Neues aus Wissenschaft und Naturschutz

02.11.2020, Deutsche Wildtier Stiftung
Heiliger Hubertus hilf dem Hirsch im Ländle!
Deutsche Wildtier Stiftung: Warum der Rothirsch im 21. Jahrhundert Politiker mehr als Wolf und Jäger fürchten muss
Im tiefsten Mittelalter verfolgt ein Adeliger namens Hubertus Pfalzgraf von Burgund – er soll 655 in Toulouse geboren sein – mit Pfeil und Bogen in wilder Hatz einen Rothirsch. So die Legende. Plötzlich bleibt das Tier stehen, dreht sich zu Hubertus um und blickt ihm ins Angesicht. Als der Jäger schießen will, erstrahlt ein Kreuz zwischen den Geweihstangen. Das Tier fragt Hubertus. „Warum verfolgst du mich?“ Aus dem wilden Jäger wird ein Heiliger und Schutzpatron der Jäger und Wildtiere, der am 3. November, am Hubertustag, gefeiert wird.
Heute muss der Hirsch sich nicht vor „Pfalzgrafen“ fürchten, sondern vor den Politikern, die im Landtag von Baden-Württemberg und anderen Bundesländern gegen ihn schießen – und das, obwohl „das Volk“ in Umfragen klar Position für den Hirsch bezogen hat. Mit Petitionen, Plakatkampagnen und Post an die Politiker in Baden-Württemberg steht die Deutsche Wildtier Stiftung dem größten Säugetier Deutschlands zur Seite. Doch der Hirsch hat bei der Landesregierung keine Lobby.
Dabei geht es nur um ein bisschen mehr Freiheit und etwas mehr Lebensraum. In Baden-Württemberg darf der Rothirsch auf 96% der Landesfläche nicht leben – dort muss er tot geschossen werden. Und so soll es im Namen der Politik auch bleiben. Am 30. November 2020 läuft die bestehende Rotwildrichtlinie aus, aber allen weltlichen Bemühungen zum Trotz gesteht auch der neue Richtlinienentwurf dem Hirsch nicht mehr Lebensraum zu. Dabei antworteten 68 % der vom Meinungsforschungsinstitut TNS Emnid Befragten schon vor einem Jahr auf die Frage: „Sollte der Rothirsch in Baden-Württemberg mehr Lebensraum zur Verfügung haben?“ mit einem eindeutigen „Ja“! Doch mehr Platz für den Rothirsch? Fehlanzeige!
„Die Deutsche Wildtier Stiftung hat eine Petition im Landtag eingereicht und bereits 42.000 Unterschriften gesammelt, um die Politiker umzustimmen“, sagt Dr. Andreas Kinser von der Deutschen Wildtier Stiftung. „Aber unsere ´Post vom Hirsch` an alle Landtagsabgeordneten blieb ungehört.“ Da alle weltlichen Bemühungen im Ländle nicht gefruchtet haben, kann jetzt nur noch der Heilige Hubertus helfen!
Hier geht es zur Petition der Deutschen Wildtier Stiftung: www.HilfdemHirsch.org

02.11.2020, Museum für Naturkunde – Leibniz-Institut für Evolutions- und Biodiversitätsforschung
Artentstehung viel langsamer als Artensterben
Wie neue Arten entstehen und mit welcher Geschwindigkeit, untersuchte eine Gruppe von Forschenden des Museums für Naturkunde Berlin und der Ludwig-Maximilians-Universität München. Als Untersuchungsobjekt wählten die Forschenden die artenreiche Tiergruppe der singenden Heuschrecken. Ein zentrales Ergebnis war die vergleichsweise kurze evolutionäre Zeitspanne von rund 500.000 Jahren, in denen mehrere Arten entstanden. Trotz der schnellen Artbildung ist die Artenvielfalt von Heuschrecken akut gefährdet. Das derzeitige Artensterben insgesamt ist dramatisch erhöht und führt zu einem rasanten Verlust der biologischen Artenvielfalt.
Eine Eigenschaft biologischer Vielfalt ist ihre kontinuierliche Veränderung. Im Verlauf der Evolution entstehen neue Arten und Arten sterben aus. Beides sind normalerweise langsame Prozesse, die sich kaum direkt beobachten lassen.
Im gegenwärtigen Zeitalter des Anthropozäns haben sich die Aussterberaten im Vergleich zu Artbildungsraten an Tier- und Pflanzenarten dramatisch erhöht, was in der Summe zu einem rasanten Verlust biologischer Artenvielfalt führt.
Die Ursachen und Auswirkungen des Artensterbens werden derzeit intensiv erforscht und dokumentiert. Doch wie entstehen neue Arten und mit welcher Geschwindigkeit? Diesen Fragen ist nun eine Gruppe von Forschenden des Museums für Naturkunde Berlin und der Ludwig-Maximilians-Universität München nachgegangen.
Als Untersuchungsobjekt wählten die Forschenden die besonders artenreiche Tiergruppe der singenden Heuschrecken. Gerade die Gesänge können ein hoch effektiver Treibstoff für die Artbildung sein, denn die Gesänge der Männchen sind artspezifisch. Die Weibchen verpaaren sich nur mit Männchen, die den Gesang perfekt vortragen. Diese Form der Damenwahl verhindert Fehlpaarungen und hält die Artgrenzen aufrecht.
Ungeklärt war bisher die Frage, wie schnell sich neue Arten unter den singenden Heuschrecken bilden. Die Information dazu findet sich im Genom der Tiere, denn Mutationen verändert es kontinuierlich. Je älter Arten sind, d.h. je länger der letzte gemeinsame Vorfahr von nah verwandten Arten lebte, desto stärker unterscheiden sich die Genome der Arten.
Die Forschergruppe hat nun die Genome nah verwandter Heuschreckenarten aus der Gattung Chorthippus, wozu auch unser einheimischer Nachtigallgrashüpfer gehört, sequenziert und mit Hilfe komplexer bioinformatischer Analysen verglichen. Ein zentrales Ergebnis war die vergleichsweise kurze evolutionäre Zeitspanne von rund 500.000 Jahren, in denen mehrere Arten entstanden. Üblicherweise dauert es Millionen Jahre, bis sich eine Art in zwei oder mehr neue Arten getrennt haben.
Das junge Alter der Arten wird auch durch ihre Morphologie unterstützt. Nah verwandte Arten gleichen sich in ihrem äußeren Erscheinungsbild und lassen sich nur schwer unterschieden. Wer aber ihren Gesängen zuhört, kann die Arten leicht und zuverlässig unterschieden.
Trotz der schnellen Artbildung ist die Artenvielfalt von Heuschrecken akut gefährdet. Viele leben in gefährdeten Lebensräumen oder in montanen oder alpinen Regionen. Dort wird es ihnen aufgrund des Klimawandels zunehmend zu heiß, und ein Ausweichen in höher gelegene Regionen ist nicht mehr möglich.
Eine weitere überraschende Erkenntnis hatten die Forschenden: Die Arten paaren sich auffallend häufig untereinander, ohne dass die Artgrenzen verschwinden. Dies passiert in der Regel am Rande von Verbreitungsgebieten bei geringer Populationsdichte. Dadurch kam es zum Genfluss zwischen Arten, wodurch sich die Arten möglicherweise schneller an eine sich verändernde Umwelt anpassen können. Insofern sind die singenden Heuschrecken ein doppeltes Erfolgsmodell der Evolution. Hohe Artbildungsraten sind mit einem hohen Anpassungspotential gekoppelt. Wie lange sie dem Klimawandel trotzen können ist aber fraglich.
Publikation: Nolen, Z.J., B. Yildirim, I. Irisarri, S. Liu, C. Groot Crego, D. Buchvaldt Amby, F. Mayer, M.T.P. Gilbert & R.J. Pereira 2020: Historical isolation facilitates species radiation by sexual selection: Insights from Chorthippus grasshoppers. Molecular Ecology in press. doi: 10.1111/mec.15695
https://onlinelibrary.wiley.com/doi/abs/10.1111/mec.15695?af=R

02.11.2020, Leibniz-Zentrum für Marine Tropenforschung (ZMT)
Unberechenbare Korallenriffe des Anthropozäns
Korallenriffe, die vom Menschen beeinflusst sind, reagieren unvorhersehbar auf Umweltstress. Das fand ein internationales Team von Riffforscher*innen unter der Leitung des Leibniz-Zentrums für Marine Tropenforschung (ZMT) heraus. Die Wissenschaftler*innen untersuchten umfassende Datensätze aus über 60 Riffstandorten im Südpazifik. Für den Erhalt und das Management von Korallenriffen sind die Ergebnisse ihrer neuen Studie von grundlegender Bedeutung.
Physikalische Stressfaktoren, die mit dem Klimawandel einhergehen, wie häufige und starke Stürme oder die Erwärmung der Ozeane, können Korallenriffen extrem zusetzen und sie gravierend verändern. Anhand modellbasierter Berechnungen sagen Wissenschaftler*innen voraus, wie sich die Riffe nach derartigen Ereignissen entwickeln werden. Empfehlungen für das Management von Riffen basieren auf solchen Erkenntnissen.
Menschliche Einflüsse können Korallenriffe stark beeinträchtigen, doch wie sie die Reaktion der Riffe auf Umweltstress beeinflussen, wurde bisher kaum untersucht. Studien zu den Auswirkungen von Stressfaktoren wie Stürme oder Klimaerwärmung wurden in der Vergangenheit meist an naturbelassenen Riffen durchgeführt.
Mehr als die Hälfte aller Korallenriffe weltweit liegt jedoch in direkter Nähe zu menschlichen Siedlungen. Neue Ergebnisse eines Forscherteams unter der Leitung des Riffökologen Sebastian Ferse vom Leibniz-Zentrum für Marine Tropenforschung (ZMT) zeigen nun, dass Riffe unter menschlichem Einfluss ganz anders als ungestörte Riffe auf Umweltveränderungen reagieren.
Für ihre Studie nutzte das Team einen umfangreichen Satz an ökologischen und sozioökonomischen Daten aus 62 Riffstandorten in 17 Inselstaaten und Territorien des Südpazifiks, wo Küstenbewohner schon seit Jahrhunderten mit und von den Riffen leben. Die Daten teilten sie in drei Kategorien: Artengemeinschaft im Riff, physikalische Einflüsse wie Stürme, Wassertemperatur oder -tiefe und menschliche Faktoren wie Besiedlungsdichte an den Küsten und die Nähe der Riffe zu Märkten.
An den verschiedenen Standorten waren die Riffe den schädigenden Einflüssen von Umwelt und Mensch in unterschiedlichem Ausmaß ausgesetzt. Es zeigte sich: je stärker ein Riff unter menschlichem Einfluss stand, desto weniger lebende Korallen waren vorhanden und desto stärker war es von feinen Turfalgen überwuchert. Die Forscher*innen überraschte, dass die Reaktion der Riffe auf physikalische Stressfaktoren unvorhersehbarer wurde, die Stressoren konnten den Zustand der Riffe nur noch zu 10% erklären.
„Menschen verändern Riffe auf lokaler Ebene: sie fangen etwa bestimmte pflanzenfressende Fische weg, die das Algenwachstum in Schach halten, oder setzen die Riffe Abwässern und Einträgen aus der Landwirtschaft aus“, erklärt Riffökologin Amanda Ford vom ZMT, Erstautorin der Studie. Empfindliche Arten verschwinden dadurch, die Artenvielfalt und der Genpool in Riffen nimmt ab und somit auch ihre Anpassungsfähigkeit an Stressfaktoren wie die Erwärmung der Ozeane.
Schätzungsweise eine halbe Milliarde Menschen profitiert von den ökologischen Dienstleistungen der Korallenriffe, sei es durch Fischerei, Tourismus oder Küstenschutz. Diese Riffe und ihre Artenvielfalt zu erhalten, ist für die jeweiligen Länder und Inselstaaten von zentraler Bedeutung. „In Anbetracht des Klimawandels, aber auch ungewöhnlicher Wettermuster und immer häufiger auftretender Stürme brauchen wir zuverlässige Prognosen über die Zukunft dieser wertvollen Ökosysteme“, so Sebastian Ferse. „Die Riffökologie des Anthropozäns muss lokale menschliche Einflüsse stärker einbeziehen als es bisher der Fall war.“
Originalpublikation:
Ford, A.K., Jouffray, J.-B., Norström, A.V., Moore, B.R., Nugues, M.M., Williams, G.J., Bejarano, S., Magron, F., Wild, C., Ferse, S.C.A. (2020). Local Human Impacts Disrupt Relationships Between Benthic Reef Assemblages and Environmental Predictors. Frontiers in Marine Science 7:794. (794). doi:10.3389/fmars.2020.571115

03.11.2020, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
Ameisen schlucken ihre eigene Säure, um sich vor Keimen zu schützen
Ameisen desinfizieren sich und ihren Magen mit Hilfe ihrer eigenen Säure. Wie ein Team der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg (MLU) und Universität Bayreuth herausgefunden hat, tötet die Ameisensäure schädliche Bakterien im Futter der Tiere und verringert so das Krankheitsrisiko. Gleichzeitig hat die Säure maßgeblichen Einfluss auf die Darmflora der Ameisen. Über diese Erkenntnisse berichtet das Team in der Fachzeitschrift „eLife“.
Die Ameisensäure gehört zu den einfachsten organischen Säuren. Produziert wird sie in einer speziellen Drüse im Hinterleib von zahlreichen Ameisenarten. „Lange ging man davon aus, dass die Säure nur zur Abwehr gegen Fressfeinde dient, also zum Beispiel gegen Insekten und Vögel“, sagt Dr. Simon Tragust von Institut für Biologie der MLU, der die neue Studie gemeinsam mit Prof. Dr. Heike Feldhaar aus Bayreuth geleitet hat. In früheren Arbeiten konnte er bereits zeigen, dass Ameisen die Säure auch bei der Brutpflege einsetzen: Die Tiere desinfizieren damit ihre Brut und können so zum Beispiel die Ausbreitung von schädlichen Pilzen verhindern.
Grundlage für die neue Studie war eine Beobachtung im Verhalten der Tiere: „Immer, wenn Ameisen Futter oder Wasser schlucken, fangen sie danach vermehrt an, sich an ihrem Hinterteil zu putzen“, sagt Tragust. Der Forscher wollte herausfinden, woran das liegt. „Mit der Verdauung kann das Verhalten erst einmal nicht viel zu tun haben, denn die Ameisen machen das auch, wenn sie nur Wasser zu sich genommen haben“, sagt er weiter.
Mit Hilfe mehrere Experimente konnte das Team zeigen, dass Ameisen sich dadurch auch gewissermaßen von innen desinfizieren: „Hatten die Ameisen Zugang zu ihrer Säure, stiegen ihre Überlebenschancen deutlich, wenn sie Futter zu sich nahmen, das mit krankheitserregenden Bakterien angereichert war“, so Tragust. Der vorteilhafte Effekt ist nicht nur auf einzelne Tiere beschränkt. Ameisen geben Futter an ihre Nestgenossen von Mund zu Mund weiter. „Das ist eine große potenzielle Ansteckungsquelle“, sagt Biologe Tragust. Wenn die Ameise, die das Futter weitergibt, zuvor Säure zu sich genommen hat, so hat die Zweite ein geringeres Risiko, zu erkranken. Auf diese Weise verringere das Verhalten auf der Ebene der Ameisenkolonie die Ausbreitung von Infektionen, sagt Tragust weiter.
Die Ergebnisse der neuen Studie liefern weiterhin eine Erklärung dafür, warum manche Ameisen nur ganz wenige Bakterien in ihrem Verdauungstrakt haben, und zwar vor allem säureresistente Mikroben. „Die Säureaufnahme stellt also auch einen Filtermechanismus dar, der das Mikrobiom von Ameisen strukturiert“, erklärt Tragust. Ameisen gehören damit zu den wenigen Tieren, die über extrem saure Mägen verfügen. „Ansonsten ist das nur vom Menschen und wenigen anderen Wirbeltieren bekannt“, sagt Tragust. Anders als bei Ameisen wird die Magensäure vom Menschen direkt im Magen produziert, die Effekte sind aber die gleichen: Die Säure tötet Keime in der Nahrung ab und beeinflusst das Darmmikrobiom.
Die genaue Wirkweise der Ameisensäure ist bis heute übrigens nicht bekannt, aber sie und andere organische Säuren werden schon lange als Zusatz für Tierfutter verwendet, um schädliche Keime abzutöten.
Originalpublikation:
Zur Studie: Tragust S. et al. Formicine ants swallow their highly acidic poison for gut microbial selection and control. eLife (2020). doi: 10.7554/eLife.60287
https://elifesciences.org/articles/60287

04.11.2020, Julius-Maximilians-Universität Würzburg
Käfer kooperieren bei der Brutpflege
Ambrosiakäfer sind faszinierend: Sie betreiben Landwirtschaft mit Pilzen und sie leben in einem hoch entwickelten Sozialsystem. Der Biologe Peter Biedermann hat jetzt Neues über sie herausgefunden.
Sie gehören zu den Borkenkäfern, sie sind neben Blattschneiderameisen und manchen Termiten die einzigen Tiere in der Natur, die Ackerbau betreiben: Ambrosiakäfer. Die etwa zwei Millimeter kleinen Insekten tragen Pilzsporen in ihre Nester und säen sie in eigens angelegte Tunnel im Holz aus. Anschließend pflegen sie die wachsenden Pilzkulturen, die ihnen als Nahrung dienen.
Dabei müssen die Käfer ihre Pilzkulturen, ähnlich wie Landwirte, auch gegen Schädlinge verteidigen – zum Beispiel gegen andere Pilze, die die Gärten zu überwuchern drohen. Einzeln lebende Käfer könnten diese Arbeit kaum schaffen. Darum haben Ambrosiakäfer im Lauf der Evolution ausgeklügelte Sozialsysteme entwickelt, die denen von Bienen und anderen sozialen Insekten ähneln. „Das ist einzigartig bei Käfern“, sagt der Würzburger Biologe Peter Biedermann.
Biedermann ist fasziniert von Ambrosiakäfern. Im Biozentrum der Julius-Maximilians-Universität (JMU) Würzburg hat er sie erforscht. „Weil sie seit 60 Millionen Jahren diese Art nachhaltiger Landwirtschaft betreiben, interessiert mich, wie sie gegen Schadpilze vorgehen. Vielleicht können wir für unsere Landwirtschaft von den Käfern lernen.“
Sozialsystem bei zweiter Käferart entdeckt
Ambrosiakäfer sind weltweit verbreitet. Bei dem in Europa heimischen Kleinen Holzbohrer Xyleborinus saxesenii beschrieb Biedermann schon 2011 (Publikation Biedermann & Taborsky, PNAS) ein außergewöhnlich hoch entwickeltes Sozialsystem. Ein solches fand er nun auch bei dem in den Tropen Amerikas lebenden Ambrosiakäfer Xyleborus affinis. Weitere Käfer mit dieser Eigenart sind bislang nicht bekannt.
Seine neuen Erkenntnisse über das Sozialsystem des amerikanischen Käfers stellt Biedermann in der Zeitschrift Frontiers in Ecology & Evolution vor: Nachdem eine Käfermutter ein neues Nest mit Pilzgärten angelegt hat und sich erster Nachwuchs entwickelt, bleiben viele Jungkäfer vorerst bei ihrer Mutter. Sie helfen ihr bei der Pilzpflege und bei der Aufzucht des Nachwuchses.
Arbeiterinnen können sich fortpflanzen
Das ist mit den Arbeiterinnen der Bienen vergleichbar. „Im Unterschied zu den sterilen Bienen-Arbeiterinnen sind die Käfer-Arbeiterinnen aber fortpflanzungsfähig: Sie entscheiden je nach Lebenslage, ob sie irgendwann doch noch ein eigenes Nest gründen, ob sie selbst im Geburtsnest Eier legen oder ob sie ausschließlich der Mutter helfen“, sagt der Biologe.
Dieses in der Natur sehr seltene Sozialsystem der kooperativen Brutpflege sei eine Vorstufe zum Staatswesen der sozialen Insekten mit ihren sterilen Arbeiterinnen und einer fruchtbaren Königin. Das System könne der Wissenschaft helfen, die Evolution von Sozialität nachzuvollziehen.
Menge der Unkrautpilze bestimmt Aktivität
Biedermann hat in seiner Studie auch Neues über die Landwirtschaft der Ambrosiakäfer entdeckt. Demnach richten die Käfer ihr Pilzpflegeverhalten danach aus, ob gerade viele oder wenige „Unkrautpilze“ im Nest wachsen. Außerdem hat sich gezeigt: Käfertöchter, die sich selber nicht fortpflanzen, helfen zwar bei der Arbeit im Nest, zeigen ansonsten aber weniger soziale Verhaltensweisen als ihre eierlegenden Schwestern.
Peter Biedermann leitet seit Kurzem die Professur für Forstentomologie und Waldschutz an der Universität Freiburg. Dort will er als nächstes untersuchen, ob Ambrosiakäfer Unkraut- und Nahrungspilze anhand ihres Geruchs unterscheiden können und wie die Käfer die erkannten Unkrautpilze dann gezielt jäten oder chemisch bekämpfen.
Originalpublikation:
Cooperative Breeding in the Ambrosia Beetle Xyleborus affinis and Management of Its Fungal Symbionts. Peter Biedermann, Frontiers in Ecology & Evolution, Open Access, 4. November 2020, DOI: 10.3389/fevo.2020.518954

04.11.2020, Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften e.V.
Vielfalt im Zugverhalten der Mönchsgrasmücken
Die Zugstrategien der Vögel sind sehr variabel
Durch eine groß angelegte Studie mit so genannten Geolokatoren konnten Forscherinnen und Forscher unter der Leitung von Miriam Liedvogel vom Max-Planck-Institut für Evolutionsbiologie in Plön einige Rätsel um das Phänomen des Vogelzugs der Mönchsgrasmücke aufdecken.
Seit jeher ziehen viele Vogelarten im Herbst Richtung Süden, um dort zu überwintern, darunter auch die kleine Mönchsgrasmücke, die oft nur wenige Gramm wiegt und dennoch tausende von Kilometern zurücklegt. Die Veränderung unserer Landschaften und der Klimawandel gehen aber auch an den Zugvögeln nicht spurlos vorüber. Sie ändern ihr Verhalten, die Ziele ihrer Reise, den Zeitpunkt ihres Abfluges oder auch die Entscheidung, ob sie überhaupt fortfliegen. Bisher wurden diese Gewohnheiten entweder experimentell mit Vögeln in Gefangenheit erforscht, oder durch unregelmäßige Wiederfänge beringter Vögel.
Eine Gruppe internationaler Forscherinnen und Forscher unter der Leitung von Miriam Liedvogel vom Max-Planck-Institut für Evolutionsbiologie in Plön hat nun erstmals eine groß angelegte Studie mit so genannten Geolokatoren durchgeführt. Das sind ultraleichte, winzige Geräte, die am Rücken frei fliegender Vögel angebracht werden, und die Lichtintensität mit exakten Zeitangaben aufzeichnen. Nach dem erneuten Fang der Vögel kann so die jeweilige Flugroute genau berechnet werden. Insgesamt konnten die Wissenschaftler so die Wanderungen von 100 einzelnen Vögeln dokumentieren und analysieren.
Unterschiedliche Wanderziele je nach Brutgebiet
Schon vorher war bekannt, dass es in Europa eine Zugscheide gibt: Östlich dieser gedachten Linie ziehen die Mönchsgrasmücken im Herbst Richtung Südosten, westlich davon ziehen sie in Richtung Südwesten. Durch gezielte Zuchtexperimente konnte bereits in den 1990er Jahren erfolgreich gezeigt werden, dass die Zugrichtung durch die Eltern vererbt wird. Diese Experimente zeigten ebenfalls, dass in Gefangenschaft gekreuzte Nachkommen zwischen West- und Ostziehern eine intermediäre Orientierung zeigen, das heißt, sie ziehen genau Richtung Süden. Die Vermutung war, dass dies in der Natur vermieden wird, da die südliche Route die Vögel über die Alpen, das Mittelmeer und eventuell über die Sahara Wüste führen würde.
Die Wissenschaftler konnten nun zeigen, dass diese intermediäre Orientierungsrichtung tatsächlich in der Natur auftritt und die Vögel, die diese Zugrichtung wählen trotz der ökologischen Barrieren, die sie so überwinden müssen, auch erfolgreich wieder in ihre Brutgebiete zurückkehren. Das Gebiet, in dem sich die Orientierungspräferenz ändert ist erstaunlich schmal und umfasst lediglich 27 Kilometer.
Manche Vögel ziehen nach Norden
Eine weitere spannende Erkenntnis aus den gewonnenen Daten betrifft eine Gruppe von Vögeln, die am Ende des Jahres genau das Gegenteil von dem machen, was man vermuten würde: Sie ziehen nicht in den warmen Süden, sondern nach Norden und überwintern in Großbritannien. Seit den 1960er Jahren beobachtet man einen steten Anstieg der Mönchsgrasmücken, die diese Strategie wählen, vermutlich bedingt durch mildere Winter und die winterlichen Zufütterung in englischen Gärten. Die neuen Untersuchungen zeigen erstmals, dass diese Vögel aus Brutgebieten über ganz Europa verstreut stammen. Warum lassen sie sich durch ungemütliche Winter nicht von dieser Strategie abbringen?
Anhand der ausgewerteten Daten war zu erkennen, dass diese Vögel im Frühjahr etwa zehn Tage früher zu ihren Brutplätzen zurückkehrten als diejenigen, die den Winter im Süden verbrachten. Die Überwinterer aus Großbritannien hatten so eventuell einen Vorteil bei der Brutplatzsuche. Für die Evolutionswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler sind diese Erkenntnisse nur ein Anfang. Das Vogelzug-Verhalten ist größtenteils genetisch bedingt, und diese Studie legt nun den Grundstein für die Suche nach denjenigen Genen, die kontrollieren, wo die Vögel hinziehen und wann sie losfliegen.
Originalpublikation:
Kira E. Delmore, Benjamin M. Van Doren, Greg J. Conway, Teja Curk, Tania Garrido-Garduño, Ryan R. Germain, Timo Hasselmann, Dieter Hiemer, Henk P. van der Jeugd, Hannah Justen, Juan Sebastian Lugo Ramos, Ivan Maggini, Britta S. Meyer, Robbie J. Phillips, Magdalena Remisiewicz, Graham C. M. Roberts, Ben C. Sheldon, Wolfgang Vogl and Miriam Liedvogel
Individual variability and versatility in an eco-evolutionary model of avian migration.
Proceedings of the Royal Society B 287: 20201339

05.11.2020, Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften e.V.
Archiv der Tierwanderungen in der Arktis
Ein globales Archiv mit Bewegungsdaten aus über drei Jahrzehnten protokolliert Veränderungen im Verhalten arktischer Tiere
Wärmere Winter, frühere Frühlinge, schrumpfendes Eis und mehr menschliche Aktivitäten – die Arktis durchläuft dramatische Veränderungen, die sich auch auf die einheimische Tierwelt auswirken. Forschende aus der ganzen Welt haben jetzt ein Datenarchiv zur Dokumentation von Tierbewegungen in der Arktis und Subarktis aufgebaut. Das Archiv läuft auf der Movebank-Plattform am Max-Planck-Institut für Verhaltensbiologie in Radolfzell, Deutschland. Mit dem „Arctic Animal Movement Archive“ können Wissenschaftler ihr Wissen austauschen und gemeinsam untersuchen, wie Tiere auf eine sich verändernde Arktis reagieren. Drei neue Studien aus dem Archiv zeigen großräumige Änderungen im Verhalten von Steinadlern, Bären, Karibus, Elchen und Wölfen in der Region. Sie veranschaulichen, wie das Archiv genutzt werden kann, um größere Veränderungen des Ökosystems zu erkennen.
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler beobachten seit langem die Bewegungen und das Verhalten von Tieren in der Arktis. Es war jedoch schwierig, die Studien dazu ausfindig zu machen und auf sie zuzugreifen. Ein internationales Team unter der Leitung von Sarah Davidson, Datenkuratorin am Max-Planck-Institut für Verhaltensbiologie in Radolfzell, und Gil Bohrer von der Ohio State University haben deshalb ein von der NASA finanziertes globales Datenarchiv für Studien zur Tierwanderung in der Arktis und Subarktis aufgebaut.
Das Arctic Animal Movement Archive soll Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen miteinander vernetzen und ihre Zusammenarbeit fördern. Forschende von über 100 Universitäten, Regierungsbehörden und Naturschutzgruppen aus 17 Ländern sind daran beteiligt. „Mit dem Archiv wollen wir eine globale Forschungsgemeinschaft über Institutionen und politische Grenzen hinweg aufbauen“, sagt Martin Wikelski vom Max-Planck-Institut für Verhaltensbiologie, der die Forschungsplattform Movebank entwickelt hat. Das Archiv enthält derzeit über 200 Forschungsprojekte mit den Bewegungsdaten von mehr als 8.000 Meeres- und Landtieren von 1991 bis heute.
Zugverhalten der Steinadler
Forschende haben nun verschiedene Studien veröffentlicht, die Daten und Fachwissen mithilfe des Archivs zusammenführen. So stellten Wissenschaftler beim Vergleich der Bewegungen von mehr als 100 Steinadlern von 1993 bis 2017 fest, dass junge Adler, die nach milden Wintern nach Norden ziehen, früher in ihren Brutgebieten eintreffen. Die Ankunftszeit der ausgewachsenen Vögel ist jedoch unabhängig von den Bedingungen an ihren Brutplätzen ziemlich konstant geblieben. Dies beeinflusst das Brutgeschäft und das Überleben der Küken. „Unsere Ergebnisse zeigen, dass wir Klimadaten berücksichtigen müssen, die Jahrzehnte umfassen“, sagt Scott LaPoint, Wissenschaftler bei Black Rock Forest.
Eine zweite Studie mit mehr als 900 weiblichen Karibu-Weibchen aus den Jahren 2000 bis 2017 hat ergeben, dass Herden weiter im Norden früher im Frühling gebären, während sich die Geburten der südlicheren Populationen weniger stark verändert haben. „Dass wir die Geburt in einem so großen Maßstab, über Populationen und Unterarten hinweg und über Millionen von Quadratkilometern untersuchen können, ist für eine Tierart in einer so abgelegenen und rauen Umgebung wirklich beispiellos“, erklärt Elie Gurarie von der Universität Maryland.
Unterschiedliche Reaktionen auf den Klimawandel
Eine dritte Analyse, die sich mit den Wanderungsgeschwindigkeiten von Bären, Karibus, Elchen und Wölfen von 1998 bis 2019 befasst, kommt zu dem Schluss, dass die Arten unterschiedlich auf jahreszeitliche Temperaturen und winterliche Schneebedingungen reagieren. „Wie Tiere mit ihren Wanderungen auf veränderliche Wetterbedingungen reagieren, wirkt sich auf den Konkurrenzkampf der Arten und die Räuber-Beute-Dynamik aus“, sagt Peter Mahoney, der seine Untersuchungen an der Universität Washington durchgeführt hat.
Zu den Hunderten von Studien, die bereits im Archiv enthalten sind, kommen immer weitere hinzu. Dies dürfte dazu beitragen, Veränderungen im Verhalten der Tiere und im arktischen Ökosystem zu erkennen. „Darüber hinaus liefern wir eine dringend benötigte Datenbasis früherer Verhaltensweisen und Wanderungen“, sagt Davidson. „Damit lassen sich das Wildtiermanagement verbessern, neue Forschungsfragen beantworten und Veränderungen in der Arktis für zukünftige Generationen dokumentieren.“
Originalpublikation:
Sarah C. Davidson et al.
Ecological insights from three decades of animal movement tracking across a changing Arctic.
Science; 5 November, 2020 (DOI: 10.1126/science.abb7080)

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