Neues aus Wissenschaft und Naturschutz

24.09.2018, Max-Planck-Institut für chemische Ökologie
Wüstenameisen haben ein erstaunliches Duftgedächtnis
Wüstenameisen sind in der Lage, viele verschiedene Futterdüfte schnell zu lernen und sie ihr ganzes Leben lang zu behalten. Dabei unterscheidet sich das Gedächtnis für Futterdüfte grundlegend von der Erinnerung an Nestdüfte: Während Futterdüfte schon nach einmaligem Kontakt gelernt und nicht wieder vergessen werden, sind für das Erlernen des Nestduftes mehrere Versuche notwendig. Außerdem vergessen die Ameisen einen mit dem Nest assoziierten Duft sehr schnell wieder, wenn er am Nest nicht mehr vorkommt. Die Verarbeitung von Futter- und Nestdüften scheint also im Riechhirn der Insekten unterschiedlich zu erfolgen.
Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für chemische Ökologie haben in Verhaltensexperimenten zeigen können, dass die Wüstenameisen in der Lage sind, viele verschiedene Futterdüfte schnell zu lernen und sie ihr ganzes Leben lang zu behalten. Dabei unterscheidet sich das Gedächtnis für Futterdüfte grundlegend von der Erinnerung an Nestdüfte: Während Futterdüfte schon nach einmaligem Kontakt gelernt und nicht wieder vergessen werden, sind für das Erlernen des Nestduftes mehrere Versuche notwendig. Außerdem vergessen die Ameisen einen mit dem Nest assoziierten Duft sehr schnell wieder, wenn er am Nest nicht mehr vorkommt. Die Verarbeitung von Futter- und Nestdüften scheint also im Riechhirn der Insekten unterschiedlich zu erfolgen. (Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America, DOI: 10.1073/pnas.1809433115, September 2018).
Wüstenameisen der Art Cataglyphis fortis haben erstaunliche Fähigkeiten, in der nordafrikanischen Wüste Futter aufzuspüren und wieder in ihr Nest zurückzufinden. Ihr Geruchssinn spielt dabei eine zentrale Rolle. Sie sind nicht nur Meister der Orientierung, sondern auch Gedächtniskünstler. Der Verhaltensforscher Markus Knaden aus dem Max-Planck-Institut für chemische Ökologie beschäftigt sich schon lange mit den Orientierungs-leistungen dieser Ameisenart. Bislang interessierte er sich vor allem dafür, wie die kleinen Insekten in den riesigen Salzpfannen der tunesischen Sahara nach ihrer weitläufigen Suche nach Essbarem wieder in ihr Nest zurückfinden. Der Nesteingang ist schließlich nur ein unscheinbares Loch im Wüstenboden. Er und sein Team fanden heraus, dass dabei unter anderem der Nestgeruch eine entscheidende Rolle spielt. Bei ihren Experimenten war den Forschern aufgefallen, dass die Ameisen Futterdüfte viel schneller lernten als Nestdüfte. „Unsere zentrale Fragestellung war, ob es verschiedene Gedächtnisarten für Futter und Nestsuche gibt. Die Idee zum Vergleich der beiden Lernvorgänge kam uns, als wir beobachteten, dass Futterdüfte so unglaublich schnell gelernt werden im Vergleich zu Nestdüften, die etwas länger trainiert werden müssen,“ erklärt Erstautor Roman Huber.
Die Wissenschaftler entwickelten ein einfaches Experiment, in dem sie die Reaktion der Ameisen auf mehr als 30 verschiedene Futterdüfte testen konnten. Sie hielten das Ende eines Stabs, das mit einem Duft versehen war etwa zwei Meter von einer Futter suchenden Ameise so auf den Boden, dass der Wind den Duft zur Ameise wehte. Die meisten Düfte in diesem Test wurden von den Ameisen erst einmal ignoriert und riefen keinerlei Reaktion hervor. „Wenn wir den Ameisen jedoch auch nur einmal einen Futterkrümel anboten, der nach einem dieser Düfte roch, ließen sie sich danach fast immer von dem duftenden Stab anlocken“, erläutert Markus Knaden. „Wir waren erstaunt, wie schnell die Ameisen die Futterdüfte gelernt und wie lange sie sie behalten haben. Selbst Ameisen, die schon vor mehr als 25 Tagen den Duft gelernt hatten, konnten sich noch immer an den Duft erinnern.“ In der Natur fallen die meisten Ameisen innerhalb der ersten sechs Lebenstage einem Fressfeind zum Opfer. Daher ist es besonders erstaunlich, dass sich Ameisen, die mehr als das Vierfache des Durchschnittsalters erreicht hatten, immer noch an das Gelernte erinnern konnten.
Hingegen wurden Düfte, die auf den Nesteingang hinwiesen, nicht so schnell gelernt. Wenn die Wissenschaftler einen Duft an den Nesteingang tropften, brauchten die Ameisen fünf bis 10 Trainingsläufe, um den Duft mit dem Nesteingang in Verbindung zu bringen. Erst dann konzentrierten sie ihre Nestsuche stark auf diesen Duft. Wird der Duft entfernt und die Ameisen kehren nur wenige Male in ihr Nest ohne diesen Duft zurück, reagieren sie hinterher auf den ehemaligen Nestduft überhaupt nicht mehr. Düfte werden offensichtlich ganz unterschiedlich im Gehirn der Ameisen verarbeitet, je nachdem ob es sich um Futter- oder Nestdüfte handelt.
Markus Knaden hat dafür eine Erklärung: „Die zwei unterschiedlichen Duftgedächtnisse sind sicherlich sinnvoll. Während ihres Lebens kommt eine Ameise mit vielen verschiedenen Futterstücken in Kontakt. Da sie das Futter hauptsächlich über den Geruchssinn findet, lohnt es sich, den Duft von gutem Futter zu lernen, um später gezielt danach zu suchen. Das Nest sollte aber im Laufe eines kurzen Ameisenlebens immer gleich riechen. Um das Nest über den Geruchssinn zu lokalisieren, wird keine besonders große Gedächtnisleistung benötigt. Es reicht, wenn die Ameise weiß, wie das Nest roch, als sie zur Nahrungssuche aufgebrochen ist, um es hinterher wieder zu finden. Es wird selten vorkommen, dass das Nest während der Nahrungssuche plötzlich den Geruch ändert“.
Die Forscher wollen die Ergebnisse ihrer Verhaltensexperimente im natürlichen Lebensraum der Wüstenameisen jetzt im Labor untermauern. Ihr Ziel ist es, mit Hilfe von bildgebenden Verfahren, wie dem Calcium Imaging, die verschiedenen Gedächtnisse im Ameisenhirn zu lokalisieren und die Gehirnaktivitäten bei Futter und Nestsuche zu vergleichen. „Wir verfügen schon über ähnliche Techniken bei Fliegen und Motten, aber es wäre toll, diese auch für Ameisen zu etablieren, weil sie ein besonders komplexes Verhalten haben“, sagt Markus Knaden.
Originalpublikation:
Huber, R., Knaden, M. (2018). Desert ants possess distinct memories for food and nest odors. Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America, DOI: 10.1073/pnas.1809433115
https://doi.org/10.1073/pnas.1809433115

26.09.2018, Museum für Naturkunde – Leibniz-Institut für Evolutions- und Biodiversitätsforschung
Dinosaurier und andere Fossilien im Computertomografen
Das Museum für Naturkunde Berlin und YXLON International gehen eine einmalige Industriekooperation ein mit dem Ziel, die gängige 3D-Röntgentechnik an die Problematiken der Erfassung naturkundlicher Sammlungen anzupassen. Der bereitgestellte Computertomograf kann größere Objekte als bisher möglich – z.B. komplette Dinosaurierwirbel – scannen. Besucherinnen und Besucher können an dem Prozess teilnehmen und täglich mit den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern in Dialog treten. Damit erfolgt ein Transfer von Wissenschaft in die Gesellschaft.
Die Forschung und die Sammlungen sind neben der Wissensvermittlung die zentralen Säulen des Museum für Naturkunde Berlin als ein Forschungsmuseum der Leibniz-Gemeinschaft. Die Sammlungen sind ein einzigartiges Kulturgut und eine herausragende, international genutzte Forschungsinfrastruktur. Sie umfassen mehr als 30 Millionen Objekte aus Zoologie, Paläontologie, Geologie und Mineralogie und sind von höchster wissenschaftlicher und wissenschaftshistorischer Bedeutung.
Langfristige ökologische Veränderungen und großräumige Prozesse, wie Artenverlust und Klimawandel, lassen sich nur durch den Zugriff auf Objekte aus der biologischen und geologischen Vergangenheit in den Sammlungen erforschen. Hier bietet die Computertomografie der Wissenschaft ganz neue Möglichkeiten, denn es werden detaillierte, dreidimensionale Einblicke in kleinste Strukturen möglich, ohne die Objekte zu zerstören. Darüber hinaus können mit dieser Technik seltene und wertvolle Funde digital schnell archiviert und der Öffentlichkeit weltweit zur Verfügung gestellt werden. Durch die sichere und langfristige Speicherung, Digitalisierung und Bewahrung der physischen Belege und Informationen werden zahlreiche Daten als Wissensgrundlage für die vertiefende Forschung sowie Wegbereiter gesellschaftlicher Veränderungsprozesse bereitgestellt.
Um die Forschungsinfrastruktur des Museum für Naturkunde Berlins auszubauen, gehen das Museum und YXLON International eine vorerst halbjährige Kooperation ein. Ziel der Kooperation ist die gemeinsame Weiterentwicklung von gängigen Analyseverfahren und Arbeitsabläufen der 3D-Röntgentechnik zur Anpassung an die Problematiken der Erfassung naturkundlicher Sammlungen in der Einzelobjektdigitalisierung und deren multimedialer Ergebnispräsentation. YXLON stellt dafür als Leihgabe einen hochleistungsfähigen Computertomografen für Forschungszwecke zur Verfügung (YXLON FF35 CT Doppelröhrensystem). Das bereitgestellte Gerät ermöglicht es wesentlich größere Objekte als bisher, wie z.B. Tierschädel, als Ganzes zu untersuchen.
Für die Testphase des Gerätes werden fünf Teilbereiche der Kulturgutsammlungen des MfN im Fokus der Kooperation stehen: (1) Schädel- und Körperskelette der Säugetiersammlung; (2) Fossilmaterial aus unterschiedlichen Gesteinsschichten mit Einschlüssen und diversesten Konservierungstechniken; (3) Bohrproben mit Mineralpartikeln; (4) kontrastierte Reptilien und Amphibien; (5) genadelte Insekten.
Besucherinnen und Besucher können sich täglich zu den Öffnungszeiten über die Projekte mittels eines multimedialen Tisches informieren und die Anlage besichtigen. Dienstag-Freitag von 13.00 bis16.00 Uhr (ab 4.10.18) können die Besucherinnen und Besucher live dabei sein, wenn Objekte gescannt werden und gegebenenfalls Fragen an die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler stellen.
YXLON International entwickelt und produziert digitale Radioskopie- und Computertomografie-Systeme für eine große Bandbreite an industriellen Anwendungen in den unterschiedlichsten Branchen. Ob in der Luft- und Raumfahrt-, der Automobil- oder der Elektronikindustrie, Yxlons Kunden gehören zu den größten Herstellern der Welt. Aber auch technische Lehranstalten und wissenschaftliche Institutionen vertrauen auf die Qualität der Produkte des Hamburger Unternehmens. Ob manuell, semi- oder vollautomatisch betrieben, die Prüf- und Messsysteme sind ideal für den Einsatz in Forschung & Entwicklung und können in jeden Produktionsprozess integriert werden.
Die Wurzeln der Firma gehen bis zur Entdeckung der X-Strahlen durch Wilhelm Conrad Röntgen im Jahre 1895 und den Bau der ersten Röntgenröhre durch Carl Heinrich Florenz Müller 1896 in Hamburg zurück. Yxlon wurde 1997 als direkter Nachfolger von „Röntgenmüller“ und Philips gegründet und gehört seit 2007 zur Schweizer Comet Gruppe.

26.09.2018, Universität Osnabrück
Insektenrückgang: Bundesweites Monitoring soll Antworten liefern – Neues Forschungsprojekt
Noch sind viele Fragen zum Insektenrückgang in Deutschland offen: In welchem Umfang sind Regionen, Lebensräume und Artengruppen betroffen? Welche Ursachen liegen den mittlerweile eindeutig nachgewiesenen Trends zugrunde und welche Schutzstrategien sind erfolgreich? Ein jetzt vom Bundesamt für Naturschutz (BfN) bewilligtes Vorhaben an der Universität Osnabrück soll ein bundesweit einheitliches Verfahren entwickeln, das künftig Antworten liefert. Das Vorhaben wird vom BfN mit Mitteln des Bundesumweltministeriums gefördert.
In dem neuen Forschungsvorhaben entwickeln Ökologen und Ökologinnen der Universität Osnabrück die konzeptionellen Grundlagen für das geplante bundesweite Insektenmonitoring. Dafür werden zunächst die Anforderungen an das Monitoring analysiert, die Eignung einzelner Insektengruppen überprüft sowie geeignete Erfassungsmethoden ausgewählt.
„Um die ambitionierten Ziele des Forschungsprojektes zu erreichen, werden wir die Aktivitäten von Bund und Ländern miteinander verknüpfen und im Rahmen eines standardisierten Methodenleitfadens ‚Insektenmonitoring‘ eng mit den Fachbehörden zusammenarbeiten“, sagt der Projektleiter Prof. Thomas Fartmann von der Universität Osnabrück und ergänzt: „Es ist wichtig ein Konzept zu entwickeln, das die ehrenamtlichen Aktivitäten einbezieht und gleichzeitig den Rahmen für die Arbeiten absteckt, die von Hauptamtlichen übernommen werden müssen.“ Gerade die Fachverbände und entomologischen Vereine stellen mit ihrer Expertise und langfristigem Engagement schon bei der Konzeptentwicklung eine entscheidende Grundlage für das Monitoring dar.
Das Insektenmonitoring bildet einen weiteren wichtigen Baustein auf dem Weg zu einem umfassenden bundesweiten Biodiversitätsmonitoring. Über die verschiedenen Monitoringprogramme hinweg ergeben sich daraus Synergien für eine vertiefte Auswertung und Ursachenanalyse. So können wichtige Erkenntnisse über Veränderungen der biologischen Vielfalt, deren Ursachen und über die Wirksamkeit von Schutzmaßnahmen erzielt werden.
Von den ca. 48.000 Tierarten in Deutschland zählen mehr als 33.000 Arten – rund 70 Prozent – zu den Insekten. Gerade ihre Artenvielfalt sowie die erheblichen jährlichen Bestandsschwankungen und die großen Herausforderungen bei der Erfassung vieler Gruppen erfordern einen wissenschaftlich tragfähigen Ansatz für den schrittweisen Aufbau eines Insektenmonitorings, das auf die wichtigsten Fragestellungen des Naturschutzes fokussiert ist.
Insekten bilden die Grundlage eines komplexen Nahrungsnetzes und dienen beispielsweise Vögeln, Reptilien, Amphibien oder Säugetieren als wichtige Nahrungsquelle. Blütenbestäubende Insekten erhalten die Biodiversität und sichern wesentliche Anteile unserer Welternährung. Am und im Boden sind Insekten an der Zersetzung von Pflanzen und Aas beteiligt, wodurch sie den Nährstoffkreislauf und die Humusbildung fördern.
Das BfN wurde vor diesem Hintergrund im Rahmen eines Beschlusses der Umweltministerkonferenz mit der Erarbeitung eines einheitlichen Methodenleitfadens zum bundesweiten Insektenmonitoring beauftragt. Das geplante Insektenmonitoring soll auch das „Aktionsprogramm Insektenschutz“ der Bundesregierung unterstützen, mit dem die Bundesregierung die Lebensbedingungen für Insekten und die biologische Vielfalt in Deutschland verbessern will, um dem Insektensterben entgegenzuwirken.

26.09.2018, Senckenberg Forschungsinstitut und Naturmuseen
Urmenschen mit Fingerspitzengefühl
Senckenberg-Wissenschaftlerin Katerina Harvati widerlegt gemeinsam mit ihrem Team der Universität Tübingen und in enger Zusammenarbeit mit dem Naturhistorischen Museum Basel die bisherige Annahme, dass sich Neandertaler bei dem Einsatz ihrer Hände hauptsächlich auf ihre Kraft verlassen hätten. In einer heute im Fachjournal „Science Advances“ veröffentlichten Studie zeigen sie, dass Neandertaler ihren Alltag fast ausschließlich mit Präzisionsgriffen bewältigten.
Die vor 400.000 bis 40.000 Jahre lebenden Neandertaler (Homo neanderthalensis) werden häufig als körperlich starke, aber eher unbeholfene Frühmenschen porträtiert, die bei der Herstellung und beim Hantieren mit Werkzeugen überwiegend mit Kraft agierten. Im Gegensatz dazu nahm man an, dass das fortschrittlichere Verhaltensrepertoire des modernen Menschen sich in der vermehrten Anwendung des Präzisionsgriffes widerspiegelt.
„Die robuste Anatomie ihrer Handknochen hat bisher zur Annahme geführt, dass Neandertaler ihre täglichen Aufgaben hauptsächlich mit dem Einsatz von Stärke erledigten, auch wenn der archäologische Fundbestand zunehmend auf fortschrittliches kulturelles Verhalten hinweist“, erklärt Prof. Dr. Katerina Harvati vom Senckenberg Centre for Human Evolution and Palaeoenvironment an der Universität Tübingen.
Das Team um Harvati hat nun mit einer innovativen Methode gezeigt, dass die vermeintlich groben Verwandten des Menschen ihren Alltag entgegen des bisherigen Kenntnisstandes vielmehr fast ausschließlich mit „Fingerspitzengefühl“ meisterten.
„Wir haben in unserer Studie erstmalig erfolgreich die erhaltenen anatomischen Hinweise am Skelettmaterial fossiler Menschenfunde direkt mit den zugehörigen archäologischen Funden verknüpft, um das Verhalten ausgestorbener Frühmenschenformen vollständiger zu verstehen“, erläutert Dr. Alexandros-Fotios Karakostis, Erstautor der Studie.
Die Untersuchungen zeigen, dass Neandertaler bei ihren händisch ausgeführten Tätigkeiten systematisch „Präzisionsgriffe“ einsetzten. Im Gegensatz zum „Kraftgriff“, bei dem die gesamte Handinnenfläche einschließlich aller Finger und des Daumens zugreift, erfolgt beim „Präzisionsgriff“ die Haltung und Führung von Gegenständen im Wesentlichen durch die Fingerkuppen von Daumen und Zeigefinger.
„Da Muskeln und Sehnen nicht fossil überliefert werden, haben wir die Abdrücke der ‚Enthesen’ oder ‚Muskelansatzmarken‘, die Stellen an denen Muskeln und Sehnen mit dem Knochen verbunden sind, untersucht“, erläutert Harvati. Dabei setzte das Tübinger und Baseler Team eine neue Methode ein, bei der nicht einzelne Muskelansatzmarken, sondern ganze Gruppen von Muskelansatzmarken dreidimensional vermessen und analysiert werden.
Um die Ergebnisse an den untersuchten Neandertaler-Handknochen zu überprüfen, wurden diese mit Stichproben von modernen Menschen aus der „Basel Spitalfriedhof“-Sammlung des Naturhistorischen Museums Basel verglichen. „Diese einmalige Sammlung aus dem 19. Jahrhundert bietet uns identifizierte Skelette mit Informationen zu den Lebensumständen und Berufen der Verstorbenen“, erläutert Dr. Gerhard Hotz vom Naturhistorischen Museum Basel und fährt fort: „Wenn wir nun beispielsweise die Hand eines Schmiedes untersuchen, können wir an den Muskelansatzstellen zeigen, dass dieser in seinem Alltag häufig ‚Kraftgriffe’ verwendet hat.“
Keines der untersuchten Neandertaler-Handskelette wies Belege für den dauerhaften Einsatz von Kraftgriffen auf. „Wir lehnen daher die gängige Ansicht des tollpatschigen, kraftvollen Neandertalers ab. Wie moderne Menschen waren Neandertaler kompetente Werkzeugmacher und -nutzer, die bei ihren täglichen Aktivitäten überwiegend präzise Hand- und Fingerbewegungen vollführten“, fasst Harvati zusammen. Im Gegensatz dazu weisen die Handknochen des frühen Homo sapiens sowohl Spuren der systematischen Anwendung von Präzisions- als auch Kraftgriffen auf und untermauern die Hypothese, dass sich die Arbeitsteilung unserer Vorfahren zum ersten Mal im Jungpaläolithikum intensivierte.
Die Natur mit ihrer unendlichen Vielfalt an Lebensformen zu erforschen und zu verstehen, um sie als Lebensgrundlage für zukünftige Generationen erhalten und nachhaltig nutzen zu können – dafür arbeitet die Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung seit nunmehr 200 Jahren. Diese integrative „Geobiodiversitätsforschung“ sowie die Vermittlung von Forschung und Wissenschaft sind die Aufgaben Senckenbergs. Drei Naturmuseen in Frankfurt, Görlitz und Dresden zeigen die Vielfalt des Lebens und die Entwicklung der Erde über Jahrmillionen. Die Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung ist ein Mitglied der Leibniz-Gemeinschaft. Das Senckenberg Naturmuseum in Frankfurt am Main wird von der Stadt Frankfurt am Main sowie vielen weiteren Partnern gefördert. Mehr Informationen unter www.senckenberg.de.
Originalpublikation:
F. A. Karakostis, G. Hotz, V. Tourloukis, K. Harvati (2018): Evidence for precision grasping in Neanderthal daily activities. Science Advances.

27.09.2018, IMP – Forschungsinstitut für Molekulare Pathologie GmbH
Nachwachsende Gliedmaßen von Salamandern: Verbindung zu Säugetieren
Welche Zellen es Salamandern ermöglichen, dass ihnen verloren gegangene Gliedmaßen wieder nachwachsen, wurde in Wissenschaftskreisen seit langem debattiert. Indem sie nun Position und Verhalten von Zellen nachverfolgten und einzelne Zellen molekular charakterisierten, konnte ein internationales Forscherteam jetzt zeigen, dass Bindegewebszellen stammzellartige Eigenschaften entwickeln und der Regeneration von Beinen zugrunde liegen. Die Ergebnisse wurden in der Fachzeitschrift Science veröffentlicht.
Unter allen vierbeinigen Tieren ist die Fähigkeit von Salamandern einzigartig, verloren gegangene Gliedmaßen sogar im Erwachsenenalter zu ersetzen. Das hat einige Salamander-Arten, wie zum Beispiel den mexikanischen Axolotl (Ambystoma mexicanum), zu beliebten Modellorganismen für die Erforschung regenerativer Fähigkeiten gemacht. Wenn ein Axolotl Gliedmaßen verliert, kommt es zur Anhäufung von Zellen in der Nähe des Stumpfes. Es bildet sich ein Gewebe, ein so genanntes Blastem. Dieses Blastem kann ein voll funktionsfähiges Bein nachwachsen lassen, welches aus vielen verschiedenen Geweben und Zelltypen wie Muskeln, Neuronen oder Bindegewebe besteht. Bis jetzt war unklar, wie ausgereiftes Gewebe Blastem-Zellen produzieren kann. Eine Studie, die in der Fachzeitschrift Science veröffentlicht wurde, untersuchte Bindegewebszellen genauer, um dieses Problem zu beleuchten.
Es gab zwei mögliche Modelle zur Bildung eines Blastems: entweder verweilen die Stammzellen ruhend im Bindegewebe und warten darauf, dass sie benötigt werden; oder ausgereifte Bindegewebszellen reagieren auf den Verlust von Gliedmaßen durch „Entdifferenzierung“ in Extremitäten-Vorläuferzellen, ähnlich denen in einem Embryo. Bisher war es aufgrund der Vielzahl von Geweben, die in Gliedmaßen existieren, nicht möglich, eine Blastem-Vorläuferzelle zu isolieren und ihre Weiterentwicklung und -differenzierung in einem erwachsenen Axolotl nachzuverfolgen. Ein internationales Forscherteam aus Wien, Leipzig und Dresden hat diese Hürde nun genommen.
Die Wissenschaftler erstellten Stämme genetisch markierter Axolotl, die molekulare Markierungen in Bindegewebszellen enthielten. Sie verwendeten auch Einzelzell-RNA-Sequenzierung, um die Aktivität verschiedener Gene in spezifischen Zellen zu analysieren. Zusammen konnten die beiden Ansätze Ursprung und Entwicklung von Blastem-Vorläuferzellen nachverfolgen und ihre molekularen Profile im Verlauf der Regeneration von Extremitäten charakterisieren.
Eine besondere Herausforderung war die Schaffung der transgenen Axolotl-Linien, die einzelne Gewebetypen molekular markieren. Die Transgenese in Axolotls ist zeitaufwendig, da es ein Jahr dauert, bis ein Axolotl-Embryo das Erwachsenenalter erreicht und sich fortpflanzen kann. Die Studien wurden am Forschungsinstitut für Molekulare Pathologie (IMP) in Wien, am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie (MPI-EVA) in Leipzig und am Zentrum für Regenerative Therapien in Dresden (CRTD) durchgeführt.
Die Forschenden zeigten, dass Blastem-Vorläuferzellen sich aus ausgereiften Fibroblasten entwickeln. Wenn Gliedmaßen verloren gehen, dann „entdifferenzieren“ sich diese ausgereiften Zellen in Bindegewebs-Vorläuferzellen, die den Zellen ähnlich sind, die man in embryonalen Gliedmaßenknospen findet. Die Studien konnten keinen Hinweis auf das Vorhandensein bereits existierender Vorläuferzellen finden, von denen einige Wissenschaftler angenommen hatten, dass sie der Grund für die herausragende Begabung des Axolotls sind, Gliedmaßen und Organe nachwachsen zu lassen.
Die Ergebnisse sind bahnbrechend, nicht nur, weil sie nun eine lange Debatte in der Entwicklungsbiologie auflösen, sondern auch weil sie für das Verständnis der Regeneration bei Säugetieren von großer Bedeutung sind. Auch bei diesen reagieren Fibroblasten auf Verletzungen durch Differenzierung – sie verwandeln sich in Myofibroblasten, die dann Narben bilden. Was genau unterscheidet Axolotl-Fibroblasten, das sie dazu befähigt, Stammzelleigenschaften zu entwickeln und komplexe Körperteile zu ersetzen? Die Suche nach der Antwort auf diese Frage wird das nächste Kapitel auf dem wissenschaftlichen Weg zu einem besseren Verständnis regenerativer Fähigkeiten einläuten.
Zitate:
Prayag Murawala, Postdoktorand im Labor von Elly Tanaka am IMP:
„Als wir versuchten, die Entwicklung von Zellen in sich regenerierenden Gliedmaßen zu analysieren, war es so, als würden wir den Inhalt einer Obstschale zu Saft verarbeiten ohne zu wissen, welche Arten von Obst die Schale enthält,“ sagt Prayag Murawala vom Forschungsinstitut für Molekulare Pathologie (IMP), einer der Erstautoren der Studie. „Doch jetzt können wir die Äpfel herauspicken und daraus Apfelsaft machen, oder wir können aus der Obstschale nur die Kirschen auswählen, um daraus Kirschsaft machen. Mit dieser neuen Auflösungsebene zeigen wir, dass es keine „magische Zelle“ gibt, die Axolotls haben, Säugetiere aber nicht. Beide sind im Falle einer Verletzung auf Fibroblasten angewiesen, aber während die einen Organe nachwachsen lassen können, bilden andere fibrotische Narben.“
Tobias Gerber, Doktorand im Labor von Barbara Treutlein am MPI für evolutionäre Anthropologie:
„Die enorme Regenerationsfähigkeit des Axolotls hat mich schon immer erstaunt, und es war toll, nun gemeinsam mit dem Tanaka-Labor diesen faszinierenden Prozess zu untersuchen“, sagt Erstautor Tobias Gerber vom MPI für evolutionäre Anthropologie in Leipzig. „Mithilfe einer neuen Methode, mit der wir die Genexpression in Tausenden einzelnen Zellen messen können, haben wir untersucht, wie einzelne Axolotl-Zellen ihr Genom nutzen, um einen Arm zu regenerieren. Wir haben herausgefunden, dass der Axolotl eine ausgereifte Zelle in eine embryonal-ähnliche Vorläuferzelle umwandeln und den embryonalen Entwicklungsprozess wiederholen kann, um einen neuen Arm wachsen zu lassen.“
Dunja Knapp, Postdoktorandin am DFG-Center for Regenerative Therapies Dresden (CRTD):
„Als wir mit dieser Arbeit begannen, war unklar, ob in ausgereiften, unverletzten Gliedmaßen blastemähnliche Zellen existieren, die sozusagen darauf warten, im Falle einer Verletzung aktiviert zu werden. Jetzt haben wir sorgfältig Tausende von Zellen in unverletzten Gliedmaßen untersucht und keine solche Zelle gefunden. Das deutet darauf hin, dass eine Verletzung die Umprogrammierung ausgereifter Zellen in den Gliedmaßen stimuliert. Jetzt wird es wichtig sein herauszufinden, ob eine Verletzung in ausgereiften Säugetierzellen ähnliche Veränderungen hervorrufen kann.“
Originalpublikation:
Gerber, T., Murawala, P., Knapp, D., Masselink, W., Schuerz, M., Hermann, S., Gac-Santel, M., Nowoshilow, S., Kagejama, J., Khattak, S., Currie, J., Camp, J. G., Tanaka, E. M., Treutlein, B. Single-cell transcriptomics uncovers convergence of cell identities during axolotl limb regeneration. Science, 27 September 2018.

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