08.08.2023, Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung
Panzergröße: Wie sich Schildkröten in den letzten 200 Millionen Jahren entwickelten
Vielfalt der Körpergröße von Schildkröten untersucht.
Internationale Forschende, unter ihnen Dr. Gabriel Ferreira vom Senckenberg Centre for Human Evolution and Palaeoenvironment an der Universität Tübingen, haben die bisher umfänglichste Datensammlung zu Körpergrößen von rezenten und fossilen Schildkröten zusammengestellt. In ihrer im Fachjournal „Ecology and Evolution“ erschienenen Studie stellt das Team fest, dass die Größe der Panzerträger nicht – wie häufig angenommen – mit den klimatischen Verhältnissen zusammenhängt. Vielmehr sei die Lebensweise der Tiere ausschlaggebend für ihre Größenentwicklung.
Die an Land lebende Areolen-Flachschildkröte (Homopus areolatus) ist mit einer Panzerlänge von etwa 100 Millimetern eine der kleinsten heutigen Schildkrötenarten. Den Rekord am anderen Ende der Skala hält die – in tropischen und subtropischen Meeren verbreitete und bis zu zwei Meter lange – Lederschildkröte (Dermochelys coriacea). „Unter den fossilen Schildkröten ist die Bandbreite an Körpergrößen sogar noch ausgeprägter“, erzählt Dr. Gabriel Ferreira vom Senckenberg Centre for Human Evolution and Palaeoenvironment an der Universität Tübingen und fährt fort: „Uns hat interessiert, wie sich diese Vielfalt an Panzergrößen in den letzten 200 Millionen Jahren entwickelte und welche Faktoren hierfür die entscheidende Rolle spielten.“
Zu diesem Zweck erstellte das Forschungsteam unter Leitung von Erstautorin Bruna Farina von der Schweizer Universität Freiburg die bisher umfassendsten Datensammlung zu Körpergrößen von Schildkröten: Für insgesamt 795 Schildkrötenarten erfassten die Forschenden Informationen zu den Panzerlängen, den bevorzugten Lebensräumen und dem zeitlichen Auftreten der Spezies in der Erdgeschichte. „Vorherige Studien, die sich mit der Größenentwicklung beschäftigten, ließen häufig die fossilen Arten unbeachtet. In unsere Ergebnisse fließen auch die Daten von 536 ausgestorbenen Schildkrötenarten ein – das ist unerlässlich, wenn man die Evolutionsgeschichte und die körperliche Anpassung der Panzerträger verstehen möchte“, ergänzt Ferreira.
Die neue Studie zeigt, dass das heutige globale Klima anscheinend keinen großen Einfluss auf die Körpergröße der untersuchten rezenten Schildkröten hat. Die Korrelation mit Paläotemperaturen wies ebenfalls keine signifikante Auswirkung auf die Größe der fossilen Tiere aus, heißt es in der Studie.
Statt eines klimatischen Einflusses sind laut der Studie die Ökologie und Lebensraumpräferenzen der Schildkröten ausschlaggebend für deren Körpergröße. „Die als ‚Copesches Gesetz‘ bekannte Annahme, dass Lebewesen im Laufe der Evolution die Tendenz zur Zunahme der Körpergröße haben, ist für Schildkröten nicht nachweisbar“, erklärt Ferreira und fährt fort: „Das Größenspektrum der Süßwasserarten blieb über die letzten 200 Millionen Jahre recht konstant. Im Gegensatz dazu zeigen Land- und Meeresschildkröten eine viel ausgeprägtere Variation.“ Die unterschiedlichen Körpergrößen von Landschildkröten erklärt das Team durch deren ökologische Vielfalt und ihre diversen Lebensräume. Die größeren landlebenden Arten hätten dabei den Vorteil, sich leichter ausbreiten zu können. Bei Meeresschildkröten scheinen dagegen die Ober- und Untergrenzen der Körpergröße mit physiologischen Zwängen, wie der Thermoregulation oder der erhöhten Lungenkapazität, und morphologischen Vorgaben, wie der Panzergröße, sowie mit Anpassungen an die Lebensweise im freien Wasser zusammenzuhängen. Möglicherweise führt zudem die Notwendigkeit an Land zu gehen, um dort Eier zu legen, zu einer Begrenzung der maximalen Größe von Meeresschildkröten, so die Forscher*innen.
„Unser Ergebnis ist sehr interessant, wenn man bedenkt, dass die Körpergröße bei anderen Tiergruppen – wie beispielsweise bei Dinosauriern oder Krokodilen – von klimatischen Faktoren, wie der im Lebensraum vorherrschenden Temperatur, beeinflusst wird. Es unterstreicht die Einzigartigkeit von Schildkröten“, schließt Ferreira.
Originalpublikation:
Farina, B. M., Godoy, P. L., Benson, R. B. J., Langer, M. C., & Ferreira, G. S. (2023). Turtle body size evolution is determined by lineage-specific specializations rather than global trends. Ecology and Evolution, 13, e10201. https://doi.org/10.1002/ece3.10201
08.08.2023, Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung (IZW) im Forschungsverbund Berlin e.V.
Die vom Krieg zerstörte städtische Umwelt in Charkiw ist für Fledermäuse tödlich
Verlust von Schlafplätzen und tödliche Fallen in zerstörten Gebäuden
Der russische Krieg in der Ukraine hat nicht nur schwerwiegende Folgen für die Menschen, sondern wirkt sich auch negativ auf die Populationen städtischer und halbstädtischer Wildtiere in den angegriffenen Städten und Regionen aus.
Wissenschaftler:innen des ukrainischen Fledermaus-Rehabilitationszentrums untersuchten vor kurzem die Auswirkungen der kriegsbedingten Gebäudeschäden auf die städtischen Populationen einer wichtigen und weit verbreiteten Fledermausart, der große Abendsegler (Nyctalus noctula), in der Stadt Charkiw im Nordosten der Ukraine. Die Ergebnisse zeigen, dass viele Gebäude, die von Fledermäusen als Schlafplätze genutzt werden, zerstört und etwa 7.000 Fledermäuse getötet wurden. Darüber hinaus sind teilweise zerstörte Gebäude zu einer tödlichen Falle für Fledermäuse geworden, was zu mehreren tausend weiteren Opfern führte. Die Ergebnisse wurden im „Journal of Applied Animal Ethics Research“ veröffentlicht.
Die Aufgabe des Ukrainischen Fledermaus-Rehabilitationszentrums (UBRC) ist der Schutz, die Rettung und die langfristige Erforschung von Fledermäusen, wobei die Region Charkiw im Mittelpunkt der Bemühungen steht. Charkiw ist die zweitgrößte Stadt in der Ukraine und einer der Orte, an denen die Konflikte zwischen den ukrainischen und russischen Streitkräften bisher am intensivsten waren. UBRC-Direktor Dr. Anton Vlaschenko, der auch für das Berliner Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung (Leibniz-IZW) forscht, sagt: „Unsere Ergebnisse deuten darauf hin, dass 45,1 % der Gebäude, die als Winterquartiere für Abendsegler genutzt werden, entweder teilweise beschädigt oder vollständig durch Beschuss zerstört wurden, was zur direkten Tötung von etwa 7.000 Fledermäusen geführt haben könnte.“ Darüber hinaus ist die kriegszerstörte städtische Umwelt in Charkiw zu einer tödlichen Falle für die Fledermäuse während der Herbstwanderung oder des Schwärmens geworden. „Fledermäuse drangen durch offen gelassene oder durch Druckwellen zerbrochene Fenster in das Innere von Gebäuden ein und wurden so eingeschlossen“, sagt die ehemalige Leibniz-IZW-Doktorandin Dr. Kseniia Kravchenko vom UBRC.
Von Menschen offen gelassene und/oder durch Druckwellen zerbrochene Fenster stellen eine erhebliche Gefahr für wandernde Fledermäuse dar. Vorallem defekte Fensterrahmen sind sehr gefährlich für Fledermäuse. Einige der Fenster in der Stadt sind mit alter Doppelverglasung versehen – zwei Rahmen mit einem Zwischenraum – und die Fledermäuse bleiben in der Mitte gefangen. „Das Problem ist in Charkiw seit den 1960er Jahren bekannt, und der Krieg verschärft es, indem es immer mehr von Menschen geschaffene Fallen für Fledermäuse gibt“, erklärt Vlaschenko. Vor dem Krieg retteten die UBRC-Wissenschaftler:innen während der herbstlichen Fledermauswanderung bis zu 500 Fledermäuse aus solchen Fenstern. Infolge des Krieges war die Zahl der in teilweise beschädigten Gebäuden und/oder verlassenen Wohnungen gefangenen Fledermäuse dreimal so hoch wie in den Vorjahren. Fast alle der gefangenen Fledermäuse waren Abendsegler. Das Team berichtet, dass es 2.836 große Abendsegler entdeckte, die in durch Beschuss beschädigten Gebäuden gefangen waren, und dass etwa 30 Prozent von ihnen bei der Entdeckung bereits tot waren. Der große Abendseger fiegt in Gruppen und diese Gruppen können sich in Städtischen Strukturen verirren. „Die Größe der eingeschlossenen Fledermausgruppen war eindeutig höher als in den Vorjahren, vor allem in den durch den Krieg am stärksten beschädigten Stadtteilen wie Saltivka“, berichtet Kravchenko. Allein in den ersten Wochen des Krieges (Februar – März 2022) wurde fast die Hälfte der Gebäude, die als Winterquartiere der großen Abendsegler bekannt sind, durch russischen Beschuss teilweise (31,4 %) oder vollständig (13,7 %) beschädigt, was zur direkten Tötung Tausender von Fledermäusen geführt haben könnte.
Die Zahl der Fledermäuse in Charkiw war im Jahr 2022 außergewöhnlich hoch, da sich die Abendsegler den ganzen Herbst über im Stadtgebiet von Charkiw aufhielten. Die Wissenschaftler:innen stellten außerdem fest, dass diese Fledermäuse eine größere Körpermasse als üblich hatten. Diese Veränderungen könnten eine Folge der Zerstörung der Straßenbeleuchtung und der Kraftwerke in Charkiw und den meisten Siedlungen in der Ukraine seit Beginn des Krieges gewesen sein. Das Fehlen von künstlichem Licht könnte dazu führen, dass mehr Fledermäuse in die Stadt eindringen, da dadurch jegliche „Lichtbarrieren“ für nachtaktive Tiere beseitigt wurde und eine rasche Erholung der nachtaktiven Insektenpopulationen begünstigt wurde.
„Der Krieg hat unser Leben und das der Fledermäuse vor viele neue Herausforderungen gestellt, aber wir lassen uns nicht von unserer Mission abbringen, die Wildtiere zu schützen und den aktuellen Kontext zu nutzen, um so viel wie möglich über unsere Lieblingstiere zu lernen“, erklärt Vlaschenko. Der Krieg hat die Arbeitsbedingungen extrem erschwert, aber das Team des ukrainischen Fledermaus-Rehabilitationszentrums bleibt aktiv und rettet weiterhin Fledermäuse, sammelt Daten, führt Workshops durch und arbeitet mit vielen Wissenschaftler:innen und Instituten in der Ukraine und darüber hinaus zusammen, beispielsweise mit dem Leibniz-IZW.
Originalpublikation:
Vlaschenko A, Shulenko A, But A, Yerofieiva M, Bohodist V, Petelka M, Vovk A, Zemliana K, Myzuka D, Kravchenko K, Prylustka A (2023): Die kriegsgeschädigte städtische Umwelt wird zur tödlichen Falle für Fledermäuse: Ein Fall aus der Stadt Charkiw (Nordostukraine) im Jahr 2022. Journal of Applied Animal Ethics Research, 5(1), 27-49. DOI: 10.1163/25889567-bja10035
08.08.2023, Eidgenössische Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft WSL
Zwei Drittel der weltweiten Artenvielfalt lebt im Boden
Der Boden ist der artenreichste Lebensraum der Erde. Zu diesem Schluss kommt eine Übersichtsstudie eines Schweizer Forschungsteams. Demnach leben zwei Drittel aller bekannten Arten im Boden. Pilze sind die Gruppe mit den meisten bodenlebenden Arten, nämlich etwa 90 Prozent, gefolgt von den Pflanzen mit ihren Wurzeln.
Korallenriffe, die Tiefsee oder die Baumkronen der Regenwälder gelten als die Hotspots der Artenvielfalt. Sie alle werden jedoch von den Böden abgehängt: Gemäss einer neuen Studie sind die Böden weltweit die artenreichsten Ökosysteme. Ihre Bedeutung für die menschliche Ernährung ist enorm, und der Anteil der Böden weltweit, die als beeinträchtigt oder zerstört gelten, wächst stetig. Ein Forschertrio unter Leitung der Eidg. Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft WSL hat nun erstmals eine Schätzung der globalen Artenvielfalt der Böden gemacht.
Die Forscher der WSL, der Universität Zürich und der landwirtschaftlichen Versuchsanstalt Agroscope durchsuchten dafür die bestehende Fachliteratur, oder sie werteten bestehende Datensätze über die in Böden bestimmten Arten erneut aus. Ihre Ergebnisse deuten darauf hin, dass zwei Drittel aller Arten im Boden leben, berichten sie im renommierten Fachjournal PNAS. Dies ist mehr als doppelt so hoch wie frühere Schätzungen über den Artenreichtum des Bodens. Nach ihnen lebten nur 25 Prozent aller Arten im Boden.
Die Gruppe mit dem höchsten Anteil an im Boden lebenden Arten sind die Pilze – 90 Prozent von ihnen leben dort. Es folgen Pflanzen mit ihren Wurzeln mit 86 Prozent Anteil. Regenwürmer und Weichtiere wie Schnecken kommen auf 20 Prozent. «Vor allem aber für die ganz kleinen Organismen wie Bakterien, Viren, Archaeen, Pilze und Einzeller hat noch niemand eine Schätzung der Vielfalt versucht», sagt der Erstautor, Mark Anthony von der WSL. Dabei sind gerade sie entscheidend für das Rezyklieren von Nährstoffen im Boden, für die Kohlenstoffspeicherung, sowie wichtig als Krankheitserreger und Partner der Bäume.
Besseren Schutz der Böden fördern
Da die Datenlage zur Bodenvielfalt äusserst lückenhaft ist – insbesondere im globalen Süden –, weisen die Resultate der Studie teilweise riesige Bandbreiten auf. Bei Bakterien zum Beispiel liegt der Mittelwert bei 40 Prozent im Boden lebender Arten – die Spanne reicht aber von 25 bis 88 Prozent. Auch bei Viren, die hauptsächlich als menschliche Krankheitserreger erforscht werden, sind die Unsicherheiten enorm. Entsprechend wappnen sich die Autoren für einige Kritik an ihren Methoden und Schlussfolgerungen. «Unsere Arbeit ist ein erster, aber wichtiger Versuch abzuschätzen, welcher Anteil der globalen Artenvielfalt im Boden lebt», sagt Anthony.
Das Ziel sei es, die Basis für dringend notwendige Entscheidungen zum Schutz der Böden und ihrer Lebewesen weltweit zu liefern. «Die Böden stehen enorm unter Druck, sei es durch landwirtschaftliche Intensivierung, den Klimawandel, invasive Arten und vieles mehr», betont Anthony. «Unsere Studie zeigt, dass die Vielfalt in den Böden gross und entsprechend wichtig ist und sie somit im Naturschutz viel stärker berücksichtigt werden sollte.»
Originalpublikation:
M.A. Anthony, F.S. Bender, M. van der Heijden (2023). Enumerating soil biodiverstiy. PNAS, https://doi.org/10.1073/pnas.2304663120.
09.08.2023, Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung
Nach anfänglicher Erholung: Artenvielfalt in europäischen Flüssen stagniert
Langzeitstudie zeigt, dass der Aufschwung der europäischen Süßwasser-Biodiversität seit den 2010er Jahren ins Stocken geraten ist.
Senckenberg-Forschende haben gemeinsam mit einem großen internationalen Team anhand wirbelloser Tiere den Zustand und die Entwicklung der Biodiversität in europäischen Binnengewässern im renommierten Fachjournal „Nature“ vorgestellt. In ihrer heute erschienenen Studie zeigen sie, dass die biologische Vielfalt in Flusssystemen aus 22 europäischen Ländern über einen Zeitraum von 1968 bis 2020 deutlich angestiegen ist. Das Wissenschaftler*innen-Team warnt jedoch, dass dieser positive Trend seit 2010 stagniert und fordern daher zusätzliche Maßnahmen.
Auch wenn Eintags-, Stein-, und Köcherfliegen zu den Fluginsekten zählen – den Großteil ihres Lebens verbringen sie als Larve im Wasser. „Diese und viele weitere wirbellose Tiere tragen zu wichtigen Ökosystemprozessen in Süßgewässern bei. Sie zersetzen organische Stoffe, filtern Wasser und transportieren Nährstoffe zwischen aquatischen und terrestrischen Bereichen. Darüber hinaus sind solche Invertebraten seit langem ein Eckpfeiler zur Überwachung der Wasserqualität“, erläutert Erstautor der Studie Prof. Dr. Peter Haase vom Senckenberg Forschungsinstitut und Naturmuseum Frankfurt und fährt fort: „Solch eine Kontrolle ist immens wichtig, denn Flüsse und Seen sind großen anthropogenen Belastungen ausgesetzt und gehören zu den am stärksten vom Verlust der biologischen Vielfalt bedrohten Ökosystemen.“
Binnengewässer sind durch die landwirtschaftliche und städtische Flächennutzung verschiedenen anthropogenen Belastungen ausgesetzt. Sie akkumulieren Schadstoffe, organisch belastete Abwässer, Feinsedimente und Pestizide und sind darüber hinaus durch Veränderungen, wie beispielsweise Dämme, Wasserentnahme, invasive Arten und den Klimawandel bedroht. „Als Reaktion auf den schlechten Zustand der Gewässer in den 1950er und 1960er Jahren wurden zur Wiederherstellung von Süßwasserlebensräumen beispielsweise mit dem ‚US Clean Water Act‘ von 1972 und der EU-Wasserrahmenrichtlinie von 2000 wichtige Gegenmaßnahmen ergriffen“, erklärt Senior-Autorin Dr. Ellen A.R. Welti, vormals Senckenberg-Wissenschaftlerin und nun Forschungsökologin in den USA am Smithsonian’s Conservation Ecology Center und spricht weiter: „Diese Maßnahmen führten zu einem deutlichen Rückgang der organischen Verschmutzung und der Versauerung ab etwa 1980. In den letzten 50 Jahren haben diese Schritte zur Eindämmung der Abwasserbelastung und so zu den aufgezeigten Verbesserungen der biologischen Vielfalt im Süßwasser beigetragen. Dennoch nehmen die Anzahl und die Auswirkungen der Stressfaktoren, welche diese Ökosysteme bedrohen, weltweit weiter zu, und die biologische Qualität der Flüsse ist nach wie vor vielerorts unzureichend.“
Gemeinsam mit einem großen internationalen Team haben Haase und Letztautorin Welti einen umfassenden Datensatz von 1.816 Zeitreihen analysiert, die zwischen 1968 und 2020 in Flusssystemen in 22 europäischen Ländern gesammelt wurden und 714.698 Beobachtungen von 2.648 Arten aus 26.668 Proben umfassen. Die Auswertungen zeigen, dass sowohl die Artenvielfalt mit 0,73 Prozent pro Jahr als auch die funktionelle Diversität mit jährlichen 2,4 Prozent und die Häufigkeit der Arten mit 1,17 Prozent im Jahr über den Zeitraum der 53 Jahre deutlich angestiegen ist. „Diese Zuwächse traten jedoch hauptsächlich vor 2010 auf und haben sich seitdem leider auf einem mehr oder weniger gleichbleibenden Niveau eingependelt. Während die Zunahme der biologischen Vielfalt in den 1990er und 2000er Jahren wahrscheinlich die Wirksamkeit von Wasserqualitäts- verbesserungen und Renaturierungsprojekten widerspiegelt, deutet die sich anschließende stagnierende Entwicklung auf eine Erschöpfung der bisherigen Maßnahmen hin“, ergänzt Haase.
Laut den Studienergebnissen erholten sich Süßwassergemeinschaften flussabwärts von Staudämmen, städtischen Gebieten und Ackerland weniger schnell. Die Fauna an Standorten mit schnellerer Erwärmung verzeichneten zudem geringere Zuwächse in der Artenvielfalt, der Häufigkeit der Individuen und der funktionellen Diversität. Welti fügt hinzu: „Basierend auf einem Teildatensatz – 1299 von 1816 – konnten wir zeigen, dass rund 70 Prozent der Flussabschnitte nicht-heimische Arten aufweisen mit einem durchschnittlichen Anteil von 4,9 Prozent der Arten und 8,9 Prozent der Individuen. Es ist außerdem zu beobachten, dass sich die eingewanderten Tiere in städtischen Gebieten und stärker belasteten Lokalitäten besser zurechtfinden als die heimische Fauna. Dies könnte zu einem Verlust seltener und empfindlicher einheimischer Arten führen“.
Erhebliche Investitionen seien erforderlich, um die Abwassernetze auszubauen und die Kläranlagen zu verbessern. Das Überlaufen von Kläranlagen bei Starkregen könnte verhindert und Mikroverunreinigungen, Nährstoffe, Salze sowie andere Schadstoffe wirksamer entfernt werden, so die Autor*innen. Darüber hinaus plädiert das Forschungsteam für weitere Maßnahmen, insbesondere die Reduktion von Einträgen von Dünge- und Pflanzenschutzmitteln aus landwirtschaftlichen Flächen, die Anbindung von Überschwemmungsgebieten zur Reduktion zerstörerischer Überschwemmungen sowie zur Anpassung unserer Flusssysteme an künftige klimatische und hydrologische Bedingungen.
„Künftig sollte zudem die Überwachung der biologischen Vielfalt in Verbindung mit der parallelen Erhebung von Umweltdaten erfolgen. Nur so können wir die zeitlichen Veränderungen innerhalb der Artenvielfalt wirksam beschreiben, umweltbedingte Faktoren und stark gefährdete Gebiete ermitteln und den Schutz der biologischen Vielfalt maximieren!“, schließt Haase.
Originalpublikation:
Haase, P., D.E. Bowler, N.J. Baker, …, E.A.R. Welti (2023) The recovery of European freshwater biodiversity has come to a halt. Nature 620 (Issue 7974)
https://www.nature.com/articles/s41586-023-06400-1
DOI: 10.1038/s41586-023-06400-1
09.08.2023, Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung
Klimawandel bedroht Polardorschbestände in der Arktis
Der Polardorsch ist der am häufigsten vorkommende Fisch im Arktischen Ozean. Er ist wichtige Nahrungsgrundlage für arktische Meeressäuger und spielt bei der Selbstversorgung der Inuit eine wichtige Rolle. Ein internationales Studienteam, darunter auch Forschende des Alfred-Wegener-Instituts, hat nun die wichtigsten wissenschaftlichen Arbeiten zum Polardorsch der vergangenen Jahrzehnte ausgewertet. Das Fazit: Vor allem der bereits weit fortgeschrittene Rückgang der arktischen Meereisbedeckung in Folge des menschengemachten Klimawandels könnte sich erheblich auf die künftige Verbreitung der Art auswirken. Die Studie wurde im Fachmagazin Elementa: Science of the Anthropocene veröffentlicht.
Der Polardorsch (Boreogadus saida) ist eng mit dem atlantischen Kabeljau verwandt und lebt im arktischen Ozean rund um den Nordpol. Als wichtige Nahrungsquelle für Meeressäuger (Ringelrobben, Narwale, Belugas) und Seevögel spielt er eine zentrale Rolle im arktischen Ökosystem. Zudem wird er von den Inuit in Kanada und auf Grönland genutzt.
Ein Forschungsteam hat nun 395 wissenschaftliche Artikel zum Polardorsch und zum Einfluss von Klimawandel und menschlichen Aktivitäten auf dessen Populationen ausgewertet, die zwischen 1954 und heute erschienen sind. Geleitet wurde das internationale Konsortium – 43 Forschende aus 26 Instituten – von Studienerstautor Dr. Maxime Geoffroy, Meeresbiologe am Fisheries and Marine Institute der Memorial University of Newfoundland in Kanada.
„Unsere Ergebnisse zeigen, dass dringend gehandelt werden muss, um die Auswirkungen des Klimawandels auf die arktischen Polardorschbestände abzuschwächen“, sagt Maxime Geoffroy. „Die Veränderungen betreffen nicht nur den am häufigsten vorkommenden Fisch der Arktis, sondern stören auch das empfindliche Gleichgewicht des gesamten arktischen Ökosystems.“
Ein wichtiger Bestandteil der Studie war die von Dr. Hauke Flores, Meeresbiologe am Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- Meeresforschung, koordinierte Bewertung der Zukunftsaussichten für den Polardorsch bis zur Mitte dieses Jahrhunderts. „Es war eine ziemliche Herausforderung, so viele Perspektiven auf die Auswirkungen der Klimakrise und anderer Stressfaktoren auf den Polardorsch zusammenzubringen“, sagt Hauke Flores. „Aber es gab einige klare Ergebnisse. Der Rückgang des Meereises und die Erwärmung der Ozeane sind die größten Bedrohungen für die Zukunft des Polardorschs. Die jüngsten Lebensstadien sind dabei am anfälligsten. Das Meereis ist für diesen Fisch sehr wichtig. Den Eiern und bis zu zwei Jahre alten Jungfischen bietet es Schutz vor Räubern. Umgekehrt finden die Jungfische unter dem Eis selbst im Winter Nahrung. Der Meereisrückgang hat daher nicht nur künftig, sondern auch heute schon erhebliche Auswirkungen auf den Polardorsch.“
Die wichtigsten Studienergebnisse zusammengefasst:
Lebensraumverlust: Steigende Temperaturen und schrumpfendes Meereis stellen eine erhebliche Bedrohung für den Lebensraum des Polardorschs dar, insbesondere für seine Eier und Larven. Diese Veränderungen beeinträchtigen die Fortpflanzungszyklen, die Überlebenschancen, das Wachstum, die Verbreitung und die Ernährungsfähigkeit der ganzen Art.
Veränderte Nahrungsverfügbarkeit: Der Klimawandel führt dazu, dass sich die Zusammensetzung des Zooplanktons als Nahrung für die Larven und Jungtiere des Polardorschs ändert. Dies kann zu geringeren Wachstumsraten und einer höheren Sterblichkeit der Larven und letztlich zu einem Rückgang der Bestände führen.
Zunehmende Prädation und Konkurrenz: Mit dem Rückgang des Meereises ist der Polardorsch verstärkt Raubtieren und Konkurrenten aus dem Nordatlantik und dem nördlichen Pazifik ausgesetzt. Seevogelarten und größere Fischarten aus südlich gelegenen Regionen dehnen ihr Verbreitungsgebiet auch auf bisher unzugängliche Gebiete aus. Dieser erhöhte Raubtier- und Konkurrenzdruck könnte kaskadenartige Auswirkungen auf das gesamte Ökosystem haben.
Erhöhte Risiken durch Förderung/Transport von Öl und Gas: Insbesondere mögliche Ölverschmutzungen an der Meeresoberfläche können zu höherer Sterblichkeit, verringertem Wachstum und mehr Missbildungen bei Polardorschen führen.
Originalveröffentlichung:
Geoffroy, M, et al. 2023. The circumpolar impacts of climate change and anthropogenic stressors on Arctic cod (Boreogadus saida) and its ecosystem. Elem Sci Anth, 11: 1. DOI: https://doi.org/10.1525/elementa.2022.00097
09.08.2023, Bayerische Landesanstalt für Wald und Forstwirtschaft
Tschechien und Bayern forschen gemeinsam zu Wildtierparasit
Jedes fünfte untersuchte adulte Stück Rotwild im Bayerischen Teil des Projektgebiets war vom Großen Amerikanischen Leberegel befallen. Im Nationalpark Šumava war sogar mehr als jedes vierte adulte Stück infiziert. Dies ergab ein grenzübergreifendes Forschungsprojekt der Bayerischen Landesanstalt für Wald und Forstwirtschaft (LWF) in Kooperation mit den Nationalparken Bayerischer Wald und Šumava (Tschechien) sowie dem Forstbetrieb Neureichenau der Bayerischen Staatsforsten. Das Projekt widmete sich sowohl der Frage der Verbreitung des eingeschleppten Parasiten, als auch seinen Auswirkungen auf Wildtiere im Böhmerwald-Ökosystem.
Vom Großen Amerikanischen Leberegel wird vor allem Rotwild befallen, aber auch Rehe und Nutztiere könnten von einer Infektion betroffen sein. Er ist ein invasiver Parasit, der im Laufe des frühen 20. Jahrhunderts mit dem Import amerikanischer Hirsche nach Europa eingeschleppt wurde. Als Zwischenwirte für seine Entwicklung nutzt der Parasit Wasserschneckenarten. Als Endwirt parasitiert der Leberegel in Europa vor allem Rotwild, aber auch Rehe und Wildschweine und sogar Nutztiere können befallen werden.
Die Infektion ruft bei den verschiedenen Wildarten unterschiedlich starke Krankheitsverläufe hervor. Der Parasit befällt die inneren Organe der Wirtstiere und der erwachsene Leberegel kann bis zu 10 cm lang werden, bei einem Durchmesser von maximal 35 mm. Bei Rotwild treten starke Krankheitssymptome eher selten auf, dagegen kann beim Reh bereits ein moderater Befall tödlich verlaufen. Menschen werden von dem Parasiten dagegen gar nicht befallen.
Auf tschechischer Seite des Böhmerwald-Ökosystems war die Anwesenheit des Parasiten schon länger bekannt. Im Nationalpark Bayerischer Wald wurde der Große Amerikanische Leberegel erstmals im Herbst 2019 an einem erlegten Stück Rotwild nachgewiesen. Daraufhin wurden im Rahmen des grenzübergreifenden Forschungsprojekts seit 2021 systematisch Befallsraten von Rot-, Reh- und Schwarzwild für das Bayerisch-Böhmische Grenzgebiet erhoben.
Die Untersuchung von mehr als 650 Rothirschen ergab, dass im Nationalpark Šumava die Infektionsrate bei adulten Tieren derzeit bei über 27 % liegt. Im Bayerischen Teil des Projektgebiets ist die Infektionsrate mit 20 % dagegen etwas niedriger. Kälber waren von einer Infektion nur sehr selten betroffen. Unter mehr als 150 beprobten Rehen konnte lediglich eine Infektion festgestellt werden. Von den fast 500 beprobten Wildschweinen war kein einziges Tier von dem Parasiten befallen.
Im Rahmen des Forschungsvorhabens wurden unter Zuhilfenahme innovativer Untersuchungsansätze Grundlagendaten zur räumlichen Verteilung und zum Infektionsrisiko durch den eingeschleppten Parasiten erhoben. Berücksichtigt wurden dabei nicht nur die End- und Fehlwirte des Parasiten, sondern erstmals auch seine Zwischenwirte. Hierzu wurden zwei Wasserschneckenarten großflächig kartiert. Sie spielen für das Infektionsgeschehen eine entscheidende Rolle und ihre Verbreitung könnte sich unter klimatischen Veränderungen künftig verschieben. Zusätzlich wurde die Lebensraumnutzung der Wildtiere mit Kamerafallen beobachtet. Unter Berücksichtigung von Umweltvariablen berechneten die Wissenschaftler Raumnutzungskarten für Zwischen, End und Fehlwirte. Durch das Verschneiden dieser Raumnutzungskarten liegen nun wertvolle Informationen zur räumlichen Verteilung des Infektionsrisikos für die Endwirte vor.
Kurz vor Projektabschluss fand im Dezember 2022 in Bayerisch Eisenstein ein umfangreicher Abschlussworkshop statt. Dabei präsentierte das Projektteam seine Forschungsergebnisse dem interessierten Fachpublikum. Knapp 60 Akteure unterschiedlicher Disziplinen nahmen an der Veranstaltung teil: Vertreter der Nationalparke, der Forstbetriebe, der Jagdbehörden und der Veterinärämter aus Tschechien und Bayern diskutierten mit den Wissenschaftlern intensiv über die vorgestellten Ergebnisse. Die Projektergebnisse unterstreichen, wie wichtig es ist, dass Nutztierbestände gründlich untersucht werden, bevor sie in Wildlebensräume ausgebracht werden. Die Bekämpfung von eingeschleppten Parasiten ist, wenn sich diese erst einmal etabliert haben, nur sehr begrenzt möglich. Zur Sprache kamen auch Managementmaßnahmen zur Eindämmung des Infektionsgeschehens, wie beispielsweise die Schließung der Rotwild-Wintergatter im Sommer. Die Gatter stellen potenzielle Infektionshotspotts dar, da infiziertes Rotwild hier über den Winter mit dem Kot konzentriert auf enger Fläche Parasiteneier ausscheidet. Die Eier können die kalte Jahreszeit überdauern. Mit steigenden Temperaturen entwickeln sich in den Eiern Parasitenlarven, die nach weiteren Entwicklungsschritten im Zwischenwirt dann wiederum Wildtiere infizieren können.
Die Projektergebnisse stellen eine Momentaufnahme der derzeitigen Infektionslage dar. Da sich die Ausbreitung des Parasiten aber vermutlich in einer dynamischen Phase befindet, ist ein weiteres Monitoring des Infektionsgeschehens, insbesondere vor dem Hintergrund von sich ändernden klimatischen Voraussetzungen, die sich auf die Entwicklung des Parasiten auswirken können, unabdingbar. Nur so kann abgeschätzt werden, ob eine weitere Verbreitung des Parasiten stattfindet und ggf. die Einleitung von Gegenmaßnahmen vorgenommen werden.
Das länderübergreifende Projekt wurde über die Strukturförderung der Europäischen Union im Rahmen des INTERREG-Programms zwischen dem Freistaat Bayern und der Tschechischen Republik (Interreg V) gefördert.
10.08.2023, Dachverband Deutscher Avifaunisten
Kuhreiher neuer Brutvogel in Deutschland!?
Kuhreiher sind abgesehen von der Antarktis heute auf allen Kontinenten verbreitet und haben insbesondere im 20. Jahrhundert ihr Brutareal deutlich vergrößert. In Europa bildet die Iberische Halbinsel einen Verbreitungsschwerpunkt, vereinzelt brütet die Art aber auch schon in Belgien und den Niederlanden. In Deutschland sind Kuhreiher seltene, aber alljährliche Gäste. Nun sieht es so aus, als hätte der Kuhreiher in Deutschland auch zum ersten Mal gebrütet.
Alles begann damit, dass ab dem 20. April ein Kuhreiher im Prachtkleid am Altmühlsee, Landkreis Weißenburg-Gunzenhausen in Bayern, beobachtet wurde. Das Auftreten zu dieser Jahreszeit passt sehr gut in das für Wildvögel zu erwartende Muster. Ab dem 5. Mai gesellte sich ein zweiter Kuhreiher dazu und über mehrere Wochen wurden die beiden zusammen beobachtet. Ab Anfang Juni wurde dann stets nur noch ein Individuum gemeldet, das regelmäßig in die dortige Graureiher-Kolonie hineinflog. Es ist zu vermuten, dass nicht einsehbar im Schutze der Graureiher eine Brut stattgefunden haben könnte. Am 20. Juli wurde erstmals ein Jungvogel gemeldet, einen Tag später sogar drei Jungvögel. Diese lassen sich gut anhand ihrer Schnabelfarbe von den Altvögeln unterscheiden: Während ältere Kuhreiher leuchtend gelbe Schnäbel haben, sind die der Jungvögel schwarz gefärbt. Erst im Alter von etwa einem Monat beginnt die Umfärbung. Angesichts der geschilderten Abfolge der Beobachtungen am Altmühlsee kann auch ohne Nestfund wohl davon ausgegangen werden, dass dort eine erfolgreiche Brut stattgefunden hat. Dennoch muss man mit dieser Schlussfolgerung vorsichtig sein. Kuhreiher werden bereits kurz nach dem Flüggewerden unabhängig von den Eltern und legen zügig auch größere Distanzen zurück.
Spannende Beobachtungen erfolgten in diesem Jahr auch an zwei weiteren Stellen in Bayern. Am Ismaninger Speichersee bei München wurde mehrfach Ende Mai sowie Mitte Juni jeweils ein einzelner adulter Kuhreiher gesichtet. Am 9. Juli entstanden dann unerwartet Fotos eines Jungvogels, der sich neben weiterhin maximal einem Altvogel im Gebiet aufhält. Das sehr frühe Auftauchen eines Jungvogels bietet Anlass zur Spekulation, ob der Vogel dort oder in der näheren Umgebung erbrütet worden sein könnte. Ebenfalls spannend ist die Beobachtung von drei diesjährigen Kuhreihern in Begleitung eines Altvogels am 29. Juli an der Donau im Landkreis Straubing-Bogen. In der Region wurden im Frühjahr bis zu fünf Kuhreiher im Prachtkleid beobachtet. Möglicherweise hat auch hier unentdeckt eine Brut stattgefunden.
Die spannende Entwicklung in Deutschland fügt sich gut in die positiven Bestandsentwicklungen des Kuhreihers ein. 2023 gelang auch in der Schweiz der erste Brutnachweis dieser Art, wo ein Paar mit vier Jungvögeln erfolgreich brütete. Nun scheint der Kuhreiher auch hierzulande auf dem Sprung ins Monitoring seltener Brutvögel zu sein und könnte nach Rohr- und Zwergdommel, Nacht-, Grau-, Purpur-, Silber- und Seidenreiher die achte in Deutschland brütende Reiherart werden. Die Anerkennung der Bestimmung als Kuhreiher durch die Bayerische Avifaunistische Kommission dürfte in beiden beschriebenen Fällen reine Formsache sein. Für eine genauere Begutachtung der Geschehnisse und Bestätigung des ersten Brutnachweises ist die Kommission „Artenliste der Vögel Deutschlands“ der Deutschen Ornithologen-Gesellschaft zuständig.
10.08.2023, Landesbund für Vogelschutz in Bayern (LBV) e. V.
Zum ersten Mal in Deutschland: Kuhreiher brütet am Altmühlsee
Sensation im Naturschutz: Zum ersten Mal brütet ein Kuhreiher in Deutschland, und zwar in Bayern. Eine Aktive aus der LBV-Kreisgruppe Weißenburg-Gunzenhausen hat Ende Juli Jungvögel dieser in Deutschland sehr seltenen Reiherart am Altmühlsee entdeckt und fotografiert. Beim bayerischen Naturschutzverband LBV (Landesbund für Vogel- und Naturschutz) ist die Freude groß. „Es ist immer beeindruckend, wenn eine neue Vogelart zum ersten Mal bei uns brütet. Gerade in Zeiten der Artenkrise, in der immer mehr Tiere und Pflanzen vom Aussterben bedroht sind, motivieren uns solche Ereignisse“, sagt Jan Heikens, LBV-Gebietsbetreuer am Altmühlsee. Der etwa 50 cm große, weiße Reiher mit gelbem Schnabel kommt weltweit vor, in Europa hauptsächlich in Spanien. In Afrika ist er oft auf den Rücken von Büffeln sitzend zu sehen. Mit ihm ist nun die sechste Reiherart in Bayern heimisch geworden.
Im Vorjahr konnten die Aktiven der LBV-Kreisgruppe Weißenburg-Gunzenhausen bereits erwachsene Kuhreiher am Altmühlsee beobachten. Die Kuhreiher zeigten sich dabei im Prachtkleid mit gelben Schmuckfedern und trugen Nistmaterial – ein erstes Zeichen, dass sich der Altmühlsee zum Nestbau eignet. „Seit diesem Frühjahr gingen regelmäßig viele Meldungen von Kuhreihern bei uns am See auf der Meldeplattform ornitho.de des Dachverbandes Deutscher Avifaunisten ein. Am 20. Juli konnte Bianca Satzinger, Aktive aus unserer Kreisgruppe, dann mit Fotos von einem der drei Jungvögel den erfolgreichen Brutnachweis liefern“, so Sebastian Amler, Vorsitzender der LBV-Kreisgruppe Weißenburg-Gunzenhausen. Jungvögel des Kuhreihers sind im Vergleich zum Altvogel gut am dunklen Schnabel zu erkennen, der sich dann recht schnell gelb verfärbt.
Die Kuhreiher am Altmühlsee kommen mit großer Wahrscheinlichkeit aus dem Mittelmeerraum, weil sie Kurzstreckenzieher sind. „Die stark steigende Bestände des Kuhreihers in Spanien und Frankreich sorgen dafür, dass sich das Brutareal dieser Vogelart ausbreitet. Bisher gab es in Deutschland nur Brutversuche von entflogenen Kuhreihern aus Gefangenschaft, die aus Zoos oder privater Haltung stammen“, sagt der LBV-Gebietsbetreuer Jan Heikens.
Der Kuhreiher ist weniger an große Gewässer gebunden als seine heimischen Verwandten und brütet mitunter sogar in großen Parks. Seine Nahrung, hauptsächlich Insekten, findet er meist in Viehherden oder nach der Mahd auf Wiesen sowie nach dem Pflügen auf Feldern. „Die Vogelinsel im Altmühlsee bietet dem Kuhreiher alles, was er zum Leben braucht: reichlich Nahrung, geschützte und ruhige Brutbereiche – vielleicht in der dortigen Nachtreiherkolonie – und sogar Weidevieh“, erklärt der LBV-Gebietsbetreuer. Der Kuhreiher hat nämlich eine Vorliebe für Viehherden, weil diese immer eine Vielzahl an Insekten und somit eine wertvolle Nahrungsquelle mit sich bringen. So ist der Kuhreiher wohl auch zu seinem Namen gekommen.
Reiher in Bayern
Im Freistaat lassen sich neben dem Graureiher auch der nur lokal verbreitete Purpurreiher und der häufiger werdende Nachtreiher gut beobachten. Sehr häufig kann mittlerweile der stattliche Silberreiher gesichtet werden, der vor der Jahrtausendwende nur ein seltener Gast war. „Der Kuhreiher ist vergleichsweise klein und nur halb so groß wie ein Silberreiher. Im Jugendkleid ist der Kuhreiher leicht mit dem ebenfalls am Altmühlsee vorkommende Seidenreiher zu verwechseln, der allerdings einen markanten Federschopf und gelbe Füße hat“, so Jan Heikens.
14.08.2023 12:29
Bär-Mensch-Koexistenz neu gedacht
Peter Rüegg Hochschulkommunikation
Eidgenössische Technische Hochschule Zürich (ETH Zürich)
Eine ETH-Forscherin erstellt das erste Modell, das die Koexistenz von Mensch und Bär in einer Nationalparkregion Italiens auf einer Landkarte abbildet. Als Werkzeug für die Praxis identifiziert das Modell Massnahmen und Gebiete, die vorrangig sind für die Förderung der Koexistenz von Mensch und Bär. Das Modell wird auf den Nationalpark Abruzzen, Latium und Molise angewendet, kann aber auch für andere Regionen und Grossraubtiere genutzt werden.
Keine zwei Fahrstunden von der Millionenstadt Rom entfernt lebt noch immer Meister Petz. Etwa 70 Exemplare des Marsischen oder Apennin-Braunbären, einer Unterart des Europäischen Braunbären, gibt es aktuell. Noch. Der Bestand konnte sich zwar dank verbessertem Schutz, Aufklärungsarbeit und präventiven Massnahmen zur Verhinderung von Schäden, die das Tier gelegentlich anrichtet, halten und in jüngerer Zeit sogar leicht vergrössern.
Aber noch immer kommen die vom Aussterben bedrohten Bären auf Autobahnen um, oder sie sterben an Giftködern, die Trüffelsucher für die Spürhunde konkurrierender Pilzsucher auslegen. Und nicht überall in seinem Streifgebiet zeigt die Bevölkerung Verständnis für das Grossraubtier.
Karte identifiziert Koexistenzgebiete
Paula Mayer kam deshalb auf die Idee, in ihrer Masterarbeit die Koexistenz zwischen Menschen und Bär in der Region rund um den Nationalpark Abruzzen, Latium und Molise in einem Modell zu erfassen und auf einer Karte abzubilden.
Diese Karte soll lokale Beteiligten – Behörden, Naturschützer:innen, Landwirt:innen und Touristiker:innen – dabei unterstützen, Gebiete und Massnahmen zu identifizieren, die vorrangig sind für die Förderung der Koexistenz von Menschen und Bär.
«Diese Arbeit ist der Versuch, rational auf die Landschaft zu schauen und herauszufinden, wo und unter welchen Umständen Koexistenz zwischen Menschen und Grossraubtier gelingt und wo nicht», erklärt Mayer. Ihre Betreuerin, ETH-Professorin Adrienne Grêt-Régamey, ermunterte die Forscherin dazu, die Methodik ihrer Arbeit in eine wissenschaftliche Publikation zu überführen. Diese ist soeben im «Journal for Conservation Biology» erschienen.
21 Gemeinden ausgewertet
Paula Mayer hat mit ihrem Modell Karten für insgesamt 21 Gemeinden, die im und um den Abruzzen-Nationalpark liegen, erstellt. Exemplarisch hat sie drei Gemeinden ausgewählt und genauer analysiert.
Während die eine Gemeinde gegenüber dem Grossraubtier positiv eingestellt ist und die Bär-Mensch-Koexistenz sehr wahrscheinlich gut möglich ist, ist das friedliche Nebeneinander in einer der untersuchten Gemeinden eher unwahrscheinlich. «Das hängt unter anderem davon ab, ob die Bewohner:innen einer Gemeinde schon seit langem in Kontakt mit Bären waren, oder ob sie das Tier nur vom Hörensagen kennen.» Erstaunt habe sie, dass in teilweise nur wenige Kilometer voneinander entfernten Gemeinden oft unterschiedliche Meinungsbilder über die Bären herrschten. Dies hänge meist von einzelnen Meinungsmachern ab, die (Falsch-)Informationen verbreiteten.
Die Koexistenz-Frage wird auch davon beeinflusst, ob die Menschen einer Gemeinde von eigenen landwirtschaftlichen Erzeugnissen abhängig sind oder ihr Auskommen im Tourismus oder auswärts finden, betont die Forscherin. «Tourismusgemeinden können sogar von den Bären profitieren, da sich im Abruzzen-Nationalpark ein regelrechter Wildtiertourismus entwickelt hat.» Dort werden auch Gelder investiert, um Abfallentsorgung, Obstkulturen und Nutztierhaltung bärensicher zu machen. Anders in ländlich geprägten Kommunen, wo präventive Schutzmassnahmen oft hinterherhinken. «Wer nur zehn Schafe besitzt, und ein Bär reisst eines davon, sieht sich in seiner Existenz bedroht», erklärt Mayer.
Ein globales Problem
Das «Grossraubtierproblem» sei überall dieselbe, ist die Forscherin überzeugt. Es handle sich meist um einen Stadt-Land-Konflikt, der mit Emotionen und mit viel Symbolik, die auf das Tier projiziert werde, aufgeladen sei. «Allerdings geht es dabei vielmehr um zwischenmenschliche Dinge und Kontrolle, das Wildtier steht da nur als Symbol dazwischen.»
Die Frage sei, welche Massnahmen es vor Ort braucht, damit die Bär-Mensch-Koexistenz gelingen kann. Ein wichtiger Faktor, den Mayer aus Interviews mit der lokalen Bevölkerung heraushörte, ist, dass die staatlichen Kompensationszahlungen rascher und unbürokratischer ausbezahlt werden sollen – oder dass überhaupt welche fliessen. «Manche Menschen sind wütend, weil sie für Schäden, die einzelne Bären anrichten, trotz gegenteiliger Versprechungen nie entschädigt wurden.»
Ein Werkzeug für die Praxis
Das Modell respektive die damit erzeugten Koexistenz-Karten sind ein Werkzeug für die Praxis. Es eignet sich beispielsweise zu überprüfen, wie sich die Bär-Mensch-Koexistenz in der Landschaft über die Zeit verändert. Mit dem Modell lässt sich auch testen, ob Massnahmen lokal wirken.
«Wenn das Modell eine Karte ausgibt, die trotz Massnahmen wie Zäunen, die Bienenstöcke vor den Bären schützen sollen, Zonen niedriger Koexistenz aufweist, kann man auf die Wirksamkeit der Massnahme schliessen – und ob es an jenem Ort bessere gibt, die die Koexistenz fördern», sagt Mayer. «Das lässt sich mit dem Modell bestens überprüfen oder sogar vorhersagen.»
Um die Karten zu berechnen, braucht es auch keinen leistungsstarken Grosscomputer. Die ETH-Wissenschaftlerin hat die aktuellen Karten auf ihrem Laptop rechnen lassen.
Netzwerk mit vielen Knoten
Um dieses vielschichtige Problem anzugehen, verwendete Mayer ein Bayesisches Netzwerk. Solche Netzwerke funktionieren mit bedingten Wahrscheinlichkeiten und können eine Vielzahl verschiedener Faktoren berücksichtigen und miteinander verknüpfen.
Mayers Modellansatz berücksichtigt Faktoren, die sowohl die menschliche Perspektive vertreten als auch die Bedürfnisse des Bären widerspiegeln. Dabei können diese Variablen mit örtlich expliziten Informationen aktualisiert werden. Um diese Informationen zu erhalten, arbeitete sie mit Fachleuten aus Naturschutz, Tourismus und Forschung zusammen und führte Interviews mit der lokalen Bevölkerung.
Die Bärenperspektive wird unter anderem repräsentiert durch Faktoren wie geeigneter Lebensraum und Wanderkorridore, aber auch, ob attraktive menschgemachte Nahrungsressourcen vorhanden sind, wie nicht bärensichere Abfallentsorgung, Obstgärten oder Nutztierhaltungen. Dies beeinflusst die Wahrscheinlichkeit, dass Bären in und um Siedlungen auftreten können.
Das Modell erfasst auch Bedrohungen für Bären, wie nicht eingezäunte Strassen- und Eisenbahnabschnitte oder Gebiete, die durch Touristen und Touristinnen stark gestört werden. Die menschliche Perspektive wird beeinflusst durch Netzwerkknoten wie verschiedene Typen landwirtschaftlicher Nutzung, Jagd und Trüffelsammeln aber auch durch Gemeindepolitik, Schadenskompensation, Wissen und Emotionen in Hinsicht auf die Bären.
All diese Knoten verknüpft das Modell und berechnet eine Karte. Diese deckt die Gebiete auf, wo die Mensch- Bär-Koexistenz am besten funktioniert. Zonen also, wo sowohl die Toleranz der Menschen hoch und die Lebensbedingungen für die Bären gut sind, aber auch jene Gebiete, wo schlechtere Bedingungen herrschen. «Dieses Modell ist sehr gut geeignet, um das komplexe Geflecht von Abhängigkeiten, die der Koexistenz von Grossraubtieren und Mensch zugrunde liegen, abzubilden», sagt Mayer.
Die Netzwerkknoten sind darüber hinaus beliebig erweiterbar; in anderen Zusammenhängen können Knoten entfernt, ersetzt und neue hinzugefügt werden. Das Modell lässt sich also relativ einfach anpassen und auf andere Fälle zuschneiden – etwa auf andere Regionen oder Tierarten wie den Wolf. «Entscheidend ist dabei die Zusammenarbeit mit den Menschen vor Ort, um die spezifischen Informationen aus dem lokalen Kontext in das Modell einfliessen zu lassen», erklärt die Forscherin.
Auf das Thema gestossen ist Paula Mayer während eines Berufspraktikums im Rahmen ihres Umweltnaturwissenschaftsstudiums an der ETH. Für die Naturschutzorganisation «Rewilding Apennines» arbeitete sie in einem Projekt, das zum Ziel hat, die Koexistenz von Menschen und des Marsischen Braunbären und anderen Wildtieren im Zentralapennin zu fördern.
Originalpublikation:
Mayer P, Grêt-Régamey A, Ciucci P, Salliou N, Stritih A. Mapping human- and bear-centered perspectives on coexistence using a participatory Bayesian framework. Journal for Nature Conservation 73 (2023) 126387, doi:10.1016/j.jnc.2023.126387.
15.08.2023, Deutscher Imkerbund e.V.
Vespa velutina – eine Gefahr, die ernst genommen werden muss
Die asiatische Hornisse Vespa velutina breitet sich in Deutschland weiter aus. Das zeigen die Meldungen von Einzeltieren und Nestern, die bei den Behörden und Hornissenberatern in den betroffenen Bundesländern eingehen. Die invasive Art kommt bereits in Teilen Baden-Württembergs, Hessens, Rheinland-Pfalz, Nordrhein-Westfalens und im Saarland vor. In all diesen Bundesländern wurde Vespa velutina in diesem Jahr auch in Regionen gesichtet, aus denen im vergangenen Jahr noch keine Meldungen vorlagen – ein klares Zeichen für die Ausbreitung dieser invasiven Art. Der Deutsche Imkerbund sieht diese Entwicklung mit Sorge, da Berichte über vermehrte Schäden in der Imkerei durch Vespa velutina aus einigen Nachbarländern nur allzu gut bekannt sind. Inzwischen liegen auch wissenschaftliche Publikationen über die negativen Auswirkungen vor. Eine wissenschaftliche Arbeit aus Spanien hat zudem gezeigt, dass Vespa velutina auch andere Bestäuber von Blüten verdrängen und somit die Bestäubung verhindern kann.
„Zum Glück gibt es einige sehr engagierte Hornissenberaterinnen und -berater in den betroffenen Gebieten, die sich um die Aufklärung und die Beseitigung von Nestern kümmern“, sagt Torsten Ellmann, Präsident des Deutschen Imkerbundes. „Wir möchten ihnen für ihr Engagement ausdrücklich unseren Dank aussprechen.“ Allerdings ist die Belastung dieser noch wenigen Hornissenberaterinnen und -berater sehr hoch. Der Deutsche Imkerbund möchte daher alle Verbände und Vereine dazu ermutigen, Hornissenberaterinnen und -berater auch mit Blick auf Vespa velutina auszubilden. Ziel muss ein großes Netzwerk sein, um die Arbeit auf viele Schultern zu verteilen. „Nur so werden wir die Ausbreitung zumindest verlangsamen und die Auswirkungen auf die Imkerei und die Umwelt verringern können“, sagt Ellmann. Allerdings hält er dafür auch mehr Unterstützung durch die Behörden für notwendig: „Die Arbeit darf nicht vorwiegend bei den Imkerinnen und Imkern liegen. Aus unserer Sicht müssen sich alle zuständigen Ministerien auf Länder- und Bundesebene der Sache annehmen und ihrer Verantwortung weiterhin gerecht werden. Ein intensiver Informationsaustausch zwischen allen Betroffenen und Beteiligten muss etabliert und garantiert werden.“
Vespa velutina kann in Regionen mit hoher Nestdichte negative Auswirkungen auf die Imkerei haben, da die asiatischen Hornissen dort verstärkt Bienenvölker befliegen. „Dabei ist nicht das Abfangen von Bienen vor den Fluglöchern das große Problem, sondern der Stress, den die Räuberinnen in den Völkern verursachen“, erklärt der Biologe Dr. Sebastian Spiewok, der sich für den Deutschen Imkerbund mit Vespa velutina auseinandersetzt. „Bei starkem Beflug stellen die Völker das Sammeln und das Brüten ein. Die Völker ziehen dadurch weniger Bienen für den Winter auf. Als Folge steigt die Wahrscheinlichkeit, dass die Völker den Winter nicht überleben. Das haben auch wissenschaftliche Untersuchungen in Frankreich gezeigt, was hierzulande aber leider nicht immer vollständig verstanden wird.“ Bislang halten sich die Schäden in Deutschland in Grenzen. „Das liegt aber auch daran, dass einige Hornissenberater damit beschäftigt sind, in den betroffenen Gegenden Nester zu finden, zu entfernen und die Population einzudämmen“, gibt Spiewok zu bedenken. „Ohne deren Arbeit würde die Situation mancherorts wohl anders aussehen.“
„Vespa velutina wurde bewusst auf die EU-Liste der invasiven Arten unionsweiter Bedeutung gesetzt“, warnt Spiewok. „Man sollte nicht in Panik oder in Aktionismus verfallen, aber es bringt auch nichts, diese invasive Art zu verharmlosen.“ Allerdings ist die Bekämpfung mühselig. Ein wichtiger Teil davon stellt das Entfernen von Nestern dar. Dabei geht es nicht mehr überall darum, die Art tatsächlich auszurotten, sondern darum, Schäden durch eine zu hohe Nestdichte zu verhindern. „Das muss auch klar kommuniziert werden“, erklärt Spiewok. „Es ist wie bei der Varroa, gegen die die Imkerinnen und Imker ihre Völker jedes Jahr behandeln. Die Milbenpopulation soll sich in den Völkern nicht aufbauen, sondern unter einer Schadschwelle gehalten werden. Aber jeder weiß, dass der Prozess im folgenden Jahr wiederholt werden muss. Und in den Jahren darauf auch. Bei Vespa velutina ist das im Grunde nicht anders.“
Vespa velutina muss gemäß den EU-Verordnungen 1143/2014 und 1141/2016 bekämpft werden. „Wir hören von mancher Seite her, dass man die asiatische Hornisse als etablierte Art ansehen will“, sagt Ellmann. „Das können wir so nicht akzeptieren. Sie mag in einigen Regionen nicht mehr auszurotten sein, aber das erlaubt nicht, die Art in einem ganzen Bundesland als etabliert zu deklarieren. Außerdem ist auch für diesen Fall gemäß EU-Verordnung ein Managementplan vorgeschrieben.“ Vor allem die Erfahrungen aus Frankreich, aber auch in Spanien, haben gezeigt, dass ein spätes oder schwaches Reagieren auf die invasive Art die Kosten für deren Bekämpfung in die Höhe treiben. Auch dies gilt es, durch ein koordiniertes und verantwortungsvolles Vorgehen in Deutschland zu verhindern.
Meldeadressen für Sichtungen der einzelnen Bundesländer können dem vom Deutschen Bienenjournal zusammengestellten Link entnommen werden.
16.08.2023, Staatliche Naturwissenschaftliche Sammlungen Bayerns
Ganz schön lappig: Neuer Blattschwanzgecko in Madagaskar entdeckt
Ein internationales Forscherteam um den SNSB-Zoologen Frank Glaw hat einen bizarren Blattschwanzgecko aus dem Norden Madagaskars neu beschrieben und ihm nun einen wissen-schaftlichen Namen gegeben: Uroplatus garamaso. Die Forschungsergebnisse wurden am 15. August 2023 in der Fachzeitschrift Salamandra veröffentlicht.
Blattschwanzgeckos sind Meister der Tarnung und sehen meist sehr eigentümlich aus. Einige Arten haben Hautlappen um ihren Körper und den Kopf sowie einen abgeflachten Schwanz. Tagsüber ruhen sie mit ausgebreiteten Hautlappen mit dem Kopf nach unten auf Baumstämmen und fügen sich so nahtlos in ihre Umgebung ein, so dass sie kaum zu entdecken sind. Nachts erwachen sie und durchstreifen das Geäst auf der Suche nach Beute.
„Als wir die Tiere im Jahr 2000 erstmals entdeckten, haben wir bereits vermutet, dass es sich um eine noch unbekannte Art handelt“, sagt Dr. Frank Glaw, Kurator für Reptilien und Amphibien an der Zoologischen Staatssammlung München und Erstautor der Studie. „Aber ihre wissenschaftliche Beschreibung gestaltete sich schwierig. Es hat viele Jahre gedauert, bis wir genug Informationen gesammelt hatten, um sie sicher als neue Art zu identifizieren.“ Die Forscher:innen sammelten umfassende Informationen zur Genetik, Morphologie und der Verbreitung der Tiere. Es wurden mehrere Expeditionen in den Norden Madagaskars unternommen, um das Wissen über diese neue Art zu erweitern.
Eine Herausforderung bestand darin, dass der neue Gecko Uroplatus garamaso einer anderen Art, Uroplatus henkeli, bemerkenswert ähnlich ist. „Das ist oft der Fall bei den Reptilien Madagaskars“, erklärt Dr. Jörn Köhler vom Hessischen Landesmuseum Darmstadt. „Es gibt viele sogenannte ‚kryptische Arten‘, die manchmal lange auf taxonomische Bearbeitung warten.“ Die Autor:innen entdeckten allerdings einige Merkmale, die die beiden Arten voneinander unterscheiden. „Ein wichtiger Schlüssel zur eindeutigen morphologischen Unterscheidung war die Entdeckung, dass die Zungenspitze bei U. henkeli schwärzlich ist, während sie bei U. garamaso rosa ist“, sagt Dr. Philipp-Sebastian Gehring von der Universität Bielefeld. Auch ist die neue Art mit 20 cm Länge etwas kleiner als U. henkeli und hat einen schmaleren Schwanz.
„Die neue Art ist die jüngste in einer ganzen Reihe neu beschriebener Uroplatus-Geckos, die in den letzten Jahren in Madagaskar gefunden wurden“, ergänzt Dr. Fanomezana Ratsoavina von der Universität Antananarivo, Madagaskar, die über Blattschwanzgeckos promoviert hat.
„Wir stehen kurz vor der Fertigstellung des taxonomischen Inventars der Gattung, aber dies ist erst der Anfang unseres Verständnisses ihrer Evolution und Ökologie“, sagt Dr. Mark D. Scherz, Kurator für Herpetologie am Natural History Museum of Denmark. „Auch die verschiedenen Farbmerkmale in ihren Mündern, die so nützlich für die Identifizierung der verschiedenen Arten sind, haben womöglich eine uns völlig unbekannte Funktion. Es gibt viel, das wir noch nicht über diese Geckos wissen und was es zu erforschen gilt – dazu gehören ihre weiteren evolutionären Verwandtschaftsbeziehungen, wie auch ihr Verhalten.“
Originalpublikation:
Frank Glaw, Jörn Köhler, Fanomezana M. Ratsoavina, Achille P. Raselimanana, Angelica Crot-tini, Philip-Sebastian Gehring, Wolfgang Böhme, Mark D. Scherz & Miguel Vences (2023): A new large-sized species of leaf-tailed gecko (Uroplatus) from northern Madagascar. Sala-mandra 59(3): 239–261.
15.08.2023, Dachverband Deutscher Avifaunisten
Aufruf: Gezielte Suche nach rastenden Mornellregenpfeifern
Das Brutgebiet des Mornellregenpfeifers liegt in den Fjällflächen und Tundren von Skandinavien bis Ostsibirien. Während die östliche Population in Vorderasien überwintert, überqueren europäische Brutvögel Zentral- und Südeuropa auf dem Weg nach Nordafrika. Viele Vögel führen dabei vermutlich einen Nonstopzug durch, ein gewisser Teil rastet allerdings regelmäßig an meist traditionellen Rastplätzen. Noch vor wenigen Jahren galt der Mornellregenpfeifer in ganz Deutschland als seltener und unregelmäßiger Durchzügler. Seit Ende der 1990er-Jahre gab es aber durch eine in manchen Gebieten gezielte Suche nach der charismatischen Art einen enormen Erkenntnisgewinn: Zahlreiche bis dahin unbekannte Rastplätze wurden entdeckt und sind mittlerweile fast alljährlich besetzt.
Seit 2011 rufen wir zur gezielten Suche nach Mornellregenpfeifern während des zeitlich eng begrenzten Durchzugfensters von Mitte August bis Mitte September auf. Die zahlreichen Meldungen vor allem über ornitho ergaben den wohl bundesweit bislang besten Überblick über die Rastvorkommen. Dank der Differenzierung vieler Individuen in Alt- und Jungvögel können der jährliche Jungvogelanteil berechnet und so Rückschlüsse auf den Bruterfolg gezogen werden. Die Ergebnisse wurden in den vergangenen Jahren in „Der Falke“ veröffentlicht. Diese Beiträge können Sie hier als pdf herunterladen.
Motiviert durch die sehr gute Resonanz der letzten Jahre wollen wir versuchen, auch den Wegzug 2023 möglichst gut zu dokumentieren. Gezielte Hinweise, wie und wo man Mornellregenpfeifer auf dem Herbstzug suchen (und hoffentlich auch finden) kann, finden Sie im Beitrag „Leicht zu übersehen: Herbstrast des Mornellregenpfeifers“.
Wann?
Mornellregenpfeifer überqueren Europa auf dem Zug in sehr engen Zeitfenstern. Im Frühjahr zieht die Art in Deutschland in sehr kurzer Zeitspanne und nur geringer Zahl fast ausschließlich im Mai durch, vorjährige Mornells verbleiben wie viele andere Zugvögel meist im Winterquartier. Weit auffälliger ist der Durchzug im Herbst. Hier werden die meisten Individuen im Zeitraum 15. August bis 15. September beobachtet. Einzelne Vögel treten noch bis Oktober auf. Es gilt daher in diesen Wochen ganz gezielt geeignete Habitate zu kontrollieren! Aufgrund des Verhaltens der Vögel sind die Beobachtungsbedingungen am Morgen und Abend am besten. Zu dieser Zeit findet die Nahrungssuche statt, während sich im weiteren Tagesverlauf ruhende, bewegungslose Vögel oft der Entdeckung entziehen. Auch die Chance, gegen Abend abziehende bzw. morgens zur Rast einfallende Tiere oder deren kleinräumige Ortswechsel bei der Suche nach geeigneten Rastflächen zu beobachten, erhöht den Beobachtungserfolg deutlich.
Wo?
Während im Frühjahr vor allem küstennahe Bereiche bevorzugt werden, tauchen Mornellregenpfeifer im Herbst vermehrt an Rastplätzen im Binnenland auf. Bei den Gebieten handelt es sich in der Regel um weithin exponierte, sehr offene und damit an skandinavische Weiten erinnernde Flächen mit kurzer Vegetation. Wurden ursprünglich wohl vor allem Heiden und Brachen aufgesucht, sind heute abgeerntete Felder die Hauptrastplätze. Besonders regelmäßig gelingen Nachweise vor allem auf Ackerflächen auf kargen, windexponierten Hochflächen mit weiter Sicht in Abzugrichtung Süd und Südwest in großräumigen Agrarlandschaften, gerne im oberen Hangbereich an der Südwestflanke kleiner Hügel. Es sollte mindestens ein Stoppelsturz stattgefunden haben, unbearbeitete Getreidestoppeln werden offenbar gemieden. Große Vertikalstrukturen wirken sich negativ aus, wobei Einzelbäume und Erdaufschüttungen toleriert werden. Besonders lohnend kann die Suche direkt nach starken, großräumigen Regenschauern und Gewittern sein, wenn die von der Witterungslage zur „Notrast“ gezwungenen Vögel schnell wieder abziehen und dann besonders auffällig sind. Unter solchen Witterungsbedingungen werden manchmal auch Flächen zur Rast genutzt, die bei guter Witterung keine Beachtung finden, wie z.B. ebene, kleinere Ackerflächen in Waldrandnähe. Die momentan soweit bekannt größten und bedeutendsten Rastplätze für Mornellregenpfeifer in Deutschland sind die nordrhein-westfälische Hellwegbörde im Kreis Soest sowie das Maifeld im Kreis Mayen-Koblenz in Rheinland-Pfalz.
Wie?
Nur selten werden die gerade einmal amsel-großen Mornellregenpfeifer zufällig entdeckt. Erst das genaue Absuchen geeigneter Flächen mit Fernglas oder Spektiv führt in der Regel zum Erfolg. Die Art ist relativ leicht zu bestimmen und kaum mit anderen Arten zu verwechseln. An den Rastplätzen herrscht eine hohe Dynamik, viele Vögel verweilen nur kurz, so dass eine regelmäßige Kontrolle möglicher Rastgebiete mit Angabe des Altersverhältnisses wertvolle Zusatzinformationen zur Anzahl der insgesamt im Gebiet rastenden Vögel liefert. Auch die Kenntnis der Lautäußerungen kann daher hilfreich sein. Beim Abfliegen wird häufig ein trillerndes, für eine Limikole unerwartet tief-melancholisches „pjürrr“ (www.xeno-canto.org/species/Charadrius-morinellus) geäußert. Mornellregenpfeifer rasten meist in artreinen Trupps, nur selten gemeinsam mit anderen Limikolen (z.B. Goldregenpfeifern). Im Rastgebiet verhalten sie sich in der Regel recht vertraut und verharren selbst auf wenige Meter Abstand. Besonders größere Trupps sind aber mitunter scheu und fliegen schon bei geringen Störungen auf. Wir möchten deshalb noch einmal ausdrücklich darauf hinweisen, dass jegliche Störungen zu vermeiden sind und der allgemeine Verhaltenskodex unbedingt zu beachten ist!
Bei der Meldung von Mornellregenpfeifern bitten wir um möglichst detaillierte Informationen zu:
Beobachtungsort (bitte immer punktgenau eingeben)
Uhrzeit (im Datumsfeld, z.B. 15.08.2023 12:00)
Alter der Vögel
Rasthabitat
Rastend oder ziehend (unter „Präzisierung der Beobachtung“)
Bitte auch Negativkontrollen melden!
Wenn geeignet erscheinende oder in den vergangenen Jahren von Mornells aufgesuchte Flächen kontrolliert, aber keine Vögel gefunden wurden, bitte einen Bestand = 0 eintragen. Für die Interpretation der Verbreitungskarte und die Datenauswertung sind 0-Nachweise eine wichtige Information. Bitte geben Sie dabei den groben Zeitaufwand im Bemerkungsfeld an.
Gerne können Sie weitere Angaben (z.B. zum Verhalten) im Bemerkungsfeld machen oder Fotos der Vögel anfügen.
Eine Bestimmungshilfe mit zahlreichen Fotos und Erläuterungen sowie hilfreicher Literatur bietet das folgende PDF.
Vielen Dank für Ihre Unterstützung!