaltbaren Anpassungen tatsächlich Verteidigungen gegen die Pflanze sind“, folgert Sebastian Kruppert.
„Wir gehen davon aus, dass die Fortsätze die Wasserflöhe breiter machen als den Durchmesser der Saugfalleneingänge“, schildert Martin Horstmann. „Die Fallen sind zwar unterschiedlich groß, aber zumindest von den kleineren Fallen können die Tiere dann nicht mehr gefressen werden.“ Da die verteidigten Wasserflöhe zudem schlanker sind, kann der Wassersog wohl leichter an ihnen vorbeiströmen. Hinzu kommen die langsameren Schwimmbewegungen, die die Fallen wahrscheinlich seltener triggern.
„Uns war zuvor kein anderer Fall bekannt, in dem sich Tiere gegen Angriffe von Pflanzen verteidigen können“, hebt Ralph Tollrian die Besonderheit der Entdeckung hervor. „Dass dann auch noch verschiedene Verteidigungen wie Verhaltensanpassungen und Veränderungen im Körperbau zugleich zu beobachten sind, zeigt, wie wandlungsfähig und faszinierend diese winzigen Tiere sind.
Originalpublikation:
Sebastian Kruppert, Martin Horstmann, Linda C. Weiss, Elena Konopka, Nadja Kubitza, Simon Poppinga, Anna S. Westermeier, Thomas Speck, Ralph Tollrian: Facing the green threat: A water flea’s defenses against a carnivorous plant, in: International Journal of Molecular Sciences, 2022, DOI: 10.3390/ijms23126474
14.07.2022, Deutsches Zentrum für integrative Biodiversitätsforschung (iDiv) Halle-Jena-Leipzig
Nordamerikanische Vögel folgen sich wandelndem Klima nur teilweise
Manche nordamerikanischen Vogelarten leben zunehmend an Orten, die nicht ihren bevorzugten klimatischen Bedingungen entsprechen. Diese Klima-Entkopplung ist besonders bei Lebensraumspezialisten ausgeprägt. Dies sind die Ergebnisse einer Studie des Deutschen Zentrums für integrative Biodiversitätsforschung (iDiv), der Universität Leipzig, der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg (MLU) und der Biologischen Station Doñana, die jetzt in der Fachzeitschrift Nature Ecology & Evolution veröffentlicht worden ist. Die bei einem Viertel der untersuchten Vogelarten festgestellte Klima-Entkopplung kann diese Arten zusätzlich belasten und Bestandsrückgange verstärken.
Der Klimawandel stellt für Pflanzen und Tiere eine Reihe von Herausforderungen dar. So verändern sich im Zuge des Klimawandels die für viele Arten geeigneten klimatischen Bedingungen. Die Situation verschärft sich, wenn weitere, vom Menschen verursachte Landnutzungsänderungen hinzukommen – etwa in der Landwirtschaft. Wenn die für eine bestimmte Art klimatisch geeigneten Orte einerseits und ihre tatsächliche Verbreitung und Häufigkeit andererseits zunehmend auseinanderklaffen, spricht man von Klima-Entkopplung. So lebt beispielsweise die Heuschreckenammer (Ammodramus savannarum) im nordamerikanischen Grasland, einem Lebensraum der zunehmend verloren geht. Die hohe Spezialisierung der Heuschreckenammer in Verbindung mit dem Verlust intakter Lebensräume schränkt diese Art beim Einstellen auf ihre klimatische Nische stark ein. Das äußerst sich in starken Bestandsrückgängen und dem lokalen Aussterben der einst weit verbreiteten Art.
Nicht nur die Heuschreckenammer lebt mittlerweile an für sie klimatisch weniger günstigen Orten. Ein Forscherteam unter der Leitung von iDiv, der Universität Leipzig und der MLU hat die besten verfügbaren Daten über die zeitliche Entwicklung von Vogelpopulationen aus dem North American Breeding Bird Survey (BBS) ausgewertet und festgestellt, dass mindestens 30 der 114 untersuchten nordamerikanischen Vogelarten (26 %) in den vergangenen 30 Jahren dem sich wandelnden Klima nur teilweise gefolgt sind. Das bedeutet, dass sich ihre Verbreitung und ihre Häufigkeit im Laufe der Zeit zunehmend vom lokalen Klima entkoppelt haben. Die Gründe dafür können für jede Art unterschiedlich sein. Einige neigen vielleicht dazu, in Gebieten zu bleiben, in denen sie schon immer gelebt haben, andere könnten in ihrer Verbreitung und Häufigkeit durch klimaunabhängige Ressourcen und Lebensräume eingeschränkt sein. Weitere könnten aufgrund globaler Veränderungen bereits so im Rückgang begriffen sein, dass sie sich nicht mehr auf wandelnde Klimabedingungen einstellen können. Bei 11 von 114 der untersuchten Arten (ca. 10 %) gab es hingegen einen gegenläufigen Trend – eine Klima-Kopplung. Die Verbreitung und Häufigkeit dieser Arten stimmten also mit ihren klimatisch bevorzugten Bedingungen zunehmend überein. Bei den übrigen Arten fanden sich weniger Anhaltspunkte für Klima-Kopplung oder Klima-Entkopplung – d. h. die Passgenauigkeit von Verbreitung und Häufigkeit einerseits und artspezifischem Klimaoptimum andererseits blieb stabil.
„Ein Ergebnis hat uns besonders überrascht: Der allgemeine Trend der Klima-Entkopplung hat sich anscheinend nicht verlangsamt“, sagt der Erstautor Dr. Duarte Viana, der den Großteil der Studie während seiner Anstellung bei iDiv und der Universität Leipzig durchführte und jetzt an der Biologischen Station Doñana in Sevilla arbeitet. „Dies deutet auf eine mögliche Rückkopplung zwischen der Klima-Entkopplung und dem Rückgang der Populationen hin, die sich angesichts zahlreicher globaler Veränderungen ergeben könnte“, fügt er hinzu.
Die Forscher konnten zeigen, dass die Klima-Entkopplung bei Lebensraumspezialisten stärker ausgeprägt war als bei Generalisten. Diese Spezialisten haben möglicherweise größere Schwierigkeiten in zunehmend veränderten Landschaften die richtigen Kombinationen aus geeigneten Lebensräumen und Klimabedingungen zu finden.
„Wir haben auch festgestellt, dass die Klima-Entkopplung bei Arten, die als bedroht gelten und deren Populationsgröße abnimmt, stärker ausgeprägt ist“, sagt Senior-Autor Prof. Dr. Jonathan Chase, Leiter der Forschungsgruppe Biodiversitätssynthese bei iDiv und an der MLU. „Es gibt viele bekannte Faktoren, die zum Rückgang der Populationen vieler Vogelarten beitragen, aber unsere Studie fügt unserem Verständnis der möglichen Ursachen für einige dieser Veränderungen eine neue Facette hinzu – dass nämlich die Wahrscheinlichkeit sinkt, dass die Arten unter ihren optimalen Klimabedingungen leben, während sich die Welt um sie herum verändert. Wie beim sprichwörtlichen Kanarienvogel in der Kohlemine sollten wir Menschen diese Veränderungen als Warnung verstehen, dass wir wahrscheinlich bald in ähnlicher Weise an Orten leben werden, die außerhalb unserer optimalen Klimaspanne liegen.“
Originalpublikation:
Viana, S. D., Chase, J. (2022): Increasing climatic decoupling of bird abundances and distributions. Nature Ecology & Evolution. DOI: 10.1038/s41559-022-01814-y
13.07.2022, Eberhard Karls Universität Tübingen
Marder, Vielfraße, Stinktiere und Rote Pandas: Hammerschmiede war ein Paradies für kleine Raubtiere
Team des Senckenberg Centres for Human Evolution and Palaeoenvironment an der Universität Tübingen entdeckt hohe Diversität kleiner Fleischfresser an der Fundstelle im Allgäu
Mindestens 20 Arten kleiner Raubtiere lebten vor 11,5 Millionen Jahren im heutigen Allgäu: Dies hat ein internationales Forschungsteam bei der Untersuchung von Fossilien aus der Fundstelle Hammerschmiede in Bayern nachgewiesen. Der Ort steht seit 2019 im Interesse der Forschung, weil dort der bereits aufrechtgehende Menschenaffe Danuvius guggenmosi, genannt Udo, entdeckt wurde. Zu dem aktuellen Hammerschmiede-Team gehörten Nikolaos Kargopoulos von der Universität Tübingen, Wissenschaftler aus Saragossa und Barcelona sowie Professorin Madelaine Böhme vom Senckenberg Centre for Human Evolution and Palaeoenvironment an der Universität Tübingen. Ihre Arbeit wurde im Fachjournal PLOS ONE veröffentlicht.
Die jüngsten Ausgrabungen in der Hammerschmiede unter der Leitung von Professorin Madelaine Böhme haben eine außergewöhnliche Vielfalt an fossilen Tieren und Pflanzen zutage gefördert, darunter mehr als 350 Einzelfunde von Raubtieren. Viele der entdeckten Fleischfresser waren semiaquatisch, lebten also sowohl an Land als auch im Wasser, oder hatten eine kletternde Lebensweise. „So konnten sich die Arten an den bewaldeten Fluss anpassen, der zu jener Zeit in der Region vorhanden war“, sagt Böhme.
Unterschiedliche ökologische Nischen
Unter den von der Fundstelle nachgewiesenen Raubtieren sind vier marderähnliche Arten, zwei Verwandte des heutigen Vielfraßes, vier Otterarten, drei Arten Stinktiere, zwei Arten aus der Verwandtschaft des Roten (Zwerg-)Pandas, drei verschiedene Ginsterkatzen sowie einige Arten von Gruppen, von denen es heute keine lebenden Vertreter mehr gibt. Für den Doktoranden Nikolaos Kargopoulos, den Erstautor der Studie, ist ein sehr gut erhaltener Schädel eines Marders („Martes“ sansaniensis) eines der beeindruckendsten Fundexemplare. „Dieser gehört in eine bislang unbekannte Gattung großer, ausgestorbener Marder“, resümiert er.
Die Forscher entdeckten außerdem eine für die Wissenschaft neue Art eines Wiesels – mit nur ein bis drei Kilogramm Körpergewicht eines der kleinsten Raubtiere aus der Hammer-schmiede. Spezialanpassungen im Gebiss verraten, dass diese Art sich ausschließlich von Fleisch ernährte. Die Wissenschaftler gaben ihr den Namen Circamustela hartmanni, um die Familie Hartmann, die Grundstückseigentümer der Hammerschmiede, zu ehren, die Grabungen auf ihrem Grund über all die Jahre hinweg ermöglicht hat.
Madelaine Böhme zufolge sind in Europa Fossilien aus der Zeit vor 11,5 Millionen Jahren von Vielfraßen, Stinktieren und auch Roten Pandas durchaus zu erwarten gewesen, jedoch nicht in dieser hohen Konzentration und Artenzahl. „Eine mit 20 Arten so außergewöhnlich große Vielfalt an kleinen Raubtieren an ein und demselben Fundort deutet darauf hin, dass das damalige Ökosystem blühte und all diese verschiedenen Formen ernähren konnte“, sagt sie. „Ausgehend von den Ergebnissen einer Analyse der Körpermasse sowie der Ernährungs- und Fortbewegungsgewohnheiten der entdeckten Arten nahm jede von ihnen eine andere Rolle im Ökosystem ein. Sie nutzten verschiedene natürliche Ressourcen und konnten so Konkurrenz vermeiden“, betont Kargopoulos.
Originalpublikation:
Nikolaos Kargopoulos, Alberto Valenciano, Juan Abella, Panagiotis Kampouridis, Thomas Lechner, Madelaine Böhme: The exceptionally high diversity of small carnivorans from the Late Miocene hominid locality of Hammerschmiede (Bavaria, Germany). PLOS ONE, https://doi.org/10.1371/journal.pone.0268968