Die Saiga in Brehms Tierleben

Saiga (Brehms Tierleben)

Von allen bekannten Antilopen weicht die im Nordosten unseres Erdtheils häufige Steppenantilope oder Saiga, Saigak der Russen, Gorossun der Kalmücken (Colus tataricus, Antilope Saiga und scythica, Capra und Saiga tatarica, Ibex imberbis), durch wesentliche Eigenthümlichkeiten so erheblich ab, daß man sie mit Fug und Recht als Vertreter einer besonderen Sippe ansieht. Sie erinnert in Gestalt und Wesen an das Schaf, in gewisser Beziehung aber auch wieder an das Ren. Ihre Gestalt ist sehr plump, der Leib dick und gedrungen, auch verhältnismäßig niedrig gestellt, da die Läuse wohl schlank, aber nicht hoch sind, das Fell außerordentlich langhaarig und so dicht, daß es eine glattwollig erscheinende Decke bildet. Mehr als durch jedes andere Merkmal aber zeichnet sich die Saiga durch die Gestaltung ihrer Schnauze und insbesondere durch die Bildung ihrer Nase aus. Die Schnauze ragt über die Kinnlade vor, ist von der Stirn an zusammengedrückt, durch eine Längsfurche getheilt, knorpelhäutig, in Runzeln zusammenziehbar und deshalb sehr beweglich, an der abgestutzten Spitze von runden, am Rande behaarten, in der Mitte nackten Nasenlöchern durchbohrt, so daß das Ganze einen förmlichen Rüssel bildet und man deshalb der Gruppe den Namen »Rüsselantilopen« geben könnte. Die Hörner des Bockes, welche etwas entfernt von einander über der Augenhöhle stehen, sind leierförmig, unten mit etwas verwischten Ringen gezeichnet und gestreift, an der Spitze verdünnt und glatt, blaß von Farbe und durchscheinend. Die großentheils im Pelze versteckten Ohren sind kurz, stumpf, im Umrisse rauh, innen mit lockeren Zotten bekleidet; die mittelgroßen, weit hinten in sehr vorstehenden Augenhöhlen gelegenen Augen haben fast nackte Lider, oben volle, unten nur in der Mitte dicht stehende Wimpern, länglichen Stern und braungelbe Iris. Die Thränengruben, welche sich unten in einiger Entfernung von den Augenwinkeln befinden, sind weit, ihre Oeffnungen aber sehr eng, werden von einem Hofe umgeben und strotzen von einer bockig riechenden Salbe. Die außen weißgrau behaarten, oben am platten Rande schwarzfleckigen Lippen sind durch eine Furche gespalten. Am Halse steht der Kehlkopf etwas vor, ohne jedoch einen eigentlichen Kropf zu bilden. Die schlanken Gliedmaßen sind etwas einwärts gedreht, die Vorderhufe kurz, hinten von schwieliger, gewölbter Fersenhaut umgeben und vorn dreieckig, die hinteren ähnlich gestaltet, aber spitziger; die kleinen und stumpfen, an den hinteren Füßen dickeren Afterklauen stehen entfernt von dem Hufe. Der Schwanz ist kurz, an der Wurzel ziemlich breit, unten nackt, außen mit aufrechten, nach der Spitze hin längeren Haaren besetzt. Tief ausgehöhlte Leistengruben, welche hinten durch eine Falte vom Beutel nach der Hüfte zu begrenzt werden, sondern ebenfalls eine stark riechende Salbe ab. Das Weibchen ist hornlos und trägt ein zweizitziges Euter. Im Sommer erreicht das kurze Haar höchstens 2 Centim. an Länge, wogegen es im Laufe des Spätherbstes bis zu 7 Centim. und darüber nachwächst. Rücken und Seiten sehen des Sommers graugelblich, die Gliedmaßen unter dem Knie dunkler, Hals- und Unterseiten des Rumpfes sowie die inneren Seiten der Läufe weiß, Stirn und Scheitel gelbgrau oder aschgraulich aus; ein lanzettförmiges Rückenmal in der Kreuzgegend, welches mit gröberen und längeren Haaren besetzt ist, hat schwärzlichbraune Färbung. Gegen den Winter hin lichtet sich die Decke, und das Thier erhält dann ein blasses, graugelbliches, nach außen hin weißliches Haarkleid. Bei den Jungen ist das Haar sehr weich, über den Scheitel und bis zum Mittelrücken hin bei neugeborenen Lämmern krauswollig, seine Färbung graulicher als bei den Alten, auf Scheitel und Rücken fast schwarzbraun. Die Länge des erwachsenen Bockes beträgt 1,3 Meter, wovon 11 Centim. auf den Schwanz zu rechnen sind, die Höhe am Widerriste kaum 80 Centim., die Länge der Hörner eines ausgewachsenen Bockes der Krümmung nach gemessen 25 bis 30 Centim.

Die Saiga bewohnt die Steppen Osteuropas und Sibiriens, von der polnischen Grenze bis zum Altai. Von den südlichen Donauländern und von den Karpaten an begegnet man ihr in den Steppen des südöstlichen Polen, in Kleinrußland längs des Schwarzen Meeres, um die kaukasischen Gebirge, das Kaspische Meer und den Aralsee bis zum Irtisch und den Ob, nach Norden hin bis zum 55. Breitengrade. Sie lebt stets in Gesellschaften, sammelt sich mit Beginn des Herbstes aber in Herden von mehreren tausend Stück, welche ziemlich regelmäßig wandern und erst gegen das Frühjahr hin rudelweise nach ihren früheren Standorten zurückkehren Aeußerst selten sieht man eine einzelne Steppenantilope; denn auch während des Sommers halten sich die alten Böcke zur Herde. Eine solche stellt unter allen Umständen Wachen auf; wenigstens beobachtete Pallas, dem wir bis jetzt die einzigen ausführlichen Nachrichten über das Freileben dieser Thiere verdanken, daß niemals alle auf einmal ruhten, sondern einzelne stets weideten und sicherten, während die anderen wiederkäuend am Boden lagen, sich auch keines von ihnen zur Ruhe begab, ohne vorher ein anderes Stück durch ein eigenthümliches Zunicken und ein nicht minder absonderliches Entgegenschreien zum Aufstehen eingeladen oder zur Ablösung bestimmt zu haben. Erst wenn dieses sich erhob und die Wache übernahm, legte jenes sich nieder. Ungeachtet dieser Vorsicht kann man nicht sagen, daß die Saigas besonders begabte Thiere wären. Sie bethätigen nur geringe Gewandtheit, durchschnittlich nicht eben scharfe Sinne und unbedeutende geistige Fähigkeiten. Erwachsene laufen zwar so schnell, daß weder Pferde noch Windhunde sie einholen können, jüngere werden aber leicht athemlos, und auch die älteren fallen vereinten Anstrengungen der Raubthiere, beispielsweise der Wölfe, bald zur Beute. Ihr Gang ist querbeinig, und sieht deshalb nicht anmuthig aus, weil sie den Hals weit vorstrecken und den Kopf niederhängen lassen; die Sprünge greifen zwar ziemlich weit aus, erinnern aber kaum noch an die zierlichen Sätze anderer Antilopen, sind vielmehr plump und ungeschickt. Unter ihren Sinnen steht der des Geruches obenan, denn man bemerkt, daß sie vorzüglich winden; das Gesicht hingegen scheint sehr schwach zu sein, denn sie laufen bisweilen, von der Sonne geblendet, auf Wagen zu oder sehen sich angesichts eines Feindes unentschlossen und blöde um, als ob sie den Gegenstand nicht zu erkennen vermöchten. Auch von dem Verstande dieser Thiere läßt sich schwerlich etwas rühmliches sagen. Sie sind scheu, wie alle Steppenthiere, aber keineswegs überlegend klug und wissen sich bei wirklichen Gefahren selten in verständiger Weise zu helfen. Auch unterscheiden sie kaum zwischen ihren gefährlichen Feinden oder anderen harmlosen Thieren, geben sich vielmehr, sobald sie ein fremdes Wesen gewahren, sofort auf die Flucht, laufen zuerst zusammen, sehen sich zagend um und fliehen dann lautlos in einer langen Reihe, selbst auf der Flucht noch beständig hinter sich blickend. Der Bock geht in der Regel voran, doch übernimmt auch ein Altthier zuweilen die Leitung. Eine Stimme vernimmt man nur von den Jungen, welche wie Schafe blöken; die Alten sind immer still.

Die Aesung der Saiga besteht vorzugsweise aus Salzkräutern, welche die sonnigen, dürren, von Salzquellen öfters unterbrochenen tatarischen Steppen hier und da in ungeheuren Massen bedecken. Nach Pallas sollen die Thiere nur rückwärts gehend und immer von der Seite weiden, weil ihnen die vorhängende Nase verwehrt, anders sich zu äsen. Ebenso sollen sie beim Trinken das Wasser nicht allein durch den Mund, sondern auch durch die Nase einschlürfen. Beide Angaben, von denen die letztere schon von Strabo herrührt, sind, wie selbstgepflegte Gefangene mir bewiesen haben, gänzlich aus der Luft gegriffen. Wohl infolge der eigenthümlichen Nahrung erhält das Wildpret der Saiga einen scharfen balsamischen Geruch, welcher wenigstens den Neuling derartig anwidert, daß er nicht im Stande ist, es zu genießen. Die Steppenbewohner behaupten, daß die Salzpflanzen den Thieren ungewöhnliche Kräfte verleihen, insbesondere die Böcke befähigen, eine erhebliche Menge von Riken, zwanzig bis dreißig an der Zahl, geschlechtlich zu befriedigen: daß diese Ansicht eine irrige ist, bedarf wohl kaum des Beweises, da bekanntlich auch andere Wiederkäuer dasselbe vermögen wie gedachte Antilopen. Die Böcke treten gegen Ende November auf die Brunst, kämpfen unter sich lebhaft um die Riken, treiben eine Menge von ihnen zusammen und beschlagen sie dann; die Riken gehen bis zum Mai tragend und setzen um diese Zeit, gewöhnlich schon vor der Mitte des Monats, ein einziges, anfänglich sehr unbehülfliches Junge.

Ungeachtet des schlechten Wildprets jagen die Steppenbewohner Saigas mit Leidenschaft. Man verfolgt sie zu Pferde und mit Hunden und holt sie in der Regel ein, wenn sie weit flüchten müssen. Wie einigen anderen Antilopen werden ihnen manchmal unbedeutende Wunden gefährlich. Die Kirgisen hauen Pfade in das Steppengras und Schilf, schneiden hier die Halme bis zu einer gewissen Höhe ab und treiben sodann zu Pferde Herden von Saigas hinein; diese verletzen sich an den scharfen Spitzen des Rohres und erliegen den Verwundungen. Häufiger erlegt man sie mit dem Feuergewehr, und hier und da fängt man sie mit Beizvögeln. Zu diesen nimmt man auffallenderweise nicht Edelfalken, sondern Steinadler, welche von Haus aus zu den gefährlichsten Feinden der Antilopen gehören und willig und gern der ihnen angeborenen Jagdlust folgen. Auch Wölfe richten arge Verwüstungen unter jenen an, reißen oft ganze Rudel nieder und fressen die getödteten bis auf Schädel und Gehörn auf. Letzteres sammeln dann die Kirgisen oder die Kosaken und verkaufen es wohlfeil nach China. Und noch ist die Zahl der Feinde nicht erschöpft. Eine Dassel- oder Biesfliegenart legt ihnen Eier in die Haut, oft in solcher Menge, daß die auskriechenden Maden brandige Geschwüre verursachen und das Thier umbringen.

Jung aufgezogene Steppenantilopen werden sehr zahm, folgen ihren Herren wie Hunde, selbst schwimmend durch die Flüsse, fliehen vor wilden ihrer Art und kehren des Abends aus freien Stücken wieder in ihren Stall zurück. Durch Vermittelung des Thiergartens in Moskau, neuerdings durch die Bemühungen des Thierhändlers Stader daselbst, sind Saigas wiederholt auch nach Deutschland gebracht worden und gehören gegenwärtig in unseren Thiergärten nicht eben zu den Seltenheiten. Nach Staders mündlichen Mittheilungen fängt man sie wenige Stunden nach der Geburt ein und läßt sie so lange von Ziegen und Schafen bemuttern, bis sie selbständig fressen und die weite, beschwerliche Reise aushalten können. Nachdem sie etwa ein Jahr alt geworden sind, versendet man sie weiter. Diese jungen Thiere haben ein durchaus eigenthümliches Aussehen und erinnern, wie bemerkt, ebenso an Renthiere wie an Schafe. Ihre Bewegungen sind aber entschieden antilopenartig. Gewöhnlich gehen sie einen ruhigen, regelmäßigen Paß; derselbe wird jedoch oft durch einige rasche Sprünge unterbrochen, welche sie ziemlich hoch in die Luft schnellen. Sie weiden, wie andere Wiederkäuer ruhig vorwärts gehend. Ihre Beutelnase ist dabei in beständiger Bewegung und schleift dicht über den Boden dahin. Gegen Witterungseinflüsse zeigen sie sich vollkommen unempfindlich, bleiben auch in den kältesten Nächten gern in ihrem Gehege, ohne ihren Stall zu betreten, und liegen am Morgen, dick mit Reif belegt oder selbst mit Schnee bedeckt, anscheinend höchst behaglich auf derselben Stelle, auf welcher sie sich niederließen. Das Niederthun selbst geschieht niemals ohne einige Umstände: sie suchen vorher erst lange nach einem passenden Platze, drehen sich über demselben einige Male herum und lassen sich dann erst auf die Vorderkniee und schließlich auf den Leib nieder. Die von mir gepflegten Saigas fraßen von allem geeigneten Futter, welches ich ihnen reichen ließ, waren, wie die meisten übrigen Antilopen, ungemein begierig auf Salz und nahmen außerdem täglich eine ziemlich bedeutende Menge von Erde zu sich. Ihre Losung ähnelt der unserer Ziegen und Schafe.

Obwohl die von mir gepflegten und sonstwie beobachteten Saigas binnen kurzer Zeit mit ihrem Wärter sich befreundet hatten und sehr zahm geworden waren, gelang es doch bloß bei sehr wenigen, sie jahrelang am Leben zu erhalten. Hieran war nur in einzelnen Fällen die ihnen vielleicht nicht ganz zusagende Nahrung, viel häufiger ihre geringe geistige Begabung schuld; denn die meisten, welche zu Grunde gingen, verendeten infolge ihrer Schreckhaftigkeit oder Ungeschicklichkeit, indem sie, durch irgend ein ungewöhnliches Vorkommnis erregt, plötzlich wie unsinnig gegen die ihnen doch wohlbekannten Gitter stürmten und dabei sich das Genick brachen oder zwischen den Gitterstäben sich erhängten. Jede andere mir bekannte Antilope, ja jedes Schaf benimmt sich klüger, jeder Wiederkäuer lernt leichter den ihm angewiesenen Raum kennen und die Gefahren desselben meiden als die Saiga. Der erste Eindruck, welchen sie auf den Beschauer macht, ist kein günstiger; denn sie erscheint dem Beobachter sofort als ein in hohem Grade geistloses und dummes Wesen, und ihr Benehmen straft diesen Eindruck nicht Lügen.

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