Der Palmgeier auf Brehms Tierleben

Palmgeier (Brehms Tierleben)

Der Geierseeadler (Gypohierax angolensis, Falco, Gypaëtus, Haliaëtus und Racama angolensis, Vultur hypoleucus), welchen ich meine, ähnelt in Gestalt und Haltung mehr dem Schmutzgeier, als irgend einem Adler, gibt sich als solcher auch nur durch den Fußbau und seine Lebensweise zu erkennen. Der Schnabel ist kräftig, aber lang gestreckt und sehr schmal, der Oberschnabel in sanftem Bogen gekrümmt, kurz und stumpfhakig, an der Schneide zahnlos, der Unterschnabel stark, etwa zwei Drittel so hoch wie der obere, die Wachshaut bis zur Hälfte vorgezogen, das Nasenloch breit schlitzförmig, etwas schief von vorn nach hinten gestellt; der Zügel nackt, der Fuß schwach, am Lauftheile mit kleinen sechsseitigen Hornschildern bekleidet, der Fang kurz und mit mäßig großen, gekrümmten Krallen bewehrt, der Flügel, in welchem die dritte bis fünfte Schwinge die anderen überragen, lang und spitzig, der aus zwölf Federn bestehende Schwanz ziemlich kurz und schwach gerundet.

Das Gefieder des alten Vogels, mit Ausnahme der schwarzen Handschwingenspitzen, Armschwingen, Schulterfedern und einer breiten schwarzen Binde, rein weiß, das Auge hellorange, der Schnabel blaugrau, die Wachshaut schmutziggelb, der Zügel orange bis rothgelb, der Fuß fleischfarbig. Der junge Vogel hat ein einfarbig dunkelbraunes Gefieder und braunes Auge. Zur Umfärbung des Jugendkleides in das des alten Vogels sind mindestens drei bis vier Jahre erforderlich, und zwar geht die Umänderung des Kleides, nach Reichenows Befund, durch Mauser und Verfärbung allmählich vor sich, so daß man vielfach braun und weiß gescheckte Geieradler findet, bei denen je nach dem Alter bald die eine, bald die andere der beiden Farben vorherrscht. Im letzten Zustande des Jugendkleides sind die Federn weiß mit gelbbraunen Säumen, und das Aussehen des Vogels ist so schmutzig, daß es scheint, als habe er sich in Lehm gewälzt. Die Länge beträgt sechzig, die Fittiglänge vierzig, die Schwanzlänge zwanzig Centimeter.

Bis in die neueste Zeit waren uns über das Freileben des schon seit hundert Jahren bekannten Vogels nur dürftige Mittheilungen zugekommen. Erst Reichenow gebührt das Verdienst, uns hierüber belehrt zu haben, und ihm danken insbesondere meine Leser das nachstehende, welches er für das »Thierleben« niederzuschreiben die Güte gehabt hat.

»Der Geierseeadler bewohnt häufig die Gleicherländer Westafrikas, wogegen er im Osten bis jetzt nur ein einziges Mal auf der Insel Pemba, nördlich von Sansibar, erlegt wurde. In den Küstenländern Westafrikas ist er innerhalb der angegebenen Grenzen einer der häufigsten Raubvögel. Von der Goldküste bis zu Gabun habe ich ihn allerorts angetroffen, wo sein Vorkommen überhaupt vorausgesetzt werden konnte. Vorzugsweise Fischfresser, ist er an das Wasser, an die Meeresküste und an Flüsse gebunden; im trockenen Hochlande wie im Gebirge bleibt er ebenso eine außerordentlich seltene Erscheinung wie unser Seeadler im Binnenlande Europas. Ihm zusagende Wohnplätze findet er namentlich in den sumpfigen Vorländern der Ströme, insbesondere da, wo die unabsehbaren Schlammmassen, welche von den Flüssen Westafrikas mitgeführt werden und meilenweit von der Küste das Meer trüben, Deltas von oft bedeutender Ausdehnung bilden. Dieses Sumpfland, welches hauptsächlich von Mangrovebeständen begrünt wird, hier und da aber auch der Weinpalme und dem stacheligen Pandanus zum Boden dient, ist von schmalen Wasserarmen durchzogen, und letztere, welche selten besucht werden, sind es, woselbst der Geierseeadler regelmäßig seine Wohnung aufschlägt. Hier ist er eine so gewöhnliche Erscheinung, daß er neben dem Schattenvogel als Charaktervogel des öden Sumpflandes bezeichnet werden darf. Einzeln oder paarweise sieht man ihn, bald auf einer Baumspitze sitzen und der Ruhe und Verdauung pflegen, bald spielend in hoher Luft seine Kreise ziehen oder dicht über der Wasserfläche dahinstreichen, um Beute zu suchen. Sitzend erscheint er ganz als Geier, obgleich er sich ziemlich aufrecht hält; denn der lange Schnabel und das nackte Gesicht stimmen so wesentlich mit dem Geier überein, daß man den Adler erst erkennt, wenn er sich erhebt. In Einzelheiten seines Wesens erinnert er an unseren Seeadler; nur ist er in allen Bewegungen träger als dieser. Das Flugbild des Vogels stimmt mit dem des Seeadlers am meisten überein. Wie letzteren sieht man ihn oft spielend aus hoher Luft eine Strecke sich herabstürzen und dann, ruhig schwebend, wieder zur Höhe sich emporschrauben. Seine Jagdweise ist übrigens von der des Seeadlers verschieden und gleicht mehr dem Treiben der Milane. In geringer Höhe schwebt er über der Wasserfläche, und in ziemlich träger Weise streicht er in Bogen herab, sobald er einen Fisch erspähet, um ihn von der Oberfläche aufzunehmen. Jähen Stoßes sah ich ihn niemals auf Beute sich ins Wasser stürzen. Neben Fischen scheinen auch die in sumpfigen Mündungsländern überaus häufigen Muscheln ihm zur Nahrung zu dienen. Aber nicht unmöglich ist, daß er ebenso hin und wieder Säugethiere und Vögel überrascht. Mehrmals sah ich ihn graue Papageien verfolgen, welche sichtbar ängstlich unter lautem Krächzen vor ihm flohen. Früher geneigt, solche Verfolgungen mehr als Spiel anzusehen, ist es mir jetzt nach der bemerkenswerthen Beobachtung Usshers, welcher den Geierseeadler auf eine junge Ziege stoßen sah, doch wahrscheinlich, daß er den Jakos in der That nachstellt. Dagegen halte ich für unwahrscheinlich, daß er auch Palmkerne frißt, wie Pel behauptet. Auffallend ist die Schweigsamkeit dieses Vogels. Trotzdem ich ihn in den Kamerunniederungen ein halbes Jahr hindurch beinahe täglich beobachtete, habe ich niemals einen Laut von ihm vernommen.

Den Horst sah ich immer auf den höchsten Bäumen des von einem Paare bewohnten Gebietes. Zur Brutzeit verlassen die Geierseeadler häufig die Mündungsländer und ziehen längs der Flüsse aufwärts, wo die riesigen Woll- und Affenbrodbäume ihnen geeignetere Standorte für den Horst bieten als die niedrige Mangrove. Der auf der Spitze oder den Astgabeln gedachter Baumarten errichtete Bau wird mehrere Jahre hindurch benutzt und erreicht daher bedeutenden Umfang. Zwei Eier scheinen das Gelege auszumachen. Leider konnte ich mich hierüber nicht vergewissern, ebensowenig als es mir gelang, Eier aus dem zwar sehr häufig aufgefundenen, aber stets unzugänglichen Horste zu erbeuten. Daß die Neger es aber doch ermöglichen, die Horste auszunehmen, beweisen die nicht selten lebend zu uns nach Europa kommenden jungen Geierseeadler.«

Ich habe diese Vögel in verschiedenen Thiergärten gesehen und einzelne von ihnen auch geraume Zeit beobachten können. In der Regel sieht man nur Junge, und es scheint somit, daß die gefangenen Geierseeadler meist in den ersten Jahren ihres Lebens zu Grunde gehen. Doch lebte im Londoner Thiergarten einer von ihnen so lange, daß er das vollständige Alterskleid anlegen konnte, befindet sich möglicherweise noch gegenwärtig in der reichen Thiersammlung dieses vorzüglichsten aller Thiergärten. Ich habe mich vergeblich bemüht, an den von mir beobachteten gefangenen Geierseeadlern etwas zu ersehen, welches ihre Zusammengehörigkeit mit den Adlern unterstützen könnte. Der Eindruck, welchen sie auf mich übten, war stets der eines kleinen Geiers. Anziehend oder fesselnd sind sie wohl nur für den Fachmann; selbst einen thierfreundlichen Laien lassen sie gleichgültig. Regungslos sitzen sie auf einer und derselben Stelle, meist auf dem Boden des Käfigs, ohne sich um die Außenwelt zu kümmern, obwohl sie diese anscheinend aufmerksam beobachten. Nicht einmal, wenn ihnen Futter vorgeworfen wird, gerathen sie in ersichtliche Erregung, nähern sich vielmehr langsam und gemächlich dem ihnen gereichten Fleischstücke, fassen es mit einem Fange und benagen es dann, mehr als sie es zerreißen, ganz nach Geierart. Ihre einzige Beschäftigung, in welcher sie unermüdlich zu sein pflegen, besteht darin, ihr Gefieder zu ordnen. Gleichwohl sehen sie fast immer schmutzig und unordentlich aus. Mit einem Worte: sie zählen zu den langweiligsten Raubvögeln, welche man gefangen halten kann.

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