04.04.2022, Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung (IZW) im Forschungsverbund Berlin e.V.
Tüpfelhyänen passen ihre Futtersuche an den Klimawandel an
Tüpfelhyänen passen ihre Futtersuche an, wenn in ihrem Revier aufgrund von Klimaveränderungen weniger Beutetiere vorkommen. Dies ist das Ergebnis einer in der Fachzeitschrift „Ecosphere“ veröffentlichten Arbeit von Wissenschaftler:innen des Leibniz-Instituts für Zoo- und Wildtierforschung (Leibniz-IZW) und des Centre d’Ecologie Fonctionelle & Evolutive (CEFE). Anhand von Beobachtungsdaten aus drei Jahrzehnten konnten sie zeigen, dass eine Zunahme der jährlichen Niederschläge in dieser Zeit die Präsenz der großen Gnuherden innerhalb der Hyänenclan-Territorien halbierte. Dennoch machten die Clans ausreichend Beute, sodass die Hyänenweibchen ihre Jungtiere erfolgreich aufziehen konnten.
Die Beobachtungen der Wissenschaftler:innen deuten auf eine hohe Plastizität des Futtersuchverhaltens von Hyänen in Reaktion auf veränderte Umweltbedingungen hin.
Die Frage, wie gut Tiere in ihren Lebensräumen mit durch den Klimawandel verursachten Veränderungen umgehen können, welche Anpassungsmechanismen sie also besitzen, ist von zentralem Interesse der Forschung für den Artenschutz. Änderungen von Niederschlagsmenge oder -zeitpunkt wie in der berühmten Serengeti in Tansania können das Vegetationswachstum und damit die Wanderungen der großen Pflanzenfresser wie dem Streifengnu (Connochaetes taurinus) oder dem Steppenzebra (Equus quagga) beeinflussen. Der Klimawandel kann somit die Orte profitabler Nahrungsgebiete für Raubtiere wie Tüpfelhyänen verschieben, die sich von diesen Pflanzenfressern ernähren. Eine aktuelle wissenschaftliche Untersuchung zeigt, dass Tüpfelhyänen (Crocuta crocuta) im Serengeti-Nationalpark ihr Futtersuchverhalten an Veränderungen der Verbreitung der großen Gnuherden in ihrem Revier anpassen konnten, die auf substanziell angestiegene Niederschlagsmengen und veränderte -muster zurückgingen.
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Leibniz-IZW und des CEFE analysierten Daten aus dem Langzeitforschungsprojekt über drei Clans von Tüpfelhyänen im Zentrum des Nationalparks. Die Clans wurden zwischen 1990 und 2019 nahezu täglich beobachtet. Wetterdaten zeigen, dass der jährliche Niederschlag in der Serengeti in diesen drei Jahrzehnten erheblich zunahm. Die Anwesenheit der großen Gnuherden in den Territorien der Hyänenclans halbierte sich dadurch in diesem Zeitraum. „Um festzustellen, wie die Hyänen auf Veränderungen der Niederschlagsmenge und -muster und der Beuteverfügbarkeit in ihren Territorien reagierten, konzentrierten wir uns auf die Anwesenheit säugender Mütter am Gemeinschaftsbau“, sagt Morgane Gicquel, Erstautorin des Aufsatzes und Doktorandin am Leibniz-IZW.
Wie das Team herausfand, nahm die Wahrscheinlichkeit, dass die großen wandernden Herden in den Clanterritorien vorkamen, während des Jahresverlaufes mit der Niederschlagsmenge zwei Monate zuvor zu. Gleichzeitig stieg die Anwesenheit der Hyänenmütter am Gemeinschaftsbau mit der Anwesenheit der großen Herden. Mit der über die Gesamtzeit erheblich angestiegenen Niederschlagsmenge halbierte sich die Präsenz der großen Herden in den Territorien der Hyänenclans, weil sich der Zusammenhang zwischen Niederschlag und Herdenvorkommen abschwächte. Überraschenderweise blieb die Anwesenheit von Hyänenmütter während des gesamten Untersuchungszeitraums konstant, so dass die Jungtiere im gleichen Maße gesäugt wurden.
„Die Anwesenheit von Hyänenmüttern am Gemeinschaftsbau ist ein Schlüsselverhalten, das das Überleben der Jungtiere direkt beeinflußt. Tüpfelhyänen im Serengeti-Nationalpark pflanzen sich das ganze Jahr über fort. Ihre Jungen sind in den ersten sechs Lebensmonaten vollständig auf Milch angewiesen“, erklären Dr. Marion East und Prof. Heribert Hofer, Wissenschaftler:innen am Leibniz-IZW, die über den vollständigen Untersuchungszeitraum zu den Serengeti-Hyänen forschten. „Wenn große Gnuherden im Clanterritorium vorkommen, jagen und fressen alle Hyänenmütter zuhause und säugen täglich ihre Jungtiere. In Zeiten, in denen nur wenig Beute im eigenen Territorium verfügbar ist, pendeln die Weibchen regelmäßig in weit entfernte Gebiete bis zu den nächst gelegenen großen Gnuherden, um dort zu jagen und dann Milch produzieren zu können. Nach einem bis mehreren Tagen kehren sie zum Gemeinschaftsbau zurück, um dort ihre Jungen zu säugen.”
Es wäre zu erwarten, dass ein Rückgang der Beutepräsenz innerhalb des Clanterritoriums dazu führt, dass Mütter weniger Zeit bei ihren Jungen verbringen können, da sie in weiter entfernten Gebieten nach Beute suchen müssen. Die Anwesenheit von Hyänenmüttern am Gemeinschaftsbau müsste folglich abnehmen. Warum blieb sie also in den untersuchten Hyänenclans konstant? „Unsere Ergebnisse deuten darauf hin, dass sich säugende Weibchen nicht so sehr auf eine konkrete Erwartung verlassen, wo sich Ansammlungen großer Gnuherden in einem bestimmten Monat befinden könnten, sondern eher andere Mittel einsetzen, um beim Pendeln gute Nahrungsgebiete zu finden“, sagt Dr. Sarah Benhaiem, Seniorautorin des Aufsatzes und Wissenschaftlerin am Leibniz-IZW. Eine Hyäne könnte Informationen über die beste Richtung für ihre Nahrungssuche erhalten, indem sie sich an der Richtung orientiert, aus der gut genährte Clanmitglieder an den Bau zurückkehren, oder an der Duftspur, die diese Mitglieder hinterlassen. Frühere Arbeiten des Leibniz-IZW-Teams zeigten, dass Serengeti-Tüpfelhyänen gut etablierte Pendelrouten nutzen, die viele Territorien durchqueren. „Die Nutzung dieser Routen könnte es den Hyänen ermöglichen, Informationen über den Nahrungserfolg von Tieren aus verschiedenen Clans zu erhalten, denen sie unterwegs begegnen“, erklärt Dr. Benhaiem. „Dies könnte dazu beitragen, ihre Effizienz beim Aufspüren weit entfernter Gnuherden zu verbessern“.
„Unsere Untersuchungen weisen darauf hin, dass Hyänen offenbar gut in der Lage sind, mit den durch den Klimawandel bedingten Veränderungen in der Beutepräsenz in ihrem Territorium umzugehen“, sagt Morgane Gicquel. „Diese Raubtiere scheinen über eine hohe Plastizität in ihrem Nahrungssuchverhalten zu verfügen, was sie dazu befähigt, gut auf Umweltschwankungen reagieren zu können“, ergänzt Dr. Sarah Cubaynes, Wissenschaftlerin am CEFE und Mitautorin des Aufsatzes. Obwohl die großen Herden im Serengeti-Nationalpark die Hauptbeute mehrerer großer Raubtierarten sind, wenn sie in ihren Revieren vorkommen, pendeln nur Hyänen regelmäßig über weite Strecken, um auch außerhalb ihres Territoriums nach Beute zu suchen. Daher könnten mögliche Veränderungen der Wanderungen der großen Herden auch Auswirkungen auf andere Raubtiere in diesem Ökosystem haben.
Originalpublikation:
Gicquel M, East ML, Hofer H, Cubaynes S, Benhaiem S (2022): Climate change does not decouple interactions between a central place foraging predator and its migratory prey. Ecosphere 13/4. DOI: 10.1002/ecs2.4012
06.04.2022, Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in der Helmholtz-Gemeinschaft
Ranghohe Nacktmulle sind widerstandsfähiger
Nacktmulle sind immer wieder für eine Überraschung gut. Die MDC-Arbeitsgruppe von Gary Lewin hat jetzt herausgefunden, dass Tiere mit einem höheren Rang den sozial schwächeren wahrscheinlich auch in immunologischer Hinsicht überlegen sind. Seine Ergebnisse beschreibt das Team in „Open Biology“.
Sie sehen nicht nur ungewöhnlich aus, sie haben auch einen ungewöhnlichen Lebensstil: Ihr gesamtes Leben verbringen Nacktmulle unter der Erde. Sie kennen kaum Schmerz, erkranken nur äußerst selten an Krebs und werden für Nagetiere extrem alt – bis zu 37 Jahre. All das macht die nackten Tunnelbewohner zu besonders interessanten Tieren für die Wissenschaft.
Seit beinahe 20 Jahren erforscht Professor Gary Lewin am Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in der Helmholtz-Gemeinschaft (MDC) diese außergewöhnlichen Tiere. „Die Nacktmulle leben in straff organisierten Kolonien. Jedes Tier kennt seinen Rang und die damit verbundenen Aufgaben“, sagt Lewin. Gerade ist seiner Arbeitsgruppe „Molekulare Biologie der sensomotorischen Wahrnehmung“ gemeinsam mit Wissenschaftler*innen des Deutschen Krebsforschungszentrums (DKFZ), der Freien Universität Berlin und der Universität von Pretoria eine neue Entdeckung gelungen: Im Fachjournal „Open Biology“ schreiben die Forscher*innen, dass Nacktmulle mit höherem sozialen Rang eine größere Milz haben. Das Organ spielt eine wichtige Rolle im Immunsystem: Es ist an der Bildung, Reifung und Speicherung von Immunzellen beteiligt. „Das könnte bedeuten, dass ranghöhere Tiere eine bessere körpereigene Abwehr haben als Tiere, die unter ihnen stehen“, sagt Erstautorin Dr. Valérie Bégay aus Lewins Team.
Vergrößerte Milz ohne jegliche Krankheitszeichen
Weil die schrumpligen Würstchen auf vier Beinen so besonders sind, untersucht Dr. Valérie Bégay jeden einzelnen Nacktmull, der in einem Versuch zum Einsatz kommt. Dabei fiel ihr auf, dass bei einigen Tieren die Milz größer ist als bei anderen. Das machte sie stutzig. „Wir dachten zunächst, dass die Tiere mit der größeren Milz krank sind“, erzählt die Forscherin. Denn wenn der Körper gegen eine Entzündung oder Krankheit kämpft, vergrößert sich das Organ, weil dort viele Immunzellen gebildet und gespeichert werden. „Doch wir konnten nichts finden: weder Entzündungsmarker im Blut noch andere Hinweise auf eine Erkrankung. Hinter der vergrößerten Milz musste etwas anderes stecken.“
Dass die Größe der Milz vom Status des Tieres abhängt, fand Valérie Bégay mit Unterstützung von Dr. Alison Barker heraus. Die Wissenschaftlerin, die zuletzt die Dialekte der Mulle erforscht hat, kennt sich mit Experimenten für die Verhaltensforschung bestens aus. Um ihre Rangordnung zu bestimmen, lässt man zwei Nacktmulle in einer Röhre aufeinander zu laufen. „Das Tier mit dem höheren Rang wird dabei immer über das rangniedrigere Tier hinwegsteigen“, sagt Alison Barker, „es behält sozusagen die Oberhand.“
Ranghöhere Tiere kommen besser mit Krankheiten zurecht
So erkannten die Forscher*innen, dass es die höhergestellten Tiere sind, deren Milz vergrößert ist. Dann untersuchte Valérie Bégay die Organe auch auf molekularer Ebene. Mittels RNA-Sequenzierung und der Analyse von Gewebeproben klassifizierte sie die verschiedenen Immunzellen in der Milz. Dabei zeigte sich, dass in den vergrößerten Organen die Zahl der Makrophagen erhöht ist. Makrophagen sind so etwas wie die Abwehrsoldaten des Körpers. Sie beseitigen Krankheitserreger, indem sie sie umschließen und verdauen. Deshalb werden sie auch Fresszellen genannt. „Die vergrößerte Milz könnte die ranghöheren Tiere also in die Lage versetzen, Infektionen besser zu bekämpfen und mit Entzündungen oder Verletzungen leichter fertig zu werden“, erklärt Valérie Bégay.
Das stärkere Immunsystem bei höherstehenden Tieren ist kein Alleinstellungsmerkmal der Nacktmulle. Auch bei Makaken sind die Ranghöheren besser gegen Krankheiten gefeit. Allerdings ist bei den Affen nicht die Milz vergrößert, sondern das Immunsystem anders organisiert. „Dass es solche großen Unterschiede bei der Größe der Milz geben kann, ohne dass eine Krankheit vorliegt, hat uns wirklich überrascht“, sagt Gary Lewin. „Der Rang eines Nacktmulls hängt davon ab, wie er sich in der Gruppe verhält. Die Größe der Milz hängt wiederum mit dem Rang zusammen. Das würde letztlich bedeuten, dass das Verhalten direkt die physischen Eigenschaften des Immunsystems beeinflusst. Oder umgekehrt.“
Die Königin kennt keine Menopause
Die Forscher*innen vermuten außerdem, dass die Milz auch die Langlebigkeit der Tiere beeinflusst. Erfolgreiche Nacktmulle, also diejenigen, die sich am besten gegen die anderen durchsetzen, leben länger. Die Königin stirbt in der Regel nicht an ihrem Alter, sondern fällt meist einem Mord zum Opfer – nämlich dann, wenn ein anderes Weibchen männliche Anhänger um sich schart und die alte Königin aus dem Weg räumen lässt. „Bis zu ihrem letzten Tag ist die Königin fruchtbar“, sagt Gary Lewin. „Sie kennt keine Menopause – als würde ihr Organismus nicht altern.“ Das deutet zumindest darauf hin, dass ein starkes Immunsystem den Alterungsprozess verlangsamt. Für gewöhnlich bringen Säugetiere nicht bis an ihr Lebensende Nachkommen hervor, auf die fruchtbare folgt eine reproduktionsfreie Phase.
Den Wissenschaftler*innen stellen sich nun weitere Fragen. Etwa: Was ist zuerst da – die größere Milz oder der höhere Rang? Das ist bislang nicht geklärt. Klar ist nur, dass Nacktmulle nicht in ihren sozialen Status hineingeboren werden, sondern sich hocharbeiten. Ihre Triebfeder könnte das Verlangen nach Sex sein: Nur die Ranghöchsten – die Königin und zwei bis drei Paschas – dürfen sich vermehren. „Es könnte sich um einen Selektionsmechanismus handeln“, überlegt Gary Lewin. „Indem sich nur die Erfolgreichsten paaren, ist gewährleistet, dass die Tiere mit dem stärksten Immunsystem ihre Gene weitergeben.“
Auch für die Krebsforschung erhofft sich Gary Lewin neue Einblicke. Nacktmulle verfügen offenbar über ein sehr effizientes Krebsabwehrsystem. Ob die Milz daran beteiligt ist, müssen weitere Zellanalysen erst zeigen. „Da sind wir noch ganz am Anfang“, betont der MDC-Wissenschaftler.
Die Original-Publikation finden Sie hier:
Valérie Bégay et al (2022): „Immune competence and spleen size scale with colony status in the naked mole-rat“, in: Open Biology, DOI: https://doi.org/10.1098/rsob.210292
07.04.2022, Universität Regensburg
Warum Ameisenköniginnen nicht altern
Die Produktion von Nachkommen bringt Kosten für den eigenen Körper mit sich. Daher geht ein hoher Fortpflanzungserfolg in jungem Alter bei vielen Tierarten mit einer verkürzten Lebensdauer einher. Königinnen von staatenbildenden Insekten, also Ameisen, Bienen, Wespen und Termiten, sind hier eine Ausnahme: Sie leben sehr lange und sind gleichzeitig bis ans Ende ihrer Tage hochproduktiv, sie scheinen also nicht zu altern. Einen Teil des Rätsels, wie sie dies schaffen, wurde jetzt in der Publikation „Late-life fitness gains and reproductive death in Cardiocondyla obscurior ants“ gelöst, entstanden im Rahmen einer DFG-geförderten Forschergruppe (FOR2281).
Luisa María Jaimes Niño, Erstautorin und Doktorandin bei PD Dr. Jan Oettler am Institut für Zoologie an der Universität Regensburg, verfolgte die Produktivität und Lebensdauer von 99 Ameisenköniginnen der Art Cardiocondyla obscurior. Zusammen mit dem Forscherteam konnte sie zeigen, dass die Ameisen eine von anderen Tierarten abweichende Fortpflanzungsstrategie verfolgen. „Wir bezeichnen diese Strategie als ,Continuusparität‘, da sie sich durch durchgängige, lebenslange Reproduktion und einem Fitnessmaximum am Ende des Lebens in Form verstärkter Produktion von Geschlechtstieren (neue Königinnen, Männchen), auszeichnet“, erklärt Dr. Oettler. Die Königinnen erreichten ihren maximalen Fortpflanzungserfolg erst gegen Ende ihres Lebens, unabhängig davon, wieviel Nachkommen sie insgesamt produzierten und wie lange sie lebten. Natürliche Selektion auf die Fortpflanzungsfähigkeit wirkt also bis ans Ende des Lebens, was dazu führt, dass Königinnen von staatenbildenden Insekten keine Alterserscheinungen zeigen, obwohl sie hochproduktiv und langlebig sind.
Originalpublikation:
Luisa Maria Jaimes-Nino, Jürgen Heinze, Jan Oettler: Late-life fitness gains and reproductive death in Cardiocondyla obscurior ants. eLife 2022;11:e74695
DOI: https://doi.org/10.7554/eLife.74695
08.04.2022, Landesbund für Vogelschutz in Bayern (LBV) e. V.
Viva Familia – Verstärkung für Wally und Bavaria
Auch im zweiten Jahr des Auswilderungsprojekts von LBV und Nationalpark Berchtesgaden stammen die Bartgeier aus Spanien
Der bayerische Naturschutzverband LBV und der Nationalpark Berchtesgaden werden Anfang Juni erneut zwei in Andalusien geschlüpfte Bartgeier auswildern. Dem gemeinsamen Projekt wurden auch im zweiten Jahr wieder zwei spanische Jungvögel aus dem europäischen Bartgeier-Zuchtnetzwerk der Vulture Conservation Foundation (VCF) zugeteilt. LBV und Nationalpark können dabei auf viele Erfahrungen der ersten Geiersaison zurückgreifen, um auch den nächsten Vögeln einen optimalen Start in ihren zukünftigen Lebensraum in den Ostalpen zu ermöglichen. „Nachdem wir 2021 über 100 Jahre nach ihrer Ausrottung erstmals wieder Bartgeier in Deutschland ausgewildert haben, wird unser spektakuläres Artenschutzprojekt auch dieses Jahr durch zwei weitere spanische Jungvögel fortgesetzt“, freut sich LBV-Projektleiter und Bartgeierexperte Toni Wegscheider.
Die beiden ersten in Deutschland ausgewilderten Bartgeier bekommen dabei Familienverstärkung. „Wir freuen uns darüber, dass uns nach Wally und Bavaria nun erneut zwei jungen Bartgeier aus dem spanischen Zuchtzentrum Guadelentín in Andalusien zugewiesen wurden“, so Nationalparkdirektor Dr. Roland Baier. Es ist die bedeutendste Zuchtstation des Zuchtprogramms EEP in ganz Europa und dieses Jahr sind dort sieben Bartgeierküken erfolgreich geschlüpft. „Genauso gut hätten unsere Jungvögel dieses Jahr natürlich auch aus einem der 40 anderen europäischen Zoos und Zuchtzentren für Bartgeier wie etwa Wien, dem Schweizerischen Goldau oder dem Tiergarten Nürnberg stammen können“, ergänzt Roland Baier.
Das Geschlecht der beiden Bartgeierküken ist derzeit noch unbekannt und wird erst in einigen Wochen nach einer Genprobe feststehen, da es bei dieser Vogelart keine äußerlichen Merkmale gibt, durch die Männchen und Weibchen zweifelsfrei unterschieden werden können. Einige Details zur Verwandtschaft von Wally und Bavaria sind Dank der Zuchtpaare jedoch bereits jetzt bekannt: „Wir werden den kleinen Bruder oder die kleine Schwester von Wally, sowie einen Cousin oder eine Cousine von Bavaria erhalten. Auf die künftige Paarbildung und damit die Genetik der Tiere wird dies keinen negativen Einfluss haben, da sich die künftigen Paare aus Bartgeiern des gesamten Alpenraums zusammenfinden werden“, berichtet LBV-Experte Toni Wegscheider.
Noch heißen die beiden jungen Bartgeier lediglich nach ihren Zuchtnummern „BG1145“ und „BG1147“. „BG1145“ ist am 6. März geschlüpft und „BG1147“ ist das Küken der Bartgeiereltern Elías und Viola und hat am 9. März ebenfalls auf 1.300 Meter Höhe in Andalusien das Licht der Welt erblickt. Über das diesjährige Verfahren der Namensvergabe und eine mögliche Beteiligung der Öffentlichkeit werden LBV und Nationalpark in den kommenden Wochen informieren.
Auch der Tiergarten Nürnberg bleibt trotz des dort erneut ausbleibenden Bruterfolgs weiterhin ein wichtiger Projektpartner bei der Rückkehr des Bartgeiers nach Deutschland. „Wir freuen uns sehr darüber, dass wir erneut zwei junge spanische Bartgeier Anfang Juni für ein paar Tage in unserer Quarantäne aufnehmen und versorgen können, bevor sie zur Auswilderung in den Nationalpark Berchtesgaden gebracht werden“, berichtet Jörg Beckmann, stellvertretender Direktor und Biologischer Leiter des Tiergartens Nürnberg.
Mögliche Begegnungen mit Wally und Bavaria
Dass Wally und Bavaria bei einer möglichen Begegnung mit ihren Verwandten im Luftraum über dem Nationalpark diesen Sommer entspannt reagieren werden, ist aus langjährigen Verhaltensstudien bekannt. „Man könnte fast annehmen, dass besonders Bavaria sich auf ein bevorstehendes Familientreffen freut, immerhin ist sie genau jetzt zum ersten Mal seit Monaten wieder von ihren Erkundungsflügen in die Steiermark zurück an die Nationalparkgrenze gekommen, ganz in die Nähe der dort weitgehend sesshaften Wally“, schmunzelt LBV-Experte Toni Wegscheider. Die Flugrouten der beiden Bartgeier können im Internet jederzeit mitverfolgt werden.
In wenigen Monaten werden also zwei weitere Bartgeier den geringen Bestand dieser seltenen und faszinierenden Vogelart in den Ostalpen stützen. Im gemeinsamen Projekt von LBV und Nationalpark Berchtesgaden sollen bis etwa 2030 jährlich zwei bis drei Küken ausgewildert werden. „Dass wir bereits ein erfolgreiches erstes Projektjahr hinter uns haben und weiterhin auf die Erfahrungen von Experten aus der Schweiz und aus Österreich zurückgreifen können, schafft bei allen Beteiligten eine ebenso große Vorfreude wie bei der Premiere 2021“, so Nationalpark-Projektleiter Ulrich Brendel.
08.04.2022, Staatliches Museum für Naturkunde Stuttgart
Koboldmaki-Forschung: Ein „Zwerg auf dem Berg“- Klein, faszinierend und älter als gedacht!
Ein internationales Forscherteam zeigt durch erstmals durchgeführte genetische Studien, dass sich die Vorfahren des Zwergkoboldmakis Tarsius pumilus bereits vor ungefähr 10 Millionen Jahren vom Vorgänger der übrigen Arten abgespalten haben – lange vor der weiteren Aufspaltung der Gattung in die heute lebenden Koboldmakis des sulawesischen Tieflandregenwalds.
Koboldmakis, auch Tarsier genannt, sind kleine, nachtaktive Primaten. Sie leben im Unterholz südostasiatischer Regenwälder und ernähren sich hauptsächlich von Insekten. Von den kleinen Äffchen mit den großen Augen sind 14 Arten bekannt, 12 davon leben nur auf der Insel Sulawesi oder vorgelagerten Eilanden. Die kleinste und rätselhafteste Art ist Tarsius pumilus, auch Zwerg- oder Bergkoboldmaki genannt. Die weltweit ersten genetischen Analysen zu diesem Mini-Primaten zeigen nun, dass der „Zwerg auf dem Berg“ eine ca. 10 Millionen Jahre lange Geschichte eigenständiger Evolution hat. Seine Abstammungslinie hat sich somit mehrere Millionen Jahre vor der weiteren Diversifikation bzw. Aufspaltung der sulawesischen Koboldmakis abgespalten. Die gewonnenen Daten des internationalen Wissenschaftler*innen-Teams um den Koboldmaki-Experten Dr. Stefan Merker und die Genetikerin Dr. Laura Hagemann vom Naturkundemuseum Stuttgart liefern neue Hinweise zur Evolutionsgeschichte der Koboldmakis und zu der spektakulären Biogeographie des Malaiischen Archipels. Die Forschungsergebnisse wurden in der Fachzeitschrift „Biology Letters“ veröffentlicht.
Bisher wusste man nicht viel über Zwergtarsier. Der zunächst 1917 entdeckte Koboldmaki war 70 Jahre lang nur durch zwei Museumsexemplare bekannt. Erst 2008 gelang es den US-amerikanischen Forscherinnen Dr. Sharon Gursky und ihrer damaligen Doktorandin Nanda Grow sowie ihren indonesischen Kolleg*innen, lebendige Vertreter der Art zu lokalisieren. „Sein geheimes Leben in den Bergen Sulawesis, bisher weitestgehend verborgen vor den Augen von Wissenschaft und Öffentlichkeit, machen den Zwergkoboldmaki nicht nur zu einem der mysteriösesten Primaten der Erde. Auch zu seiner Evolutionsgeschichte gab es bisher mehr Spekulation als Wissen. Umso mehr freut es mich, dass wir durch unsere genetischen Untersuchungen neue Erkenntnisse zu Tarsius pumilus liefern können“, sagt Dr. Laura Hagemann, die Erstautorin der Studie. Unter den sowieso faszinierenden Kobolden Sulawesis stellt Tarsius pumilus in vielerlei Hinsicht eine Ausnahme dar. Im Gegensatz zu allen anderen Koboldmakis, die im Tiefland vorkommen, lebt er ausschließlich in Bergwäldern, mehr als 1800 Meter über dem Meeresspiegel. Des Weiteren ist er deutlich kleiner als die anderen Vertreter seiner Gattung und passt mit einer Körpergröße von nicht einmal 10 Zentimetern leicht in die Handfläche eines Menschen. Weitere Eigenheiten sind unter anderem ein dichteres Fell, ausgeprägte Finger- und Zehennägel sowie das Fehlen der bei Sulawesi-Koboldmakis sonst so charakteristischen Duettgesänge – zumindest in einem für Menschen wahrnehmbaren Frequenzbereich.
„Die kleinen Affen begleiten mich nun schon mein halbes Leben, und immer wieder finden wir neue, faszinierende Aspekte zur Evolution oder Ökologie der Tiere“, sagt Dr. Stefan Merker, der seit 1998 eine erfolgreiche Kooperation mit dem Primatenforschungszentrum PSSP in Bogor, Indonesien, aufrecht erhält und mehrere Jahre auf Sulawesi „unter Tarsiern“ zugebracht hat. Rekonstruierte paläogeographische Karten zeigen, dass der wahrscheinliche Zeitpunkt der stammesgeschichtlichen Abspaltung der Zwergkoboldmakis mit dem Anstieg des Meeresspiegels zwischen dem westlichen und dem östlichen Teil der Insel übereinstimmt. Ein mögliches Szenario ist, dass der Vorläufer von Tarsius pumilus durch eine schwer überwindbare Wasserstraße vom Vorläufer der Tieflandtarsier getrennt wurde. „Interessanterweise gab es zu diesem Zeitpunkt wohl noch keine permanenten Berge auf dem Westteil der Insel. Dies legt nahe, dass die Verdrängung in die Berge zumindest nicht der zugrundeliegende Mechanismus für die Artbildung gewesen ist“, sagt Dr. Laura Hagemann. Eine umfassendere Probensammlung ist nötig, um das aktuelle Verbreitungsgebiet des Zwergkoboldmakis abzuschätzen und mögliche Verbreitungsmuster näher zu beleuchten. Hierfür planen die beiden Forschenden eine erneute Reise nach Sulawesi.
Originalpublikation:
Laura Hagemann, Nanda Grow, Yvonne E.-M. B. Bohr, Dyah Perwitasari-Farajallah, Yulius Duma, Sharon L. Gursky and Stefan Merker: “Small, odd and old: The mysterious Tarsius pumilus is the most basal Sulawesi tarsier”.
https://doi.org/10.1098/rsbl.2021.0642